Polin1 – Museum der Geschichte der polnischen Juden
Im 14. Jahrhundert wurden Juden aus deutschen Landen2, Spanien und Portugal, Ungarn, Frankreich, aus Moskau und Kiew, später aus England vertrieben. Sie gingen, auf Einladung des polnischen Königs Kasimir des Großen, Richtung Osten bis sie das Stück Erde gefunden haben, wo sie glaubten, sich dort niederlassen zu können. Sie fanden das Land als „ohne erbitterten Hass gegen uns wie in Deutschland“.
„Es soll so bleiben, bis der Messias kommt“, sagte später Moses Isserles. Die zugeneigte Politik der polnischen Könige bewirkte, dass Polen für die Juden in der Tat das größte europäische Haus wurde, lange Paradisus Judaeorum genannt. Man sagte – Polen war „Himmel für das Adel, Fegefeuer für das Bürgertum, Hölle für die Bauern und Paradies für die Juden“. Eine beschleunigte Entwicklung der jüdischen Kultur bewirkte, dass Polen in den nächsten Jahrhunderten tatsächlich das Zentrum der jüdischen Welt wurde. Mitte des 16. Jahrhunderts lebten in Polen 80 Prozent aller Juden!
Weder die Juden noch die Polen strebten nach Assimilation – das war im Sinne sowohl der Rabis als auch der katholischen Geistlichkeit. Obwohl sie die gleichen Gebiete bewohnt haben, hatten sie getrennte Administration und Bildungswesen. Trotz der Unabhängigkeit nahmen die Juden ihren bestimmten Platz in der sozialen Stratifikation ein: als das 4. Stand, nach dem Adel, dem Bauernstand und der katholischen Geistlichkeit.
Im 18. Jahrhundert – infolge der Teilungen des Königtums Polen – fanden sich die meisten Juden plötzlich im russischen und im österreichischen Imperium. Eine gewisse Isolation von dem Hauptstrom des geistigen Lebens in Europa begünstigte eine einmalige Entwicklung: Bemerkenswert viele Juden wandten sich den kabbalistischen und messianistischen Bewegungen zu, die ihren Anfang im Mittelalter nahmen: der osteuropäische Chassidismus wurde geboren und verbreitete sich rasant. Charakteristisch für diesen war eine heitere Lebensweise, ohne Askese und Sühne; die Freude am Leben, die Heiterkeit, das freudige Erwarten des Messias – das war das modus vivendi in der schwierigen historischen Zeit.
Im Jahr 1791, am 27. September, verkündete die Französische Nationalversammlung die Gleichstellung der französischen Juden. Das war der Beginn der jüdischen Emanzipation, der Bewegung vom Rand in die Mitte der Gesellschaft. In den unter dem französischem Einfluss – in der Zeit der napoleonischen Kriege – stehenden deutschen Gebieten wurden die Juden vorbehaltlos emanzipiert3. Dadurch bekam die jüdische, von Berlin ausgehende Bewegung der Aufklärung, die Haskala, erst ihre rechtliche Grundlage. Haskala, die schon früh die Juden im östlichen Europa erreichte, hatte die Assimilation beschleunigt, aber auch die jüdische Identität gestärkt – durch Edukation in Hebräisch und in der jüdischen Geschichte. Zionismus und andere politische Bewegungen sind ihre späteren Ausläufer. Jedoch waren bei weitem nicht alle Juden von der Haskala beeinflusst, viele blieben Anhänger der von Halacha bestimmten traditionellen Lebensweise: orthodoxe Juden und Chassiden.
Juden, nicht nur in Polen, lebten über Jahrhunderte in einer Parallelgesellschaft. Es gab nach wie vor so gut wie kein Streben nach Assimilation. Diese Regel bestätigen nur die wenigen, im 18. und 19. Jahrhundert stattfindenden, Übertritte zum christlichen Glauben – was zur damaligen Zeit eine Bedingung sine qua non der Assimilation war. Die Assimilation dieser Menschen – als Beispiel können hier die Frankisten4, aber auch andere dienen, die sich für die Taufe entschieden haben – dauerte mehrere Jahrzehnte und verlief nicht ganz ohne Widerspruch, auch aus dem Grund, dass die getauften Juden ihren Platz in der Oberschicht einnahmen. Sie und ihre Nachkommen spielten eine herausragende Rolle in der Gesellschaft – in der Kultur und vor allem in der Wissenschaft.
