• Überlebt das vereinte Europa?

Er sah früh die Notwendigkeit der atlantischen Gemeinschaft und arbeitete auf die Entstehung einer supranationalen formalisierten Organisation.

Heute möchte ich an einen Mann erinnern, den die Idee einer supranationalen Organisation der europäischen Staaten seit seiner früher Jugend in seinem Herzen bewegte, für die er in seinem erwachsenen Leben zielstrebig arbeitete, sehr viel erreichte und dabei großen Erfolg hatte, aber konsequent das Licht der Öffentlichkeit scheute. Ich erinnere heute an Josef Hieronim Retinger.

„Paradox ist, dass er Europa in das 21. Jahrhundert gestoßen hat, obwohl er in der Manier des 19. Jahrhunderts agiert hat. Vielleicht war es so, weil die Idee des vereinigten Europas in ihrem Geiste so romantisch ist.“1

„Josef Retinger, wie ein Regisseur, brauchte andere als Akteure, sich selbst stets als graue Eminenz positioniert hat, als Mensch hinter der Bühne.“2

Wahrscheinlich gerade deshalb konnte er so viele einflussreiche Menschen erreichen. Er ist in die Geschichte eingegangen als jemand, der früh die Notwendigkeit der atlantischen Gemeinschaft sah, der auf die Entstehung einer supranationalen formalisierten Organisation arbeitete.

Josef Hieronim Retinger ist im Jahr 1888 in Krakau, Österreich-Ungarn3, geboren und 1960 in London gestorben. Vorfahren von Retinger kamen nach Polen Ende des 17. Jahrhundert aus Bayern. Sein Vater, Josef Stanislaw Röttinger war ein bekannter, sozialengagierter Rechtsanwalt in Krakau, seine Mutter, Maria Krystyna war Tochter von Emilian Czyrniański, Rektor der Jagiellonen-Universität. Josef Stanisław Röttinger war stark beteiligt an einem bekannten Prozess, der in letzter Instanz in den kaiserlich-königlichen Institutionen der habsburgischen Monarchie seinen Ausgang fand. Der begabte und an allem interessierte junge Josef Hieronim konnte die Bedeutung und hohe Effektivität der supranationalen Institutionen sehen und schätzen lernen, was mit großer Wahrscheinlichkeit Einfluss auf die Wahl seines Lebensweges hatte.

Ich springe zum Jahr 1960, dem Jahr seines Todes. Hier zitiere ich aus einem Brief den Sir E. Beddington-Behrens an die Times von 13. Juni 1960, einen Tag nach seinem Tod, schrieb:

„Joseph Retinger, der gestern verstarb, war zuerst als ein Schriftsteller über [Joseph] Conrad und sein Werk bekannt. Während des Krieges wurde er die ‚Graue Eminenz’ von General Sikorski genannt und wurde berühmt für seinen Fallschirmabsprung über Polen im Alter von 56 Jahren… Er war ein selbstloser, engagierter Mann, der nie sich selbst vorschlug, sondern sich damit begnügte, Männer zusammenzubringen, von denen er glaubte, sie würden seine Ideale teilen und könnten zusammen arbeiten, um seine kreativen politischen Konzepte voranzubringen. Er war dieses äußerst seltene Geschöpf, ein ‚politischer Förderer’, und sobald eine neue Idee angestoßen worden war und Fuß gefasst hatte, begnügte er sich damit, ihr von den Seitenlinien weiterzuhelfen, anderen das Rampenlicht der unmittelbaren Leitung überlassend. Er war es, der die Schaffung der Europäischen Bewegung anregte, die den Europarat4 herbeiführte. Die ganze Entwicklung der Idee der Einheit von Europa, die Schaffung des Europäischen Binnenmarktes und EFTA5 [Europäische Freihandelsassoziation] sind nur einige ihrer politischen Folgeerscheinungen…

Abgesehen von der Europäischen Bewegung, deren Ziele weitgehend propagandistisch und politisch sind (!), ‚war er es, der die European League for Economic Cooperation6 (ELEC) erschuf… Er regte die Gründung der Zentral- und Osteuropäischen Kommission der Europäischen Bewegung an… Er gründete später die (transatlantische) Bilderberg-Konferenz. Diese Konferenzen brachten führende Staatsmänner zusammen, die ihre Probleme im Privaten besprechen und Standpunkte mit Männer in wirklich hohen Stellungen in anderen Ländern austauschen konnten. Es war Joseph R., der sie zusammenbrachte und sie alle persönlich kannte. Ich bin ziemlich viel mit J. R. herumgereist, seine Freundschaften in hohen Positionen waren außergewöhnlich. Ich erinnere mich, wie er in den USA zum Telefonhörer griff und sogleich ein Verabredung mit dem Präsidenten traf, und in Europa hatte er kompletten Zutritt in alle politischen Kreise, wie eine Art von Anrecht, erworben (durch) das Vertrauen, die Ergebenheit und die Loyalität, welche er hervorrief. Mit seinem Ableben hat Polen einen großen Patrioten verloren, und Großbritannien und die freie Welt den Anreger von Beweggründen, die weitreichende Auswirkungen auf die Geschichte unserer Zeit haben werden.”

Lord Boothby schrieb:

„Wenn ein Europäischer Staatenbund zustande kommt, wie es ganz gewiss geschehen wird, wird er seiner (Retingers) Pionierarbeit viel zu verdanken haben. Immer treu zu Polen, zu Sikorski und zu seinen Freunden, von denen ich stolz bin einer gewesen zu sein, galt seine endgültige Treue der Konzeption eines Vereinten Europas…”

Und Mr. G. de Freitas, The Times, 13. Juni 1960:

„Sir E. Beddington-Behrens und Lord Boothby haben zu recht Dr. Retingers Arbeit für die europäische Einheit betont. Aber in den letzten Jahren ist er zu der Ansicht gelangt, dass Europa und Nordamerika sich gegenseitig benötigten, und er hat so hart und gewissenhaft für die Atlantische Gemeinschaft gearbeitet, wie er zuvor für die Europäische Bewegung gearbeitet hat. In dem Jahr vor dem Atlantischen Kongress, der in London abgehalten wurde, war Dr. Retinger ein Mitglied des internationalen Organisationskomitees. Mitglieder dieses Komitees lernten seinen Rat zu schätzen und sein bemerkenswertes Wissen über Personen des öffentlichen Lebens in den atlantischen Ländern zu würdigen… Er blieb ‚staatenlos’, da er glaubte, es verleihe ihm größere Freiheit bei seiner internationalen Missionarstätigkeit.”

Zurück zu seinen Jugendjahren: Josef Retinger wird streng katholisch und sehr patriotisch erzogen. Polen, geteilt zwischen Russland, Preußen und Österreich existiert nur im nationalen Bewusstsein. Seine Eltern und Großeltern waren sehr stark engagiert im Kampf gegen die Teilungsmächte, so prägt die patriotische Atmosphäre zu Hause und im Land den Jungen und seine Geschwister. Die Erziehung und die schulische Bildung werden von Tradition, vergangenem Ruhm, verlorenen Träumen beherrscht.

Besonders begabt und frühreif empfindet der junge Retinger das Leben in Krakau als langweilig, hoffnungslos ohne Zukunftschancen. (…) „Ich wünschte mir, dass Polen wieder frei ist, so, dass ich endlich kein verdammter Patriot sein muss…“, sagt er später.

Im Nachhinein schreibt er über seine Dilemmata: „Ich wollte nicht mit Tradition und der Vergangenheit brechen, jedoch der junge und aktive Geist drängte mich, neue, weite Horizonte zu suchen und das moderne Leben der Europäer kennen zu lernen. Trotz allem wollte ich mein ganzes Wirken dem Vaterland widmen.“

Josef Hieronim beendet das Gymnasium der Heiligen Anna in Krakau mit Auszeichnung. Durch Empfehlung wird er als Novize bei den Jesuiten in Rom aufgenommen, in Erwartung der Aufnahme in die Academiae Nobili Ecclesiastici, die viele Diplomaten absolvierten. Die strengen Regeln des Ordens waren jedoch für ihn nicht das Wahre. („Die Welt ist verlockender als das Jenseits!“) Dank der Empfehlung und eines Privatstipendiums kann er in Paris mit dem Studium an der École des Sciences Politiques und der Literatur an der Sorbonne beginnen. Durch viele Beziehungen ergibt sich für ihn die Gelegenheit in der Welthauptstadt viele außergewöhnliche Menschen kennen zu lernen. Paris der Belle Époque, seine Künstler, Aristokraten, Politiker, die er kennen lernt, werden für ihn auf seinem weiteren Weg sehr förderlich. Der einflussreiche Markiz de Castellane, bei dem er oft zu Gast war, beeindruckt ihn sehr. Und das war gerade de Castellane, der ihn inspiriert: man sollte endlich – es war die Zeit des I. Weltkrieges – über ein politisches Bündnis in Europa nachdenken und solches anstreben.

Sein Studium vernachlässigt er nicht. Nach zwei Jahren stellt er seine Doktorarbeit „Le conte fantastique dans le romantisme français“ vor und wird als der jüngste in Europa Doktor der Philologie in die Geschichte eingehen. Er baut sein Studium in München aus: hier studiert er die Vergleichende Psychologie der Völker, in London hört er in School of Economics Vorlesungen. 1910 in Paris veröffentlicht er sein erstes Buch: „L’Histoire de la littérature française depuis le romantisme jusqu’à nos jours“.

Im Jahr 1912 ist Retinger zurück in London und hier nimmt er seine politische Arbeit auf.

Bald wird er an geheimen Verhandlungen für einen gesonderten Frieden mit Österreich teilnehmen. Dies ist ein komplexes Thema, weil damit der so genannte Habsburg- oder Ledóchowski-Plan zu tun hat. Dieser Plan wollte für das Haus von Habsburg einen Staatenbund aus römisch-katholischen Ländern in Zentral- und Osteuropa arrangieren. Um dieses Ziel zu erreichen, macht sich Retinger zusammen mit Prinz Sixtus von Bourbon-Parma auf, den General in seiner jesuitischen Festung zu besuchen, dem Schloss zu Zizers, nahe Chur. Da Graf Ledóchowski zu dem Freundeskreis von Retingers Vormund gehörte, empfängt er ihn sehr freundlich und darüber hinaus erweist sich als der geeignetste Verhandlungsführer. Der Ledóchowski-Habsburg-Plan erhält die Unterstützung der spanischen Laienorganisation Opus Dei7.

1916 ist Retinger mit Unterstützung von Georges Clemenceau an einem Versuch der Friedensgespräche mit Wien beteiligt. Es geht um einen separaten Frieden mit Österreich. Es ist jedoch nicht möglich, weil die Wiener Administration nicht völlig frei von preußischen Angehörigen war. Der Kaiser ist geneigt, den Frieden zu unterschreiben, aber er kann es nicht ohne das Wissen der Preußen tun. Retingers Mission ist also nicht zu erfüllen.

Außerdem, noch während des I. Weltkrieges, in London lebend, widmet er sich ausschließlich politischer Tätigkeit: es geht um die polnische Sache im Westen. Josef Conrad, sein enger Freund, unterstützt ihn finanziell und auch dadurch, dass er ihn mit vielen Menschen, die in dieser Sache behilflich sein könnten, bekannt macht. Retinger reist zwischen London, Paris, der Schweiz und den Vereinigten Staaten.

Jedoch ist die westliche Öffentlichkeit an der Sache nicht interessiert; Polen war für England zu dieser Zeit ein Element der russischen Innenpolitik.

Friedensverhandlungen und die polnische Sache liegen zwar im Zentrum Retingers Interessenbereich. Aber auch das jüdische Problem bleibt lange in seinem Interessenfeld. Er hat die Idee, den europäischen Juden internationalen Status zu geben, da diese keine geschützte Minderheit sind und dazu überall diskriminiert. In dieser Mission trifft er sich unter anderen mit Chaim Weizmann, Wladimir Żabotycki, Nahum Sokolow und anderen zionistischen Aktivisten.

Gerade in dieser Zeit beginnt er sich für die Idee der europäischen Einheit zu interessieren. Zu Beginn des Jahres 1917 lernt er Arthur Capel kennen. Capel verbreitet die Idee einer Weltregierung, die auf der französisch-englischen Allianz aufgebaut werden sollte.

Retinger, mit allen wichtigen Persönlichkeiten Westeuropas vertraut, reist also unentwegt durch Europa.

An der Idee der Weltregierung zeigen Briand, Clemenceau und Wilson ihr Interesse. Auch in der Sache reist Retinger also beharrlich durch Europa. Das ermöglicht und erleichtert ihm die Bekanntschaft und bringt eine gewisse Vertrautheit mit allen wichtigen Personen Westeuropas.

Retinger und Capel haben gemeinsam bis zum Capels Tod (1919) an dem Buch The World on the Anvil gearbeitet. Retinger ist der Meinung, dass Capel zum Entstehen von Völkerbund beitrug und dass seine föderalistischen Ideen dann nach dem II. Weltkrieg wieder interessant werden konnten.

Es naht das Jahr 1939. Nach der September-Niederlage wird Władyslaw Sikorski erst Kommandeur der Armee, dann Premierminister der Exilregierung in Frankreich. In England wird Churchill der Premierminister. Im Frühling 1940 kapituliert Frankreich. Polnische Armee in Frankreich zerstreut sich, die Exilregierung zieht nach Angers und weiter nach Bordeaux. Retinger, die verzweifelte Lage sehend, wirbt bei Churchill um Hilfe bei der Evakuierung der Regierung und der Exilarmee nach England.

Retinger findet Sikorski in Libourne und überzeugt ihn zu seinen Plänen. Bald befinden sich in England bis an die 80 000 Soldaten, denen sich in kurzer Zeit die Armee von General Anders anschließt, worin auch Retinger eine Rolle spielt. Die polnische Luftwaffe, die in der Schlacht um England eine große Bedeutung haben wird, kommt dazu.

Seit dieser Zeit steht Retinger Sikorski sehr nahe, ist die graue Eminenz in seiner Umgebung. Es ist auch Sikorski, der Retinger den Beinammen „Teufels Cousin“ verpasst.

Warum „Teufels Cousin“? Weil Retinger für jedes Problem tausende Ideen hat, unglaublich viele Beziehungen, Bereitschaft zum sofortigen – nach dem Erkennen des Problems – Unterbreiten der Lösungsmöglichkeiten und zum Handeln.

Sikorski und Retinger kennen sich seit 1916. Schon damals half ihm Retinger, Kontakte zu englischen Politikern zu knüpfen. Retinger will Sikorski für die Idee, einer polnisch-tschechisch-slowakischen Union als Gegengewicht zu einerseits Deutschland, andererseits zu Sowjetunion gewinnen. Diese Idee, früher schon von Piłsudski ins Auge gefasst und vorangetrieben, verfolgt Retinger seit etwa 1940. Ihn hatte seine absolut positive Erfahrung aus der Zeit der Habsburger Monarchie für die Idee eines supranationalen Staatenverbund überzeugt. Weiter sollte dieser Staatenverbund um Litauen, Rumänien, Ungarn und Ukraine erweitert werden. Die Hoffnung, da könnte sich die Chance bieten, weitere Länder, wie Jugoslawien, Bulgarien, Albanien und die Türkei zu gewinnen, steht im Raum. Das könnte also eine Union der Länder zwischen Baltikum, dem Schwarzen Meer und dem Adriatischen Meer werden – genannt Intermarium8. Diese Union sollte gemeinsame Außenpolitik führen und eine gemeinsame Armee ins Leben rufen, sowie eine Zollunion, die die Wirtschaft integrieren würde. Die Länder behielten eigenes politisches System und eine Autonomie. Damit sollte der Grundstein für eine mitteleuropäische Föderation kleinerer Staaten gelegt werden.

Auch Sikorskis Interesse an diesem Konzept war groß, denn es war fraglos, dass die internationalen Beziehungen in Mittel- und Osteuropa neu gestaltet werden müssen. Retinger, jetzt offiziell als Berater des Ministerpräsidenten, und Sikorski führen Gespräche mit dem tschechoslowakischen Präsidenten Beneš, mit Hubert Ribka und Jan Masaryk. Diese Pläne und Gespräche verfolgt auch mit einigem Interesse die britische Regierung, die in solchem Staatengebilde eine Stabilisierung der Lage in diesem Teil von Europa für möglich hält.

Polnisch-tschechische Gespräche über die Föderation münden am 21. Mai 1941 in einem Gründungsakt des Verbundes von Polen und der Tschechoslowakei. Dieser Gründungsakt hat die Form eines Grundgesetzes. Aber als die Sowjetunion sich den Alliierten anschließt, ändert die tschechische Seite ihr Verhältnis zu der geplanten Föderation und zugleich zu der Sowjetunion. Die pragmatischen tschechischen Politiker sind der Meinung, dass eine Unterstützung seitens der Sowjetunion günstiger sein wird als eine Föderation mit Polen.

Des Weiteren ermöglicht Retinger seine Funktion als Berater des Ministerpräsiden in Exil Sikorski den Boden für Gespräche mit den führenden Köpfen anderer europäischer Staaten zu bereiten. Am 7. Februar 1941 findet ein weiteres Gespräch statt. Er bringt die polnische Delegation unter Führung von Sikorski mit den Politikern der belgischen Exilregierung – dem Premierminister Paul-Henri Spaak, dem Minister Marcel-Henri Jaspar, mit Roger Motz und Paul van Zeeland – zusammen.

So schaut Retinger auf dieses Ereignis zurück: „Ich erinnere mich an das Datum, denn später, sowohl Jaspar als auch Spaak sagten, dass sie dieses Gespräch in ihren Memoiren vermerkt haben als eines der wichtigsten und interessantesten, welche sie in dieser Zeit führten.“

Wenige Monate später trifft die polnische Delegation auf die holländische. An dem Gespräch nimmt Pieter Kerstens, der niederländische Senator und ehemalige Wirtschaftsminister teil. Er kann voll für die Idee der europäischen Einheit gewonnen werden und wird in Zukunft ein großer Fürsprecher dieser Bewegung und Freund von Retinger, der später so die Gespräche einschätzt: Ich denke, ich habe damit recht, wenn ich sage, die erste Suggestion für den Benelux aus unseren Gesprächen, die den föderativen Blöcken gewidmet waren, ausging. Benelux wird am 5. September 1944 ins Leben gerufen.

Durch seinen Bekanntenkreis hat Retinger die Gelegenheit, die wichtigsten internationalen Anführer zu treffen. Einige Worte mit Averell Harriman sind ausreichend, um in die USA geschickt zu werden, und dank Retingers Erläuterungen dort drüben mit Dean Acheson, wird der Marshallplan geboren, der durch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OEEC) als der erste Schritt zur europäischen Integration gilt. Retinger stets gut verborgen hinter vielen besser bekannten Persönlichkeiten.

Zurück zum Jahr 1941. Im März fährt Sikorski mit Retinger in die USA und Kanada. In Washington trifft General Sikorski auf Präsident Roosevelt und informiert ihn über die Plane der Föderation in Mittelosteuropa. Roosevelt unterstützt den Plan. Während der Gespräche gelingt Retinger, die Zusage für eine Hilfe von 12 Millionen Dollar für die polnische Widerstandsbewegung zu bekommen. Das Geld sollte aus dem Lend-Lease Bill von 11. März 1941 kommen, dem wichtigsten Mittel, um den ausländischen Nationen während des Zweiten Weltkrieges, bei Einhaltung der Neutralität der Vereinigten Staaten, die US-Militärhilfe zur Verfügung zu stellen. Primär sollte es Hilfe für Großbritannien sein, andere alliierte Staaten sind bald in dieses Gesetz eingeschlossen.

Zurück in London treffen sich Sikorski und Retinger mit Sir Richard Stafford Crips, dem britischen Botschafter in Moskau. Crips kommt nach London, um über die, seiner Meinung nach, bevorstehende Aggression Hitlers gegen die Sowjetunion zu informieren.

General Sikorski ist überzeugt, dass es an der Zeit ist, diplomatische Beziehungen zu der Sowjetunion zu reaktivieren, weil ein bedrohtes Land ein zugänglicherer Partner für Verhandlungen und Gespräche sein wird.

Am 22. Juni 1942 beginnt die Umsetzung des Barbarossa-Planes. Ein Tag nach der Invasion hält Sikorski eine Rundfunk-Rede, in der er zu einer Verständigung aufruft. In der Tat ist die Antwort seitens Moskau schnell und bald kommt es zu Gesprächen, an denen General Sikorski, Anthony Eden, Iwan Majski und Josef Retinger teilnehmen. Binnen eines Monats, am 30. Juli 1941, wird die Vereinbarung von Sikorski und Majski unterschrieben. Zugegen ist Winston Churchill, der zum Schluss sagt: Ich bin zuversichtlich, dass diese Vereinbarung das Ende der 300 Jahre währender Uneinigkeit zwischen Russen und Polen bedeuten wird. Dieses Blatt Papier, das vor uns liegt, beginnt ein neues Kapitel in der Geschichte und bei diesem Beginn bin ich ein Zeuge.

In Zusammenhang mit dieser Vereinbarung kommt es zu einer Wende in der Exilregierung: drei Minister treten zurück und Präsident Raczkiewicz will die Vereinbarung nicht unterschreiben. Sikorski sieht allerdings in dieser Vereinbarung die Anerkennung Polens als Gegenstand des internationalen Rechts durch Stalins.

Der nächste Schritt ist das Unterschreiben am 14. August 1941 in Moskau einer polnisch-sowjetischer militärischen Zusatzvereinbarung, die schon im Pakt Sikorski-Majski9 von 30. Juli 1941 angekündigt war. Diese Militär-Vereinbarung sollte die Befreiung der hunderttausenden Polen regulieren, die in den Arbeitslagern und Gefängnissen der Sowjetunion gefangen sind. Die Vereinbarung umfasst auch die Schaffung einer Armee unter der Führung von General Anders10 und deren Evakuierung nach Iran. In Kuibyschew entsteht die polnische Botschaft, der Botschafter wird Stanislaw Kot, von Retinger unterstützt.

Retinger reist nach Moskau, um die Abwicklung der Vereinbarung zu begleiten, bis der Botschafter kommt. General Anders beschreibt das so in seinen Erinnerungen:

„Vorübergehend kam nach Moskau als charge d’affaires Josef Retinger, persönlicher Freund von General Sikorski. Retinger kennt die ganze Welt, es ist ein außergewöhnlich intelligenter und gewinnender Mensch. Hat mich mit dem britischen Botschafter, Sir Stafford Crips, den er schon lange kannte, bekannt gemacht. Ich glaubte, sogar Crisp, der sehr gut orientiert war in allen politischen Angelegenheiten, nicht so gut die Sowjets verstehen konnte. Von meiner Seite habe ich Retinger mit einer Reihe sowjetischer Politiker bekannt gemacht und seine Gespräche mit ihnen waren sicher für die polnische Sache günstig…“

Retinger schreibt über diese Zeit Folgendes: „Meine Hauptaufgabe bestand darin, alles zu unternehmen, um polnische Gefangene, die 1939 in die Sowjetunion verschleppt wurden, zu befreien. Ich muss sagen, in den sechs Wochen meines Aufenthaltes in diesem Land, waren die Russen sehr zuvorkommend und zeigten sehr viel guten Willen, damit alle Vereinbarungen und Versprechungen eingehalten werden. Gerade als ich nach Archangelsk kam, hatte der Rundfunk im ganzen Land bekannt gemacht, dass die Polen befreit werden sollten und ohne Hindernisse reisen sollten, so dass sie ihre Botschaft kontaktieren konnten und mit ihren Familien zusammenkommen und zu der sich bildenden polnischen Armee stoßen könnten.“

Im Oktober reist Retinger mit Sikorski und Major Victor Cazalet, dem Abgeordneten im britischen Parlament und persönlicher Verbindung zwischen Churchill und Sikorski, nach Kuibyschew, wo sie auf General Anders und Botschafter Kot treffen und dann gemeinsam nach Moskau fahren, um an Gesprächen mit Stalin teilzunehmen. Die Gespräche haben einen sehr positiven Ausgang.