Die Gleichstellung der Juden in den europäischen Gesellschaften bedeutete für sie eine Weichenstellung. Die Emanzipation im Osten Europas verlief jedoch langsamer, die meisten Juden lebten althergebracht in den jüdischen Vierteln der Großstädte, in Schtetln und auf dem Land. Die verspätete Entfaltung war ein Grund unter anderen, dass sich nach und nach immer mehr Juden aus den östlichen Gebieten für eine Auswanderung in Richtung Westen entschieden. Im östlichen Europa lebten nicht nur die Juden, aber auch alle anderen Gesellschaftsschichten bis zum Jahr 1939 sehr traditionell. 1921 gewährte die polnische Märzverfassung5 den Juden gleiche Bürgerrechte und garantierte ihnen religiöse Toleranz. In Polen lebten in dieser Zeit circa 3 400 000 Juden, etwa 10 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die Zwischenkriegszeit, die Jahre zwischen 1918 und 1930 war sicher das Höhepunkt der kulturellen Entwicklung der assimilierten Juden, die beispiellos die Kulturszene und die Wissenschaft bereicherten. Sie leisteten einen großen Beitrag zur Musik, Malerei, Literatur, Philosophie und Mathematik. Das betrifft übrigens auch andere europäische Länder.
Nach dem Tod von Józef Piłsudski, der keinen Antisemitismus duldete, hat sich dieser, im Gleichschritt mit der Entwicklung in anderen europäischen Ländern rasant verbreitet. Es war der Un-Geist der Zeit. Die Katholische Kirche in Polen, die im 19. Jahrhundert entschieden gegen Nationalismus und Antisemitismus auftrat, begann zu dieser Zeit mit dem alten kirchlichen Antijudaismus zu spielen. Auch die besonders im Osten des Landes wirkende Partei Narodowa Demokracja, die wiederum den angeblich schädlichen Einfluss der Juden auf die polnische Gesellschaft und auf die Wirtschaft des Landes predigte, hatte entschieden zur der späteren Haltung vieler Polen, allen voran der Landbevölkerung, während des Krieges und der Okkupation vom Dritten Reich beigetragen. Die antijüdische Propaganda war massiv, sie war unerträglich. Ihr Einfluss war enorm.
Im Dezember 1939 schrieb Jan Karski6: „Das Volk hasst seinen Todfeind, die Deutschen, aber die Judenfrage bildet eine Art schmaler Brücke, wo sich die Deutschen und ein Großteil der polnischen Gesellschaft treffen.“
Und es geschah, wie es geschehen musste: Durch die Demoralisierung, die aus den Lebensumständen im okkupierten Polen resultierte, herrschten moralische Depravation, Verachtung der zehn Gebote, aber auch Gier, und so kam es dazu, dass sowohl Juden, die sich vor den Deutschen verstecken konnten, als auch ihre Retter hundert- und tausendmal von ihren Nachbarn an die Gestapo ausgeliefert wurden, was sie und die Helfenden, wie zu erwarten, das Leben kostete. Wahrlich, ein Sündenfall!
Und es waren noch mehr Menschen, die die Vernichtung der Juden begrüßten, viel mehr als die, die selbst dazu beitragen hatten.
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Es mussten zwei Generationen vergehen, bis es möglich wurde, dass das, was lange Zeit tabuisiert war, also der genaue Verlauf der Judenverfolgung und das Verstricktsein in dieses Geschehen der Bevölkerung, sowohl der deutschen, als auch in den Ländern, die sich mit dem Dritten Reich im Krieg befanden, zu beleuchten. Polen, das 1939 als Staat aufhörte zu existieren, vom Dritten Reich sechs Jahre und von der Sowjetunion zwei Jahre okkupiert worden war, nimmt in der Geschichte der Schoah eine besondere Stellung, allein aus dem Grund, dass sich die Vernichtung der Juden auf dem polnischen Gebiet abspielte.
Die Erkenntnisse aus der Auswertung der historischen Quellen sind erschütternd. Sie zeigen, welche Kraft in der Verführung liegt.