Die Bildung der polnischen Armee in der Sowjetunion verläuft gut, mit einer Ausnahme. Sikorski und Retinger suchen ohne Erfolg mehrere tausend Offiziere in drei Internierungslagern. Sowjetische Regierung verweigert jede Information zu diesen Offizieren. Bis zum Jahr 1943, als das deutsche Rundfunk die Nachricht über den Fund der Massengräber bei Katyń bringt. Die polnische Exilregierung fordert Informationen, was dazu führt, dass Moskau die diplomatischen Beziehungen abbricht.

Weitere Kriegsjahre zeichnen sich durch rege politische und diplomatische Tätigkeit von Retinger an Seite von Sikorski.

Februar des Jahres 1943 – Niederlage der Wehrmacht bei Stalingrad und zugleich der Sieg Stalins über die Wehrmacht – das ist die Zeit, in der Stalins Macht und Gewicht in der antideutschen Allianz entscheidend gestärkt werden. Die Engländer beginnen einen stärkeren Druck auf Sikorski auszuüben, damit er seine Politik neu, prosowjetisch orientiert. Die Lage der polnischen Exilregierung wird zunehmend schwierig.

In dieser Zeit will Sikorski polnische Anders-Armee in Nahen Osten inspizieren. Er trifft in Kairo General Anders, fährt weiter nach Bagdad und Beirut, um mit weiteren Feldherren die neue Lage Polens zu erörtern. Auf dem Rückweg fliegt er nach Gibraltar, wo er weitere Truppen besucht. Kurz nach dem Start Richtung London, versagt das Flugzeug und der General und begleitende Personen kommen ums Leben. Retinger erwartet Sikorski auf dem Flughafen Swindon. Am frühem Morgen erfährt er vom Tod des Generals. Am nächsten Tag fliegt er in Begleitung General Ujejski nach Gibraltar, um seinen Leichnam nach London zu bringen. Die polnische Exilregierung beschließt, nach Beendigung des Krieges, die Überreste nach Polen heimzufahren und auf der Burg Wawel beizusetzen. Das kann erst im Jahr 1993 geschehen!

Die Trauerfeierlichkeiten finden in der Westminster Kathedrale statt, beerdigt wird er auf dem Friedhof der polnischen Flieger in Newark.

Sikorkis Tod war für Retinger ein großer Schock und ein schmerzhafter Verlust. Er hat einen Freund verloren und mit ihm die Chance, in Zukunft seine Pläne zu verwirklichen.

Im August 1943 erscheint im Times ein langer Artikel, in dem eine Aufteilung der Einflusssphären vorgeschlagen wird: östliche und westliche. Polen wird der östlichen – der sowjetischen – zugeteilt. Das ist die Zeit, dass der Westen zunehmend mit der Sowjetunion rechnen muss. Im November 1943 kommt in Teheran zum Treffen der Großen Drei. Dieses Treffen endet mit Vereinbarungen, die die polnische Souveränität wesentlich tangieren: Roosevelt und Churchill sind mit Stalins Vorschlag einverstanden, die Ostgrenze von Polen auf der Curzon-Linie11 zu errichten. Beide denken wohl, dass mit dieser Konzession eine Garantie der Souveränität Polens erkauft werden kann.

In Angesicht der neuen politischen Lage versucht die polnische Exilregierung, mit der Führung des Untergrunds im okkupierten Land Kontakt aufzunehmen, um die Einstellung der Generelle der Untergrund-Armee in Erfahrung zu bringen: Ob man den Lauf der Ereignisse umkehren kann oder ob es ratsam ist, sich dem Schicksal zu ergeben.

Diese Herausforderung nimmt auf sich Josef Retinger, der die meiste Kompetenz und die meisten Beziehungen sowohl im Westen als auch in Polen besitzt. Des Gewichts der Mission und ihrer Gefährlichkeit ist sich Retinger sehr wohl bewusst.

Colin Gubbins, Chef der Strategic Office Executive, einer geheimen Organisation, die die Widerstandsbewegung in ganz Europa koordiniert und unterstützt, legt die konkreten Pläne der Expedition fest: Retinger wird mit dem Fallschirm über dem okkupierten Polen abgeworfen und am Ende der Mission wird er von einem Flugzeug aufgenommen und zurück nach England gebracht. Die Aktion sollte in Bari in Italien beginnen. Begleitet wird Retinger von Marek Celt, der die Bedingungen des Untergrundes gut kennt. Am 3. April 1944 startet das Flugzeug. Im frühen Morgenstunden kommt zu dem entscheidenden Moment – zum Sprung mit dem Fallschirm. Beide landen glücklich und nach drei Kilometer Marsch erreichen sie das Ziel – Dębie Wielkie bei Mińsk Mazowiecki. Die zwei Springer und 22 vom Flugzeug abgeworfene Behälter werden von Soldaten der Untergrundarmee abgeholt.

Die Hauptaufgabe von Retinger ist auszuloten, ob es Bedingungen für eine Verständigung des Untergrundes mit den polnischen Kommunisten gibt, um nach dem Krieg eine Regierung von Premierminister Mikołajczyk zusammen mit den Kommunisten zu etablieren.

Nach der Ausführung der Mission, nach vielen Komplikationen und Gefahren, verlässt er auf gleichem Wege das polnische Territorium Richtung Brindisi. Außer den Dokumenten nimmt er Teile einer V-2 Rekete mit, die – nicht explodiert – von den Soldaten der Untergrundarmee gefunden wurde. Zusammen mit Retinger flog Tomasz Arciszewski nach London. Er wird nach der Dimission von Mikołajczyk 1944 Premierminister der Exilregierung. Von Brindisi fliegt Retinger nach Kairo, wo er mit Mikołajczyk zusammen trifft.

In Polen beginnt der Warschauer Aufstand, infolge dessen die Stadt vollkommen zerstört wird.

In Jalta wird die Zukunft Europas besiegelt.

In Lublin wird die neue prosowjetische polnische Regierung ins Leben gerufen. Die Exilregierung ist marginalisiert.

In den Jahren 1945 und 1946 fliegt er noch drei Mal nach Warschau; er bringt Hilfe im Wert von vielen Millionen Pfund. Das ist Hilfe für das Land und zugleich eine propagandistische Unterstützung für Mikołajczyk, der zunehmend von den Kommunisten verdrängt wird. Diese Ausflüge finden ihr Ende, als die Kommunisten ihre Macht sichern.

In diesen zwei Jahren widmet sich Retinger auch anderen Aufgaben, die fortan seine Hauptbeschäftigung werden: dem Bau des vereinten Europas. Das Thema ist nicht neu. Schon im Jahr 1946 beruft Retinger in Brüssel die Unabhängige Europäische Liga für Wirtschaftliche Zusammenarbeit6 ins Leben. Sie wird 1948 Gründungsmitglied der Europäischen Bewegung.

Im Mai 1948 findet der gewaltige »Congress of Europe« in Den Haag statt. Die privat initiierte Konferenz bringt verschiedene Gruppen der europäischen Einheitsbewegung zusammen. Das Präsidium des Kongresses wird Churchill angetragen. Unter seiner Schirmherrschaft diskutierten über 700 Europäer, unter ihnen 18 ehemalige Premierminister und 28 ehemalige Außenminister, über die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen eines geeinten Europas. Dieser Kongress wird von vielen als die erste föderalistische Bewegung der europäischen Geschichte betrachtet. Wie einer von Retingers Freunden (Denis de Rougemont, ein schweizerischer politischer Philosoph und Vorkämpfer der europäischen Integration) später berichtet, ist es in Wirklichkeit Retinger, der hinter dem Kongress steckt. Die wichtigsten Themen, mit denen sich der Kongress in Den Haag beschäftigt, sind die Notwendigkeit einer Weltföderation, mit dem ersten Schritt eines Vereinten Europas; weitere Themen sind ein notwendiger Austausch von historischen Schulbüchern, da die Kinder Geschichte aus einem viel breiteren europäischen Blickwinkel gelehrt werden sollten, nicht mehr ausschließlich von der nationalen Seite. Dieser Kongress das ist der Beginn der Vereinigung der europäischen Staaten. Er trägt reiche Früchte: Das Europäische Rat, Europäische Bewegung, Das Europäische Kulturzentrum in Genf und Das Europäisches Kollegium in Brüggen.

Wilde Spekulationen um weltweite Verschwörung ruft Retingers nächste Initiative hervor – die Bilderberg12-Konferenz, die sich bis heute einmal im Jahr versammelt. Außer der Kenntnis um die regelmäßigen Treffen, weißt die Welt nicht viel darüber, was wiederum ein weiterer Grund für abstruse Vermutungen ist. Diese Gruppe entsteht aber aus der Einsicht, dass alle existierenden Streitigkeiten und die Gefahr einer Ausspielung von Kreml notwendig dazu führen müssen, dass die wichtigsten Persönlichkeiten der Politik, der Kultur, der Wirtschaft, sich in einem Club organisieren, in dem man die Fragen in einer informellen und diskreten Atmosphäre erörtern könnte.

Retinger nutzt alle seine Kontakte und im Jahr 1954 kommt es zu dem ersten Treffen im Hotel Bilderberg – von dem die zyklischen Treffen ihren Namen nehmen – bei Arnheim in Holland. Retinger will auch noch etwas anderes erreichen: dass durch diese Zusammenkünfte der wichtigen Persönlichkeiten von beiden Seiten des Atlantiks dem Antiamerikanismus in Europa und dem Antieuropäismus in den Vereinigten Staaten entgegen gewirkt werden kann. An dem ersten Treffen nehmen Politiker, Industrielle, Finanzleute, Wissenschaftler, Vertreter des Hochadels, der Geheimdienste, mit einem Wort, die einflussreichsten Persönlichkeiten aus Amerika und Europa, teil. Die Teilnehmerlisten werden im Nachhinein bekannt gegeben, nicht jedoch die Gesprächsthemen. Und so bleibt es bis heute. Wichtig für diese Gesprächsplattform ist es, jeweils zwei Personen aus den bedeutenderen europäischen Staaten zu finden, um so den konservativen und liberalen Blickwinkel offenzulegen. Die Bedeutung der Treffen wächst vom Jahr zu Jahr. Die Einladung zu dem Treffen wird als eine Bestätigung des internationalen Ranges der eingeladenen Person verstanden.

Die Organisation der Gruppe um den Prinz Bernhard als Vorsitzenden ist ein großer Erfolg von Retinger. In der Struktur der Gruppe nimmt er die Funktion als Generalsekretär. Im Jahr 1956 gibt Retinger eine Ausarbeitung The Bilderberg Group heraus, in der er die Ziele der Organisation darlegt und eine Bewertung der bisherigen Arbeit vornimmt. Des Weiteren bringt er eine Liste der 159 Teilnehmer.

Im Jahr 1960 stirbt Josef Retinger.

50 Jahre nach seinem Tod ist der Zusammenhalt der Atlantischen Welt ungewiss. Allen voran befinden sich die USA und Großbritannien in einer historischen Krise.

Obwohl es in Europa seit Jahrhunderten verschiedene übernationale Staatsgebilde gab, ist die Europäische Union deshalb etwas Besonderes, weil sie erstens in der Zeit des nationalen Bewusstseins der europäischen Länder zustande kam und zweitens inzwischen die meisten Länder Europa umfasst. Die bisherige Weltmachtstellung der USA befindet seit dem verlorenem Irak-Krieg im Abnehmen. Außer anderen Folgen hat dieser Prozess auch die Konsequenz, dass es den Europäern bewusst wird, dass Europa nicht zerfallen darf, sonst werden die einzelnen Länder, trotz ihrer Wirtschaftsstärke, unbedeutend und somit dem freien Spiel der aufkommenden Mächte ausgesetzt.

Die angelsächsischen Staaten, USA und Großbritannien, befinden sich, wohl unabhängig von einander, in einer gefährlichen Krise: Die Vereinigten Staaten drohen in den für sie fast natürlichen Zustand der Isolation von der restlichen Welt zu fallen und Großbritannien steht durch den Brexit erst am Anfang einer Krise mit ungewissem Ausgang.

Der amerikanische Isolationismus ist ein Zustand, nach dem die USA als Staat unwillkürlich streben. Nur eine erkannte Gefahr und eine Willensanstrengung können das Land von diesem Weg zur Umkehr zwingen. So war es nach allen Kriegen, die Amerika ausgefochten hat: beginnend mit der Unabhängigkeitskrieg am Ende des 18. Jahrhunderts, über den Sezessionskrieg, den Ersten Weltkrieg und den Zweiten Weltkrieg. Und jetzt wieder. Im 20. Jahrhundert ist der Hang zum Isolationismus deshalb durchbrochen worden, weil die Gefahr, dass amerikanische Hegemonie im Atlantik-Raum einmal durch Deutschland durchbrochen und einmal durch die Sowjetunion bedroht werden könnte.

Seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Untergang der früheren Sowjetunion trägt die Weltordnung den Namen „Pax Americana“, was den amerikanischen Gestaltungsanspruch zum Ausdruck bringt.

Und diese Pax Americana ist jetzt bedroht durch die abnehmende Stärke der USA, allen voran die militärische Stärke. Die amerikanische Wirtschaft muss es jetzt mit der chinesischen aufnehmen. Weil es so viele Kräfte bündelt, kann USA nicht mehr so viel Aufmerksamkeit, auch Geld, der atlantischen Welt widmen. Angela Merkel hat den Epochenbruch, die Abkehr von der transatlantischen Orientierung der USA erkannt, indem sie sagte: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei.“ Sie sagte weiter: „Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen.“

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Die Wurzeln Europas –
Christentum, griechische Philosophie, römisches Recht

Und da sind wir wieder in Europa Anfang des 21. Jahrhunderts. Nach einer bangen Zeit der zweiten Hälfte des Jahres 2016 und der ersten Hälfte 2017 besteht jetzt wieder berechtigte Hoffnung, dass Europa grundlegend seine Zukunft neu gestalten kann. Nach dem Brexit im Juni 2016 erfasste eine große Verunsicherung das Kontinent. In so einem vergifteten Klima wucherten Nationalismen und die Stimmung drohte endgültig umzukippen. Durch den Wahlsieg in Österreich und in Holland ist das Vertrauen langsam zurückgekehrt, aber erst der Sieg von Emmanuel Macron erlaubt wieder eine berechtigte Hoffnung, dass Europa sich erneuert, dass es zu einer neuen Stärke erwächst, dass es durch die Krisen der letzten Jahre umso stärker werden wird.

Angesichts dessen, dass heutige politische und wirtschaftliche Lage tausendfach günstiger ist, als sie damals – während und unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – gewesen war, bin ich überzeugt, dass die Erneuerung der Europäischen Union bald beginnen und, so gut wie sicher, zu einem Erfolg führen wird. Was ich nicht glaube, ist, dass die Politiker, die wir tagtäglich sehen und hören, sogar der talentierte Monsieur Macron und die erfahrene und kluge Frau Merkel, eine entscheidende Änderung in Europa herbeiführen können. Ich bin überzeugt, dass, so wie in allen bedeutenden Momenten der Weltgeschichte, im Hintergrund Menschen wirken, von denen die Öffentlichkeit kaum etwas erfährt, die aber einen maßgebenden Einfluss auf die Abläufe der zeitgenössischen Entwicklung in der westlichen Welt haben werden.

In den fast 2000 Jahren der europäischen Geschichte waren die großen Gestalten am einflussreichsten, die im Namen des Christentums gewirkt, ohne unbedingt darüber geredet zu haben, die moderne Geschichte seit der Aufklärung nicht ausgenommen. Die Aufklärung und die Französische Revolution hatten zwar die sichtbare Macht der Kirche als Institution erheblich beschnitten, und zu recht beschnitten, jedoch zur Absorption der jüdisch/christlichen Werte in der Gesellschaft geführt. So sind zum Beispiel Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit, Solidarität, aber auch Inividualismus auf das Bild des Menschen im Alten und Neuen Testament zurückzuführen – charakteristisch ausschließlich für Judaismus und Christentum, und somit für Europa und die westliche Welt – und finden sich nicht in anderen Wertesystemen.

Ein Symbol der Union ist die blaue Europaflagge mit goldenen Sternen. Die Idee13 zur Europaflagge kam einem Belgier jüdischer Abstammung, der nach dem Krieg zum Katholizismus konvertiert war, Paul Lévi, Leiter der Kulturabteilung des Europarats, im Jahr 1955, beim Anblick einer Marienstatue, die wiederum eine Anspielung auf die Imagination aus der Apokalypse von Johannes ist: „Dann erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt.“ (Offenbarung des Johannes 12,1): die Farbe des Himmels und die goldenen Sterne.

Bekannt ist, dass viele der europäischen Anführer aus ihren christlichen Überzeugungen Inspiration und Leidenschaft in ihrer Arbeit für die Europäische Einheit zogen. Auch Josef Retinger. Übrigens, fast alle Staatsmänner – Adenauer, Robert Schuhman, Bech, Bidault, De Gasperi und v. Zeeland –, die sich für ‚Europa’ zu jener Zeit engagierten, gehörten der spanischen Laienorganisation Opus Dei an.

Christentum, griechische Philosophie, römisches Recht – alle drei sind sie die wahren Wurzeln Europas.

***

Anmerkungen:

1. Olgierd Terlecki, Kuzynek diabła, Kraków 1988

2. Olgierd Terlecki, Kuzynek diabła, Kraków 1988

3. https://de.wikipedia.org/wiki/Österreich-Ungarn

4. https://de.wikipedia.org/wiki/Europarat

5. https://de.wikipedia.org/wiki/Europäische_Freihandelsassoziation

6. https://de.wikipedia.org/wiki/Ligue_Européenne_de_Coopération_Economique

7. https://de.wikipedia.org/wiki/Opus_Dei

8. https://en.wikipedia.org/wiki/Intermarium

9. https://de.wikipedia.org/wiki/Sikorski-Maiski-Abkommen

10. https://de.wikipedia.org/wiki/Władysław_Anders

11. https://de.wikipedia.org/wiki/Curzon-Linie

12. https://de.wikipedia.org/wiki/Bilderberg-Konferenz

13. https://www.welt.de/print-welt/article625491/Der-Sternenkranz-ist-die-Folge-eines-Geluebdes.html

Bibliografie:

1. W. Chr. Taverne, Józef Retinger und das Heilige Römische Europa, Was steckt hinter der Europäischen Einheit, Einige Fakten über Joseph H. Retinger und seine Aktivitäten, 1880-1960

2. Włodzimierz Kalicki, Retinger, gracz, który budował Europę, 2010

3. Jacek Dobrowolski, Józef Hieronim Retinger. Wielki nieobecny – legenda a rzeczywistość, 2010

4. Jeremi Sadowski, Józef Retinger i jego amerykańska teczka, 2008

5. Bogdan Podgórski, Józef Hieronim Retinger 1880-1960

6. Olgierd Terlecki, Kuzynek diabła, Kraków 1988

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• Café »Szkocka«

Sie ist wie Atlantis verschwunden, die Stadt. Auch wenn sie in Wirklichkeit immer noch da ist, ist dieser Vergleich angebracht, denn diese Stadt hat sich nicht durch die Zeitläufte notwendigerweise, wie die anderen Städte der Welt, verwandelt und modernisiert. Sie ist nicht mit der Zeit gegangen, die alte Stadt ist verschwunden.

Einst eine europäische Stadt, seit 1772 in der historischen Landschaft Königreich Galizien und Lodomerien, im Kulturleben und in der Architektur von der Metropole Wien bis in das 20. Jahrhundert hinein stark beeinflusst, ist mit dem Anfang des 2. Weltkrieges ihrer Oberschicht, der Intelligenzja beraubt worden. Die Kultur der Stadt, die von den verschiedenen Nationen und Konfessionen Schicht um Schicht in Laufe der Jahrhunderte erschaffen wurde, ist wie eine Schrift vom Pergament abgetragen, entfernt, beseitigt worden. Und Neues ist entstanden. Nur ist der genius loci dieser Stadt verzogen. Es ist nicht leicht, auf diesem Palimpsest die Spuren der Vergangenheit zu finden: Die Vergangenheit ist verschwunden.

Lwów — Lwiw — Lemberg

Lemberg – polnisch Lwów, ukrainisch Lwiw, lat. Leopolis –  war in der Geschichte vom Zusammenleben verschiedner Völker geprägt. Polen, Juden, Ruthenen, Armenier, Deutsche. Heute leben dort fast ausschliesslich Ukrainer. Lemberg mit seiner 1661 vom König Jan Kazimierz gegründeten Universität war über Jahrhunderte neben Krakau, Warschau und Wilna ein wichtiges Zentrum des polnischen Kultur- und Geisteslebens. So auch zwischen den Weltkriegen. Der September 1939 versetzte der Stadt den Todesstoss. Auch wenn sie im 2. Weltkrieg keine größere Zerstörung ihrer Bausubstanz erleben musste, ist das frühere blühende Geistesleben der Stadt schon in den ersten Monaten des Krieges zum Erliegen gebracht.

Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen war zweifelsohne die interessanteste Zeit im Leben dieser Stadt. Theater, Oper, Literatur – das alles blühte in dieser Stadt. Aber erst die Jan Kazimierz-Universität mit ihren genialen Wissenschaftlern und Gelehrten überstrahlte alles andere. Dort bildete sich die Warschau-Lemberger Philosophische Schule, die später in Warschau allein fortlebte. Allen voran ist hier jedoch die Lemberger Mathematische Schule zu nennen. Das Ende der Wirkung dieser bedeutenden Gruppe kam mit dem Jahr 1939. Ein Teil der Professoren ging auf Einladung von Prof. von Neumann unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges in die Vereinigten Staaten, ein Teil der Gelehrten, die während der Okkupation mit allen möglichen niederen Diensten beschäftigt waren, übersiedelte am Ende des Krieges mit der Jan Kazimierz-Universität nach Breslau, ein Teil wurde während des Krieges ermordet.

Wie einst in der Metropole Wien, waren auch in Krakau oder Lemberg die vielen Cafés die Orte, an denen sich die Künstler, die Literaten, Philosophen und auch – heute unvorstellbar – die Wissenschaftler getroffen und täglich stundenlang aufgehalten hatten. Eine dieser Kneipen erfreut sich bis heute weltweit einer Berühmtheit – freilich nur in Erinnerung: Das »Szkocka«-Café.

Café »Szkocka«

An einem der Tische hatten die Philosophen der berühmten Philosophen-Schule, die einen beträchtlichen Einfluss auf die europäische Philosophie ausgeübt hat, debattiert: Kazimierz Twardowski, Tadeusz Kotarbiński, Władysław Tatarkiewicz, Kazimierz Ajdukiewicz, Roman Ingarden und viele mehr, sogar begabte Studenten wurden zum Tisch zugelassen, denn trotz feudaler Sitten hatten Talent, Passion und Kollegialität für die Zusammenarbeit den Ausschlag gegeben. An einem anderen Tisch saßen und diskutierten, oft bis zum Morgengrauen, die Mathematiker: Stefan Banach, Hugo Steinhaus, Stanisław Ulam, Stanisław Mazur, Antoni Łomnicki, Wladyslaw Orlicz und andere nicht weniger bedeutende Mathematiker. Stefan Banach war in dieser Mathematikergruppe mehr als ein primus inter pares: Er war unangefochten das größte mathematische Genie dieser Zeit. In der anregenden und angeregten Atmosphäre dieses Ortes sind die Grundlagen der modernen Mathematik geboren. Eine Schlüsselrolle spielte dabei die bahnbrechende Raumtheorie von Banach. Stanisław Ulam, Jahre später an der Entwicklung der amerikanischen Wasserstoffbombe beteiligt, stützte sich auf Theorien, die hier in diesem Café, formuliert wurden, ihrer Zeit jedoch weit voraus waren. Zu unterstreichen ist aber, dass für diese Menschen Mathematik nicht durch die praktische Anwendung, sondern durch ihre immanente Schönheit legitimiert war, Schönheit, die diese Forscher ihr Fach nicht als ein rein deduktives System begreifen ließ, denn Mathematik zersprengt früher oder später den Rahmen des Systems und erschafft neue Prinzipien. Die Schönheit der Mathematik an sich entscheidet über ihr Wert, nicht ihre praktische Bedeutung.

Es waren an dem Café-Tisch keine akademischen Debatten angesagt: Hier zeichneten und rechneten die Genies auf Servietten oder auf dem Marmorblatt der Tische, oft schwiegen sie einfach oder unterhielten sich monosyllabisch, denn sie verstanden gegenseitig ihre Gedankengänge. Wenn sie die Lösung an einem Abend nicht gefunden haben, ging es am nächsten Tag weiter. Oft wurden die Hieroglyphen auf den Tischen bis zum nächsten Tag bewahrt und sie konnten ihre Arbeit an der Lösung fortsetzen. Nicht selten waren aber die Tischplatten doch gesäubert oder die Servietten vernichtet, so das manche Theorie nie das Tageslicht erblicken konnte… Ein großer Verdienst Frau Banach war, es war das Jahr 1935, einen dicken Heft, in dem die gestellten Fragen und Theorien aufgeschrieben werden konnten, zu spenden. In diesem Heft wurden Aufgaben – von harmlosen Rätseln bis zu Fragen von fundamentaler Bedeutung aufgeschrieben. Auf der linken Seite die Fragen, die rechte blieb leer, bis die Lösung gefunden werden konnte. Das „Buch“ wurde im Café aufbewahrt, so dass jeder Mathematiker, der die Vorstellung hatte, wie eine der Aufgaben zu lösen war, es verlangen konnte. Manche der Fragen fanden nicht so schnell ihre Antwort, man hat also Preise ausgelobt für die richtigen Ergebnisse. Die Preise waren so ungewöhnlich und witzig, wie diese Menschen selbst: Sie reichten von einer Tasse Kaffee, Flasche Wein, einer Reise nach Genf, bis zu einer… lebendigen Gans.

Mathematik besteht zum großen Teil aus Fragen; die Lösungen lassen bisweilen hunderte von Jahren auf sich warten. Der Zustand der geistigen Bereitschaft sich mit diesen Problemen zu messen, charakteristisch für diese Forscher, hatte sich durch den ausgerufenen Wettbewerb noch gesteigert. Über viele Jahre hinaus suchen Mathematiker in der Welt nach Lösungen für die damals gestellten Probleme. Auf eine der Fragen, die damals in dem Buch – genannt »Księga Szkocka« – aufgezeichnet waren, hat der schwedischer Mathematiker Per Enflo die Antwort erst Anfang 70ger Jahre gefunden – und die ausgelobte Gans entgegengenommen…

Der letzte Eintrag aus dem Jahr 1941 stammt von Hugo Steinhaus. Es gelang während der deutschen Okkupation das Buch außer Land zu bringen. Die Tradition der »Ksiega Szkocka« wurde eifrig in der Welt fortgeführt und – sie wird weiter fortgeführt. Das Buch, das Einfluss auf den Lauf der Welt nahm und noch nehmen wird, wird an einem unbekannten Ort in den Vereinigten Staaten aufbewahrt und behütet. Es enthält noch viele ungelöste Fragen.

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• Worüber Thilo Sarrazin nicht schreibt

Um den Gedanken, der im Titel des Buches von Thilo Sarrazin1 enthalten ist, verstehen zu können, muss man sich das Phänomen der Zuwanderung vom Gesichtspunkt der Soziologie anschauen. Dabei muss die Besonderheit der Immigration aus den muslimischen Ländern nach Europa genau betrachtet werden. Das Thema ist umfassend, hat viele Aspekte; ich wage hier eine kurze Analyse ausgewählter Probleme.

Mit seinem Buch Deutschland schafft sich ab hat Sarrazin ein Gewitter beschworen. Vor allem in den Medien und in der Welt der Politik. Im Endeffekt musste der Autor vom Vorstand der Bundesbank zurücktreten; es droht ihm Ausschluss aus der SPD, deren Mitgliedschaft er seit Jahrzehnten besitzt. Sogar heute, ein halbes Jahr nach dem Erscheinen des Buches steht der Autor in heftiger Kritik. Leider werden Sarrazins Thesen selten kritisiert – der Autor um so heftiger. Argumente der Kritiker sind überwiegend unsachlich, was diese disqualifiziert. Die Krone dieser „Kritik“ setzt ein Berliner Rapper auf – sein Streich ist zudem eine Folge der Angriffe auf Sarrazin: Es erscheint ein Video mit dem Song „Ghettolied 2011“. Im Hintergrund brennt ein Plakat mit Sarrazins Konterfei…

Die mediale Kritik konzentriert sich anfangs auf den statistischen Daten, die vom Autor angeführt werden: Die Statistiken werden – mit mehr oder weniger Erfolg – in Frage gestellt. Wesentliche, mit seinen Thesen im Zusammenhang stehende Vorwürfe aber werden nur von wenigen Publizisten geäußert. Sie betreffen allen voran seine riskanten Prophezeiungen über Zukunft des Landes und die Versuche, komplizierte soziale Phänomene mit… Genetik zu erklären. Diesbezügliche Ausführungen des Autors widersprechen fataler Weise jeglicher wissenschaftlichen Korrektheit. Die mediale Kritik vernachlässigt jedoch seine vom Gesichtspunkt der Soziologie und Biologie unwissenschaftliche Art, die Probleme, die im Zusammenhang mit Zufluss der fremden Bevölkerung stehen, zu analysieren. Und Sarrazin, obwohl sehend und beobachtend sieht und versteht nicht, was sich wirklich in der Gesellschaft abspielt. Wesentliche soziologische Untersuchungen, die die Integration der Einwanderer genau untersucht und Gesetzmäßigkeiten entdeckt haben, erwähnt er nicht. Dazu kommt seine Sprache, die die – sicher ungewollte – Verachtung der Menschen, die er zum Objekt seiner pseudowissenschaftlichen Ausführungen gemacht hat, verrät.

Heute, in Zeiten der Globalisierung, kann sich kein europäisches Land vor dem Zustrom der Einwanderer „schützen“. Die Diffusion aus Ländern, in denen Armut und Überbevölkerung herrschen, die von Naturkatastrophen betroffen sind, aus Gegenden, wo Hunger und Krieg wüten, wo Diktatoren herrschen und die Lage zwingt, nach Sicherheit in der Ferne zu suchen und ein besseres Leben und bessere Zukunft anzustreben, ist ein Faktum. Grundsätzlich kann man die Entwicklung nicht aufhalten, fraglich ist sogar, ob man sich davor wehren soll, obschon der Anblick der überlasteten Boote, auf denen die Flüchtlinge nach Europa – dem versprochenen Land – um den Preis des Lebens, immer und immer wieder strömen, Entsetzen hervorruft. Nichts jedoch spricht dafür, dass Probleme in den Heimatländern, die Folgen von Kolonialismus, Neokolonialismus, und gescheiterter Entwicklungshilfe sind, zur Zeit gelöst werden könnten. Massenmigration – eine Völkerwanderung – scheint also aus der Entwicklung der letzten Jahrhunderte zwingend zu resultieren. Ihr Ziel ist seit Jahrzehnten Westeuropa, aber die Art und Weise, wie die Ankunftsstaaten die Ansiedlung der Einwanderer organisieren, zeugt von Gleichgültigkeit gegenüber den Problemen, die auf die Immigration unabwendbar folgen. Zu den Problemen gehören auch Ängste und Phobien der autochthonen Bevölkerung.

Die ersten soziologischen Untersuchungen an Immigranten wurden bereits in den Jahren 1918-20 in Amerika von William I. Thomas und Florian Znaniecki durchgeführt. Da sie in ihrer Pionierarbeit die Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten der Adaptation in einer diametral neuen Umwelt erkannt haben, bleibt sie auch heute aktuell. Die Ergebnisse ihrer Forschung haben sie in dem Buch Der polnische Bauer in Europa und Amerika2 präsentiert. Das fünfbändige Werk hat den Autoren eine internationale Bekanntheit beschert. Ihre Untersuchungen haben Znaniecki und Thomas an mehreren Generationen der hauptsächlich aus dem armen Galizien in die hochindustriellen Städte von Amerika emigrierten polnischen Bauern durchgeführt:

Immigranten der ersten Generation integrieren sich grundsätzlich schlecht und eher unwillig. Als Angehörige der unteren, bildungsfernen gesellschaftlichen Schicht ändern sie in ihrem neuen Lebensumfeld das Verhalten nicht, die neue Sprache beherrschen sie nur in einem zum Ausführen der beruflichen Tätigkeit notwendigen Grad. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Sicherung der Existenz. Sie leben in dem neuen Land, sprechen die „alte“ Sprache, ihre Sitten und moralischen Prinzipien stammen aus der weit entfernten Welt. Das Bedürfnis, daran etwas zu ändern, ist grundsätzlich nicht vorhanden. Das soziale Bewusstsein ist nicht entwickelt, so dass die Anpassung an die neue soziale Umwelt, vor allem das Knüpfen sozialer Kontakte mit der autochthonen Bevölkerung kaum stattfindet. Sie arbeiten hart, bauen eine neue Existenz – das ist schwer genug. Ihre Kinder, gleich, ob sie mitgekommen sind oder schon in dem neuen Land geboren, befinden sich in einer diametral anderen Lage: Die Bindung mit dem Ursprungsland der Eltern ist kaum vorhanden, die Sprache der Eltern kennen sie nur aus den fragmentarischen häuslichen Gesprächen ungebildeter Menschen. In der Schule sind sie zwar gezwungen, die neue Sprache zu lernen, die Beherrschung dieser kann aber – das ergibt sich aus der Natur der Sache – nicht ausreichend sein. Die mangelhafte Bildung erlaubt ihnen nicht, weitere Sprossen der sozialen Leiter zu erklimmen, das Knüpfen der sozialen Kontakte ist ebenfalls dadurch wesentlich erschwert, oft finden sie keinen Partner fürs Leben. Mit einem Wort, diesen Menschen gelingt es nicht, Wurzeln zu schlagen. Das Gefühl der Vereinsamung, ein Mangel an Erfolgen, wachsende Aggression – das alles führt dazu, dass die zweite Generation der Immigranten überdurchschnittlich oft in Konflikt mit dem Gesetz gerät. Erst über die dritte – und weitere – Generationen der Zuwanderer lässt sich sagen, sie haben die neue Ordnung akzeptiert und soziale Kontakte geknüpft, ergo – sie haben Wurzeln geschlagen. Bei ihnen unterscheidet sich Kriminalität grundsätzlich nicht von der der autochthonen Bevölkerung.

Eine ähnliche Entwicklung hat man in Deutschland beobachtet, als es in den 90iger Jahren zu einer Immigrationswelle aus der ehemaligen Sowjetunion gekommen ist: Tausende Familien, allen voran Wolga-Deutsche, sind in der Bundesrepublik angekommen. Erwachsene haben eine Beschäftigung gefunden, waren mit der Organisation des Lebens in dem neuen Land beschäftigt und ihre Söhne, denn es betrifft hauptsächlich die männlichen Nachkommen der Immigranten, haben in hohem Tempo die Gefängnisse gefüllt. Man hat viel über dieses Phänomen gesprochen und geschrieben. Jedoch dank der Resozialisationsarbeit und des Drucks, eine berufliche Tätigkeit aufzunehmen, aber auch dank der Unterstützung des Staates bei Bildung und Weiterbildung, ist diese Welle abgeebbt. Heute arbeiten sie, gründen Familien, auch ihr Heiratsverhalten deutet auf stattgefundene Integration. Dies ist mit Genugtuung von Politikern und Soziologen registriert worden.

Die ersten Gastarbeiter sind vor etwa 50 Jahren nach Deutschland gekommen. Ein Teil ist im Land geblieben, ein Teil ist in die Heimatländer zurückgekehrt. Die, die geblieben sind, sind grundsätzlich gut integriert. Ein Teil der Gastarbeiter und anderer Zuwanderer, hauptsächlich türkischer und arabischer Herkunft, Muslime also, die geblieben sind, bilden hier eine Ausnahme. Nicht alle Muslime jedoch: Perser, die nach dem Sturz des Schah-Regimes und der Machtübernahme von den Ayatollahs nach Deutschland gekommen sind, Iraker, Afghanen – alle aus mittleren und höheren Gesellschaftsschichten, aber auch Aleviten, ein liberalerer Teil der Muslime – sie alle sind gut integriert in die Gesellschaft. Nicht gelungen ist die Integration der Muslime, die aus der untersten Gesellschaftsschicht stammen. Aber die im 19. Jahrhundert aus Galizien nach Amerika emigrierende personifizierte Armut stand auch auf der niedrigsten Ebene der sozialen Pyramide und ihre Integration ist erfolgreich verlaufen. Also weder Armut noch Religion sind bestimmend für das Nichtgelingen der Integration.

Die Gesetzmäßigkeiten, die Thomas und Znaniecki entdeckt haben, sind in Deutschland nie diskutiert worden; sie sind weitgehend unbekannt. Grundsätzlich wird erwartet, dass die Anpassung der Zuwanderer linear erfolgt, vor allem aber automatisch. Thilo Sarrazin schreibt:

„Rätsel gibt auch auf, warum die Fortschritte in der zweiten und dritten Generation, soweit sie überhaupt auftreten, bei muslimischen Migranten deutlich geringer sind als bei anderen Gruppen mit Migrationshintergrund.“3

In einem bedeutenden Teil der türkischen Bevölkerung in Deutschland beobachten wir ein früher unbekanntes, von niemandem antizipiertes, Phänomen: Junge Frauen, oft noch Mädchen, werden nach dem Willen der Eltern verheiratet, oft mit Verwandten in der alten Heimat. Junge Männer von Natur aus und infolge der Erziehung der Typus „Macho“, heiraten eher nicht die jungen Türkinnen, die in Deutschland groß geworden sind. Diese jungen Frauen sind nicht mehr so sanftmütig und fügsam, wie ihre Mütter, die vor Jahren aus der Türkei gekommen waren. Das ist der Grund, warum sie für die jungen Türken als Partnerinnen nicht interessant sind; die jungen Männer suchen ihre Ehepartnerinnen in der alten Heimat der Eltern. Der Zuzug der Ehefrauen und Ehemänner aus der Türkei, meistens aus den abgelegenen anatolischen Dörfer, Menschen die nicht gebildet sind und der deutschen Sprache nicht mächtig, ist zu einem reellen Problem geworden. Kinder aus diesen Familien, scheinbar schon die nächste Generation, in Wirklichkeit in der Lage der zweiten Generation im Sinne von Znaniecki und Thomas, erleben die typischen Schwierigkeiten der „zweiten Generation“, obwohl sie faktisch die dritte oder vierte Generation sind. Diese „zweite Generation“ perpetuiert sich somit von Generation zu Generation und der Übergang zur dritten Generation im Sinne der Wissenschaft erfolgt nicht.

Das Problem der „Importbräute“ ist alles andere als einfach zu lösen. Selbstverständlich hat der Staat nicht die Möglichkeit das Heiratsverhalten der Menschen zu regeln. Das scheinbar einzig Mögliche – und das wird auch gemacht – sind Sprachkurse für die Neuangekommenen, denn die Beherrschung der Landessprache ist Basis für jegliche Integration. Das ist viel, jedoch absolut nicht ausreichend. Die Kinder kommen in die Schule mit rudimentären Deutschkenntnissen, schulische Misserfolge sind also vorprogrammiert, der zu erwartende Einstieg in das Berufsleben so gut wie unmöglich. Kriminalität oder gar Gangzugehörigkeit ist in dieser Bevölkerungsgruppe, besonders in den großen Städten, ein bekanntes Phänomen. Zu Hause spricht man türkisch, das Fernsehprogramm – dank der Satellitenantennen – empfängt man aus der Türkei. Die immer größer werdende ethnische Gruppe zwingt nicht, Mühe der Integration auf sich zu nehmen – in einem türkischen Viertel fühlt man sich zu Hause. So entsteht eine Minderheit in der Mehrheitsgesellschaft und nicht eine zwar ethnisch differenzierte, jedoch homogene Gemeinschaft. Die Immigration aus den arabischen Länder, aber auch aus Kurdistan, stellt den Staat vor gravierende Probleme: Es ziehen ganze Großfamilien und Klans nach Deutschland, es entstehen Parallelgeselschaften; von der Teilnahme am Produktionsprozess kann wenig die Rede sein, die Existenz muss vom Staat gesichert werden, Kriminalität blüht.

Sowohl in der türkischen, als auch in der arabischen Gesellschaft haben Worte wie „Ehre“ oder „Würde“ eine besonders große Bedeutung. Jedoch weit von der Heimat sind Männer, Familienväter, die für sich Respekt und Gehorsam beanspruchen, in Wirklichkeit nicht in der Lage, ihren Söhnen zu imponieren – weil sie kein eigenes Einkommen haben, weil nicht sie, sondern der Staat die Existenz der Familie sichert. Gehorsam und vermeintliche Autorität basieren auf bloßer körperlicher Gewalt. Auch Gewalt gehört zu den Verhaltensmustern, die ihre Kinder nachahmen.

Thilo Sarrazin rechnet aus, dass sich bei einer tatsächlichen überdurchschnittlichen Fertilität der jungen Türkinnen, Araberinnen und auch der Frauen aus der deutschen Unterschicht und bei der sinkenden relativen Geburtenzahlen in der mittleren und höheren Gesellschaftsschicht in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern, die Mehrheitsverhältnisse in einigen Jahrzehnten umkehren werden. Ob sich seine Prognosen erfüllen werden, weiß heute niemand, diese sind auch wenig wahrscheinlich. Präsentation unsicherer Prognosen führt bekanntlich nirgendwo hin: Nicht wenige Male hat die Geschichte gezeigt, das sich ein demographischer Wandel unerwartet, von niemandem vorgesehen, vollzieht und langfristige Prognosen eher nicht in Erfüllung gehen. Ein Beispiel: Die hohe Geburtenrate in Polen in den 70iger Jahren wird nicht von einem erneuten Babyboom gefolgt; der heutige demographische Wandel in Polen, also das Älterwerden der Gesellschaft und eine niedrige Geburtenrate geben dort genauso wie im Westen Europas Grund zur Sorge.

Sarrazins Prognose, das Intelligenzniveau in der Gesellschaft wird sinken, eine Prognose, der er die Fertilität der Frauen in bestimmten ethnischen und gesellschaftlichen Gruppen, die Schulleistungen ihrer Kinder und auch die Teilnahme (oder Nichtteilnahme) am Arbeitsmarkt zu Grunde legt, ist unverantwortlich. Ihre Treffsicherheit kann gegenwärtig keineswegs verifiziert werden, ihr Verbreiten resultiert allerdings in der Mehrheitsgesellschaft in erster Linie mit dem Gefühl der Bedrohung, mit verschiedenen Ängsten und mit einer sichtbaren mentalen und verbalen Aggression den Menschen gegenüber, um die man sich auf eine rationale Weise kümmern muss, wenn man sie aufgenommen hat. Sarrazin unternimmt den Versuch zu beweisen, dass, wenn der IQ in der Unterschicht, unabhängig von der Nationalität, unterdurchschnittlich ist und die Fertilität überdurchschnittlich im Vergleich zu den höheren Gesellschaftsschichten, die durchschnittliche Intelligenz der Bevölkerung im Vergleich zu dem heutigen Niveau sinken wird. Die Rechnung ist genauso einfach wie einfältig. In den Völkern wirken Kräfte, die zur Erneuerung oder zum Untergang führen – wie schon oft in der Geschichte – Kräfte, die nichts mit dem Intelligenzniveau der Menschen zu tun haben. Ursachen dieser Prozesse bleiben für die Wissenschaft immer noch ein Rätsel. Eins ist aber sicher: Wir leben mitten im einem stattfindenden Bruch der Geschichte; eine neue Epoche, die mit dem Prozess der Globalisierung begonnen hat, kommt, alte Eliten werden untergehen, neue werden zu gegebener Zeit erscheinen.

Ein Blick vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft gelingt Sarrazin nicht, aber mit den Thesen der Naturwissenschaft geht er geradezu unbedarft um:

„Die Darwinsche Evolutionstheorie, die Mendelschen Gesetze und empirischen Befunde zur Vererbbarkeit geistiger Eigenschaften, darunter auch menschlicher Intelligenz, ergeben zusammen ein empirisch-logisches Gedankengebäude, gegen das man mit Anspruch auf wissenschaftliche Seriosität kaum etwas vorbringen kann.“4

Es ist verwunderlich, dass er so komplexe und komplizierte, immer noch nicht endgültig erkannte Prozesse, wie es die Vererbung, ganz besonders die Vererbung der geistigen Eigenschaften, wie Intelligenz, Talente oder Begabungen sind, in einem Satz erklären will. Mit Hilfe der Mendelschen Gesetze, heute Mendelsche Regeln genannt, kann nicht mal die Vererbung der Erbkrankheiten erklärt werden, geschweige denn die der geistigen Eigenschaften. „Intelligenz ist zu 50-80 Prozent vererbbar“, behauptet Sarrazin. Diese These führt auf geradem Wege zum Widerspruch: Wenn wir annehmen, der Vererbungsfaktor für den IQ liegt bei 50 (Prozent), bedeutet es zugleich, Erziehung und Schule hätten große Aufgaben vor sich. Ein Faktor von 80 Prozent – ließe der Familie und Schule gar keine Chancen. Der Autor sieht diesen Widerspruch nicht.

Langsam und mit großer Verspätung beginnt die Politik zu erkennen, dass der einzig richtige Weg zur Integration durch eine gut organisierte Kinderbetreuung und Schule führt. Überall zugängliche, gut ausgestattete Kinderkrippen, Kindergärten und Ganztagsschulen scheinen ein wirklicher Ausweg aus dieser Situation zu sein. Man wird Geld brauchen und viele Erzieher und Lehrer, die gut ausgebildet sind, auch Lehrer männlichen Geschlechts, denn nur diese werden von den heranwachsenden „Machos“ akzeptiert. Es lässt sich nicht ändern. Der Staat sollte schon längst auf diesem Weg sein. Zu lange dauert die Suche nach den kausalen Zusammenhängen. Indes schreibt Thilo Sarrazin ein Buch, indem er zwar die Dinge oft brutal beim Namen nennt, aber eigentlich sie nicht versteht, was er ja selbst unterstreicht. Seine Lösungsvorschläge sind nicht falsch, aber lange noch nicht zu Ende gedacht.

Beim Betrachten der Probleme, die mit der Integration der muslimischen Einwanderer in einem Zusammenhang stehen, dürfen wir den Aspekt der Religiosität nicht außer acht lassen. Die islamische Religiosität hat in ihrem Wesen nicht den individuellen Charakter, sie ist, besonders in den niedrigen Gesellschaftsschichten, im Grunde ein Element der Identifikation mit der Gruppe, dem Volk, dem Staat. Der Islam erlaubt die Apostasie nicht; sie hat zivilrechtliche Folgen und im schlimmsten Fall wird sie mit der Todesstrafe geahndet. Zudem erklärt der türkische Staat immer wieder seinen Anspruch auf die faktische Führerschaft bei den in der Diaspora lebenden Türken. Der Islam zeigt sich hier als ein geschlossenes System, die Menschen verbleiben darin wie in einem Zauberkreis. Dies erleichtert in keiner Weise die Adaptation an die neue Lebenssituation.

Die Grundhaltung der Muslime zu der westlichen Kultur wird selten zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Analyse. Man kann jedoch vermuten, die Einstellung sei weitgehend nicht ausreichend positiv, um den Willen zur Integration oder Assimilation in die westlichen Gesellschaften stärken zu können. Außerdem ist der Einfluss der muslimischer Autoritäten einer intensiven Integration nicht zuträglich. Der türkische Premierminister, Recep Tayyip Erdogan, hat bei seinem emotional hochgeladen Auftritt im Jahr 2008 in Köln vor 25 000 Türken die Menschen aufgerufen, sich nicht zu assimilieren, denn das sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Erdogan hat auch verlangt, in Deutschland sollen türkischsprachige Gymnasien errichtet werden. Das würde definitiv selbst die Idee der Integration untergraben. Im Jahr 2011 wiederholt Erdogan seinen Auftritt in Deutschland. Und wie soll man von einfachen Menschen erwarten, dass sie die Mühen der Integration auf sich nehmen und dass sie verstehen können, diese liegt in ihrem Interesse? Und dass auch das Interesse des Gastlandes zählt?

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tendierten die Gesellschaften des Fern- und Nahosten, wie Japan, Indien, Sowjetrussland, muslimische Staaten, diese zum Teil bis heute, angesichts der gewaltigen industriellen und zivilisatorischen Entwicklung des Westens zur Übernahme einer in Deutschland geborener, in den Jahren 1871-1945 lebendiger antiaufklärerischer Verachtung der Ideen der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit –, der Liberalität, des Kapitalismus, zur Übernahme des Hasses gegen die großen Städte, weil sie in diesen Orte der Verderbnis und Sittenverfalls sahen und zum großen Teil noch heute sehen. Ob und wie dieser Okzidentalismus5, dieses Dämonisieren des Westens, Einfluss hat auf die mehr oder weniger bewussten Einstellungen der heutigen Einwanderer aus den muslimischen Ländern? Und im welchen Grade ist er als hemmender Faktor bei der Integration zu sehen? Sarrazin knüpft kurz an das Problem an, seine Folgerungen stehen jedoch nicht im historischen Kontext, erklären also nichts.

Welche Folgen Sarrazins Buch auf die deutsche Politik, aber vor allem auf die hier lebenden Türken haben wird, bleibt noch offen. Sein Verdienst ist das Aufgreifen des Themas, das bis dahin in der Politik und besonders in den Medien ein absolutes Tabu gewesen ist. Diese Diskussion wird zurückkehren. Wichtig ist, dass das Thema nicht von außen rechts besetzt wird, dass die liberalen Medien inhomogener berichten und die Probleme der Immigration und Integration rational und nicht emotional behandelt werden. Dass von den sich aus der Diskussion ergebenden Schlussfolgerungen zum Handeln übergegangen wird. Denn Apathie und eine Unfähigkeit zu handeln scheinen zur Zeit die größten Probleme der westlichen Staaten zu sein.

Nicht weniger wichtig und außerdem historiosophisch überaus interessant ist das Verhältnis des europäischen Selbstverständnisses als christliche Welt zu dem in Europa heimisch werdenden Islam. Welche Richtung die Entwicklung nehmen wird, ist heute ungewiss. Erwünscht wäre in meinen Augen das Entstehen eines Euro-Islams; das würde beide Seiten des Prozesses bereichern: die Christen und die Muslime.

* * *

1 Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, Deutsche Verlags-Anstalt, Monachium 2010

2 William Isaac Thomas i Florian Znaniecki, The Polish Peasant in Europe and America, 1918-20.

3 Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, s. 287

4 ibidem, s. 351

5 Ian Buruma i Avishai Margalit, Occidentalism. The West in the Eyes of Its Enemies, Copyright by Ian Buruma and Avishai Margalit; (Okcydentalizm, Zachód w oczach wrogów, przełożył Adam Lipszyc, Towarzystwo Autorów i Wydawców Prac Naukowych UNIVERSITAS, Kraków, 2005)

Okzidentalismus: In Anlehnung an und als Replik auf den von Edward Said geprägten Begriff Orientalismus bezeichnet man als Okzidentalismus eine Ideologie des Hasses gegen den Okzident, gegen westliche Gesellschaftsstrukturen und Werte. In dieser Bedeutung wurde der Begriff von Ian Buruma und Avishai Margalit geprägt. Sie finden dieses Phänomen u.a. in der deutschen Romantik, der westlichen konservativen Kulturkritik, bei Islamisten und bei antiimperialistischen Linken. http://de.wikipedia.org/wiki/Okzidentalismus

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• Europa als Idee

Europäische Öffentlichkeit

Europa ist per definitionem das westliche Fünftel der eurasischen Landmasse. Es ist im geografischen Sinne ein Subkontinent, jedoch historisch und kulturell betrachtet, wird Europa als eigenständiger Kontinent angesehen.

Wikipedia zum Eigennamen „Europa“: „Der griechischen Sage nach war dies der Name einer phönizischen Königstochter, die Zeus in Stiergestalt schwimmend nach Kreta entführte und dort verführte. Dieser Name stammt nach Auffassung einiger Etymologen aus einer semitischen Sprache und wurde dann gräzisiert, z. B. akkadisch erebu, ,sinken‘, ,untergehen‘ (in Bezug auf die Sonne) analog zu ,Okzident‘ oder aus phönizisch erob, ,dunkel‘, ,Abend‘, daher auch ,Abendland‘. Auch das hebräische Wort ereb bedeutet soviel wie ,Dunkel‘ oder ,Abendland‘.“

Die Geschichte der Idee eines vereinigten Europa ist uralt. Um die erste Jahrtausendwende mit der Christianisierung der östlich lebenden Polen und Ungarn sowie der drei skandinavischen Königreiche wurde die Bildung des Abendlandes abgeschlossen. Die Staatsgebilde der damaligen Zeit haben sich als vom Gotteswillen entstanden, als „Gottesstaaten“ verstanden.

Es war der Vorläufer der neuen Epoche in der Entwicklung Europas – Dante Alighieri nämlich, der sich bei seinem Verständnis für den Staat für eine Unabhängigkeit des weltlichen Kaisertums von der Kirche ausgesprochen hat. Pierre Dubois, ein Scholastiker (um 1255 – 1321) erarbeitete eine Vorstellung von einem „dauerhaften Frieden“ in Europa und war somit einer der ersten Verfechter der Europaidee im modernen Sinne. Seine Vorstellung war nicht ein Staatenbund, sondern Europa als ein Staat, womit, seiner Meinung nach, die Möglichkeit eines dauerhaften Friedens in Europa gegeben wäre. Schon im Jahre 1300 forderte er eine Reform des Staates und der Kirche, zugleich auch die Trennung von Staat und Kirche. Des Weiteren forderte er ein gemeinsames Heer und eine gemeinsame Justiz. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft sollten zum Teil auf ihre Souveränitätsrechte verzichten, aber selbständige politische Einheiten bleiben. Die Handelsvorschriften wurden von ihm in diese Vorstellung von Europa integriert. Seine Ideen waren präkursorisch und haben wegen gegebener historischer Umstände keinerlei Niederschlag in der damaligen oder späteren politischen Ausgestaltung gefunden. Die Zeit in der Dubois wirkte, charakterisiert sich durch katastrophale Kämpfe zwischen dem Staat (Philip der Schöne) und der Kirche (Zerschlagung des Templerordens).

Im Jahre 1462 hatte Georg von Podiebrad als böhmischer König den ersten europäischen Föderations-Plan mit 21 Artikeln erschaffen, in dem verschiedene gemeinsame europäische Einrichtungen vorgesehen waren, darunter Heer, Haushalt, Gericht, Volksvertretung, Asyle, Verwaltung und ein Wappen. Gemeinsam mit Ludwig XI., hat er einen Bündnis- und Föderationsvertrag (gegen die Türken) geschlossen. Der Versuch jedoch, die Fürsten von dem Einfluss der Kirche zu lösen, gelang nicht.

Für Erasmus von Rotterdam ist es die lateinische Sprache das Bindeelement einer übernationalen Gemeinschaft, der „europäischen Gelehrtenrepublik“. Die Realisierung seiner Idee sollte ein Heilmittel gegen jegliche Versuche der kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa sein. Die Losung war: Vernunft und Frömmigkeit!

Zu Beginn der Neuzeit, in der Renaissance, gewinnen Staaten den säkularen Charakter, die antike Tradition wird neu belebt. In dieser Zeit beobachten wir auch ein Phänomen der Partikularisierung der Obrigkeit. Somit entsteht Europa der miteinander konkurrierenden Staaten und die größten Konflikte werden erst aus dieser Konkurrenz geboren.

Nach der Reformation ist es nicht nur die Nationalität, die trennt, sondern auch die konfessionelle Zugehörigkeit. Infolge der Reformation wird aber die Säkularisierung beschleunigt, es entstehen absolutistische Machtstaaten, die Auseinandersetzungen zwischen ihnen sind vorprogrammiert. Herzog von Sully (1560–1641) hat die Vorstellung einer „Universalmonarchie“ als einer christlichen Republik auf dem europäischen Kontinent. Diese Staatenorganisation war von ihm als Gegengewicht zur habsburgischen Vorherrschaft konzipiert

Auch Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) sah nach der Entdeckung der Neuen Welt Europa als Mittelpunkt der Welt. Er veröffentlichte eine Schrift zur Reform des Rechtswesens. Darin fordert er eine Vereinheitlichung der Gesetzeswerke der christlichen Nationen. Diese Bemühungen korrespondieren mit denen vom Erasmus, der ein ähnliches Ziel hatte, nämlich die „Gelehrtenrepublik“ zu erschaffen, in der die christlichen und antiken Elemente zur Toleranz und Humanität verhelfen sollten. Diese Bemühungen sind auf die Erkenntnis von Leibniz zurückzuführen, dass Glaubensgemeinschaft eine unerlässliche Voraussetzung für die Erhaltung der abendländischen Kultur sei. Es gelang ihm, die Vorstellung von Nationalgefühl und Europäertum zu vereinigen. Notwendigkeit des Umdenkens sah er als unabwendbar in Anbetracht der chaotischen Zustände nach den Glaubenskämpfen des Dreißigjährigen Krieges. Seine Idee umfasste: ein starkes Reich, eine einheitliche Regierung, einen internationalen Gerichtshof.

Jean Jacques RousseauImmanuel KantGeorg Wilhelm Friedrich Hegel waren die weiteren Denker, die in einem geeinigten Europa die Grundlage für einen ewigen Frieden sahen. Kant sah als erster in einer republikanischen, also bürgerlichen und moralischen Verfassung die Grundlage einer solchen Staatenbildung.

Im Jahre 1814, also nach den napoleonischen Kriegen, war es Karl Krause, der den Entwurf eines europäischen Staatenbundes vorgestellt hatte. Napoleon Bonaparte hatte bei vielen Zeitgenossen den Eindruck erweckt, sein Ziel sei ein vereinigtes Europa – „Der Weltstaat durch Napoleon“, wie es Karl Krause bezeichnete. Napoleon hatte zwar viele Institutionen in allen europäischen Staaten, in die ihn seine Siegeszüge geführt hatten, reorganisiert und modernisiert, sie auf neue, dem römischen Recht entliehene Grundlagen gestellt, letztendlich wollte er in Europa jedoch nichts anderes, als die Vorherrschaft Frankreichs begründen.

Henri de Saint-Simon veröffentlichte mit seinem Sekretär Augustin Thierry einen Plan für Europa, der aus der Kritik des Wiener Kongresses entstanden war. Der Wiener Kongress hätte in ihren Augen keine Kriege verhindern können, seine Wirkung war geradezu eine entgegengesetzte: Die zwei Denker vermuteten, dass noch mehr Kriege und Konflikte geschürt werden. Der erwähnte Europa-Plan bleibt in seinen Grundzügen erstaunlich aktuell: Ein gesamteuropäisches Parlament soll über das gemeinschaftliche Interesse der europäischen Gesellschaft entscheiden. Seine Aufgabe ist vor allem die Schaffung eines allgemein gültigen Rechtssystems. Die Voraussetzung für die Tragfähigkeit eines solchen Parlamentes ist nach Überzeugung von Saint-Simon die Entwicklung eines „europäischen Patriotismus“.

Das Jahr 1848 bedeutete eine weitere Zäsur in der Geschichte von Europa. Die Revolution von 1848/49 beginnend in Frankreich, breitete sich in ganz Europa aus. In diesem Jahr wurden in vielen europäischen Städten Nationalversammlungen geschaffen: in Paris für Frankreich, in Frankfurt für ganz Deutschland, in Berlin für Preußen, in Wien für Österreich und in Budapest für Ungarn. Das war eine Revolution, das war ein Novum in Europa. Aber schon damals konnte es nicht verborgen bleiben, dass es nur der erste Schritt sein kann.

Der weit über seine Zeit hinausschauende polnische Dichter und europäische Gelehrte, Adam Mickiewicz, der sich in vielen europäischen Ländern aufgehalten hatte und politisch überaus engagiert wirkte, urteilte schon am 15. März 1849: „Die Lage Europas ist heute so, dass ein Volk unmöglich den Weg des Fortschritts getrennt von anderen Völkern bestreiten kann, ohne sich selbst und somit die gemeinsame Sache zu gefährden.“ Es mussten weitere hundert Jahre vergehen und zwei schreckliche Kriege die Europäer zum Handeln zwingen… Und heute noch haben diese Worte nichts von ihrer Aktualität und Dringlichkeit verloren.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es noch sehr viele Denker und Schriftsteller, die von der Idee eines Vereinigten Europas angetan waren: Viktor HugoAuguste ComteKarl MarxFriedrich NietzscheAristide Briand. Es wurde die Idee eines Mitteleuropas, in Russland des Panslawismus, im Westen der Paneuropa-Bewegung geboren. Ausgehend von der Lage des britischen Imperiums ging Winston Churchill in seinen Gedanken zu einem Weltbündnis noch weiter, außerdem forderten die Widerstandsbewegungen aus neun europäischen Staaten 1944, am Ende des Zweiten Weltkrieges, ein vereintes Europa. Hier war es die Haltung der Sowjetunion, die sich in diesem Moment als ein Haupthindernis für alle Pläne einer politischen Vereinigung auf dem Kontinent erwies.

Danach betraten Jean Monnet und Robert Schuman die Weltbühne.

Was verbindet die früheren Visionen, um nicht zu sagen Utopien?

– Sie entstanden überwiegend in Zeiten nach den Kriegen, Revolutionen und nach schweren Niederlagen und Umwälzungen oder in Zeiten, in den die Gefahr von Seiten des Osmanischen Reiches aktuell war.

– Sie verblieben als ein rein geistiges Gebilde, ohne dass eine wirkliche Umsetzung angestrebt wurde oder auch nur möglich war.

Hier möchte ich vorgreifen: Erst nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges schien es möglich, einen für alle bedingungslosen Anfang zu versuchen. Eine wichtige Vorbemerkung:

Es waren nicht die Denker und Philosophen, die in diesem Moment eine Wende herbeigeführt hatten! Die ersten Schritte des noch lange andauern sollenden Vereinigungsprozesses wurden aufgrund der Wirtschaftsfragen gestellt, deren Lösungen im Interesse mehrerer Staaten gefunden und fortwährend verwirklicht werden. Interessant hier die Bemerkung von Jürgen Habermas, dass diese ersten supranationalen Vereinbarungen aus der Gründungszeit für die jeweiligen Staaten eine verfassungsändernde Kraft hatten. Es liegt auf der Hand, dass zu damaliger Zeit jeglicher Versuch, rechtliche Fragen im Bezug auf ein einiges Europa zu stellen und sie lösen zu wollen, kläglich gescheitert wäre. Auch heute sind es die rechtlichen Fragen, diejenigen, die die Völker spalten. Und es sind auch heute andere Themen, die die Völker einen: Das ökologische Gleichgewicht, eine gerechte Verteilung der knappen Energieressourcen, die Sorge um die Diversität der Energiequellen und der Energiearten. Und Wirtschaftsfragen. Diese können nur gemeinsam gelöst werden – im europäischen Bezug, bevor sie global angegangen werden können.

Die rechtlichen Fragen, die die europäische Außen- und Innenpolitik, die wahre kulturelle Annäherung, können erst dann gelöst werden, wenn eine Meinungsbildung in übernationalen und internationalen Fragen erreicht werden wird. Das hängt mit der Bildung einer europäischen Öffentlichkeit zusammen.

Zurück also zum Saint-Simon, der in seinem Werk die spätere Entwicklung Europas antizipiert. Leider bleibt der „europäische Patriotismus“, von dem er spricht, bis heute nur eine Vision. Wenn man sich die zeitgenössische Debatte zur europäischen Öffentlichkeit anhört, kommt man zu dem Schluss, dass aus seiner Vision eine Chimäre geworden ist. So darf es aber nicht bleiben. Diese Öffentlichkeit zu fordern, ist unsere gemeinsame Aufgabe.

Tragisch in der Geschichte Europas ist, dass es in der heutigen Zeit, in der die Vereinigung der Staaten schon so weit fortgeschritten ist, immer noch Philosophen und Denker gibt, die nicht frei von kleinlichen Sympathien und Antipathien, von partikularen Interessen und von Überheblichkeit im Bezug auf die Rolle der einzelnen Staaten in unserem Staatenbund sind.

Als Jürgen Habermas von der europäischen Öffentlichkeit im Jahr 2003 sprach, meinte er nur das Kerneuropa. Die Briten und die hinzukommenden Osteuropäer sowie einige der kleinen Staaten sind in seinen Ausführungen nicht gemeint. Wie soll also eine Solidarität entstehen und leben, wenn so viele Völker ausgeschlossen sein sollen? Habermas war nicht der erste, der über „Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten“ sprach. Diese Debatte, an der sich auch Joschka Fischer in seiner Humboldt-Rede beteiligt hatte, ergab, dass die verschiedenen Geschwindigkeiten in dem Einigungsprozess an und für sich keinen ausschliessenden Charakter haben müssen. Dagegen wirkten Habermas´ Thesen spaltend, denn sie leben vom Antiamerikanismus, einer negativen Kraft, übrigens einem Problem aus dem Bereich der Außenpolitik. Außenpolitische Themen sind in der heutigen Phase der Vereinigung von Europa nicht dazu angetan, die Nationen zu einigen. Darüber hinaus ist es – in meinen Augen – nicht möglich, dass sich eine eigenständige gemeinsame europäische Meinung aus der Profilierung gegen einen anderen Staat entwickeln kann. Die einende Kraft wird nur aus der Gemeinsamkeit der Interessen und der Gemeinsamkeit der geschichtlichen Tradition entstehen. Aus dem Negativen kann keine positive Kraft erwachsen.

Gar erschreckend ist Habermas´ Interpretation der, in seinen Augen spontanen, Manifestationen gegen den Irak-Krieg im Jahre 2003 in den europäischen Hauptstädten als die Geburtsstunde der europäischen Öffentlichkeit. Diese keineswegs spontane Manifestationen sind vorgeblich unter einer pazifistischen Losung geführt worden. Eigentlich waren es aber antiamerikanische und antiisraelische Parolen. Aus der Natur der Sache konnte also auf diesem Hintergrund keine gemeinsame Meinung entstehen. Heute, nach fünf Jahren, wissen wir tatsächlich, dass es eine falsche Vorstellung war, die Habermas 2003 ausformuliert hatte. Von einer europäischen Öffentlichkeit nach wie vor breit und weit keine Spur.

Die europäische Öffentlichkeit wird nicht ohne die Führung der Eliten möglich sein. Auf der vorigen Seite habe ich darüber geschrieben, dass es eigentlich die Politiker, jedoch noch mehr die führenden Journalisten sind, die es in der Hand haben, hier geschichtsbildend zu wirken. Zur Zeit aber fehlt diesen Eliten noch die Inspiration.

Ohne eine wirksame europäische Öffentlichkeit wird nie und niemals das gelingen, was Habermas nach dem negativen Ausgang des Referendums in Irland fordert, nämlich eine Volksbefragung in allen EU-Ländern. Nicht nur wegen des von mir schon früher erwähnten Desinteresses der Bürger Europas für die EU-Belange. Viel gefährlicher ist, dass dann dieses Vakuum eine gezielte Einwirkung der populistischen, antieuropäisch denkenden Politiker, und von der Sorte haben wir Legion, kurz vor einem Referendum füllen würde.

In den Publikationen der letzten Tage lese ich oft das Argument, dass die Menschen nicht etwas befürworten können, was sie nicht verstünden. Und tatsächlich ist der Lissabonner Vertrag auf über 400 Seiten so ausformuliert, dass ein Mensch, der sich nicht mit dem internationalen Recht auskennt, diesen Vertrag nicht verstehen kann. Wie soll man erwarten, dass die Wähler ihre „Ja“-Stimme für etwas geben, was sie nicht haben verstehen können? Wäre ein Europa-Vertrag wie jede nationale Verfassung ein transparentes Gerüst von Grundnormen, könnten alle Bürger frei entscheiden. Warum also der zu abstimmende Vertrag in dieser für die Bürger nicht verständlicher Form?

„Für eine Stärkung der Demokratie ist jedoch eine Betonung der politischen Dimension erforderlich sowie eine freie, öffentliche Debatte, die allen offen steht. Nationale Foren müssen es sich zur Aufgabe machen, alltägliche europäische Probleme zu diskutieren und somit Transparenz, Kontrolle, Verantwortung und Informationen für alle sicherzustellen. Die Einleitung einer öffentlichen Debatte über die europäische Politik in der gesamten EU wird dazu beitragen, die Ziele des Vereinigungsprozesses zu klären, gemeinsame Interessen deutlich zu machen und Europas institutionelle Form zu bestimmen“, schreibt Constantinos Simitis in seinem überaus lesenswerten Artikel.

Es geht bei „Europa“ nicht nur um Tempo, um Beschleunigung der Integrationsprozesse. Zunehmend nehmen auf Europa Herausforderungen von Außerhalb des Kontinentes Einfluss: Globalisierung, Probleme in den Staaten, die hinter der östlichen Grenze zur EU liegen, die Notwendigkeit der regionalen Initiativen im Rahmen der Union, Verlust an Bedeutung der einzelnen Länder auf internationalem Forum, was noch leider nicht damit zusammengeht, dass die gemeinsame europäische Stimme an Gewicht gewänne. Durch diese Herausforderungen wird sich die Europäische Union herauskristallisieren, es gibt keine Zweifel darüber. Das Scheitern des Lissabonner Vertrages kann in sich einen positiven Kern, einen Neuanfang enthalten, freilich unter der Voraussetzung, dass die Regierungen sich jetzt nicht gegenseitig die Schuld geben und nicht gegenseitig Druck ausüben.

Noch einmal ein kurzer Schwenk zu Saint-Simon: Er ist in die Geschichte als Begründer des Frühsozialismus eingegangen. Auch heute bleiben viele seiner Ideen aktuell. Le nouveau christianisme – es ist zu Anfang des 20. Jahrhunderts die alternative Soziallehre zu der atheistischen von Karl Marx geworden. Die Marxsche Soziallehre ist kompromittiert, sie wird keine Neuauflage erleben. Das heisst nicht, dass wir es dabei belassen und dem ungezähmten Kapitalismus zuschauen sollen. Es gibt Ideen früherer Denker, auf die wir zurückgreifen können. Es ist Jürgen Habermas, der richtig feststellt: „… der soziale Skandal inmitten eines der glänzendsten Wohlstandsmilieus sollte als Teil der Probleme begriffen werden, die wir nur lösen können, wenn wir den weltweiten Trend, dass die Märkte den politischen Gestaltungsmöglichkeiten davonlaufen, umkehren.“**

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„Die Menschen können nur durch die Befriedigung ihrer materiellen und moralischen Bedürfnisse glücklich werden“, so Henri de Saint-Simon.

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