„Verführung“ verstehe ich hier wortwörtlich, was heute ungewöhnlich, ja, semantisch nicht ungefährlich ist. Es übersetzt sich: Dem Bösen unterliegen. Und das bedeutet, die Existenz des Bösen anzunehmen. Die beiden Begriffe: das Gute und das Böse werden im heutigen Sprachgebrauch grundsätzlich abstrakt oder metaphorisch genutzt und verstanden. Ich will hier in diesen Kategorien in ihrem eigentlichen Sinne sprechen, denn ich glaube, dass nur die wortwörtliche, adäquate Bedeutung vom „Gut“ und „Böse“ helfen kann, zu verstehen, wie es möglich war, dass mitten im 20. Jahrhundert, mitten in Europa Millionen Menschen zu Tode kamen. Das Wort „Verführung“ hat in seinem Klang ein Hauch von Leichtigkeit und lässt beide Seiten des Geschehens auf einem sandigen Grund stehen. Die Schuld wird zum Ball zwischen dem Verführer und dem Verführten. Wer hat die größere Schuld? Wir wissen, in jedem von uns wohnt neben dem Guten – auch das Böse. Um das Gute im Menschen zu aktivieren ist ein waches Bewusstsein notwendig, das für eine Entscheidung – dafür oder dagegen – notwendig ist. Wenn das Bewusstsein nicht ausgeprägt ist, wenn der Mensch nicht aufmerksam ist, wenn Triebe und niedere Affekte vorherrschen, ist es ein Leichtes, der Verführung, der Manipulation zu verfallen.
Sowohl in Deutschland als auch in Polen, aber auch in den anderen Ländern, in den der Antisemitismus ausgeprägt war, war er vorerst nur verbaler Natur und hatte er in den frühen Phasen nicht den Charakter des mörderischen Hasses. Erst als die Juden vom Dritten Reich, einem Terror-Staat, mit dem Bann belegt wurden, als sie zunehmend recht- und schutzlos wurden, konnte in so vielen Menschen das in seiner Natur befriedigende Gefühl der Macht über andere aufsteigen, sich zudem durch die Massenhaftigkeit des Phänomens verstärken. Diese Macht bedeutete Macht über Leben und Tod.
Um die Verführung an dem Volk vollkommen zu machen, hatte die Staatsmacht in Deutschland die Bevölkerung an der Enteignung der Juden beteiligt. Dadurch wurde die Verstrickung in das verbrecherische System exemplarisch. Das große Vermögen hatte der Staat requiriert, dem Kleinbürger aber die Schnäppchen aus der Auflösung der jüdischen Haushalte gegeben. In Generalgouvernement erlaubte der Deutsche Okkupant der unglaublich verarmten polnischen Landbevölkerung ein Teil des jüdischen Eigentums als Belohnung für den Verrat an den sich noch versteckenden Juden für sich zu behalten – ein größerer Teil des geraubten Vermögens wanderte in die deutschen Kerngebiete. Das Böse im Menschen war erfolgreich aktiviert, die nachfolgenden Verbrechen in den unterworfenen Ländern eine logische Fortsetzung.
Nach vorsichtigen Rechnungen wurden von Vertretern der Landbevölkerung, aber auch von einfachen Banditen und zum Teil vom städtischen Lumpenproletariat etwa 60 000 bis 200 000 Juden umgebracht oder an die Deutschen verraten. Und noch schlimmer: Hunderte von Juden, die sich retten konnten, die unmittelbar nach dem Krieg aus der Sowjetunion zurückkehrten, wurden zu oft von den Menschen, die ihre Habe, ihre Häuser an sich genommen haben, ermordet.
Hier nur ein Zitat: Barbara Engelking, eine Forscherin, die zum Thema Vernichtung der Juden während des II. Weltkrieges forscht, schreibt – „Die Dankbarkeit gegenüber Hitler für das Loswerden der Juden ist ein sich wiederholendes Motiv in den Schilderungen der Ereignisse.“
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So wie Paul Celan, so steht die Dichterin Zuzanna Ginczanka für Möglichkeit der Poesie im »Angesicht der Shoah«: „Non omnis moriar“.
„Non omnis moriar“ ist ein Meisterwerk der polnischen Literatur. Die Sprache der Dichterin ist voller Sarkasmus und Hohn. Das scheint das einzige Mittel zu sein, über die giftigen Früchte der moralischen Verderbnis so Vieler zu schreiben. „…Transfigure the birds of prey into angels. …“
– Die rhetorische Figur: „… verwandelt Raubvögel in Engel“ ist, meine ich, die tiefgründigste Metapher in einem Werk, das die Niederung der menschlichen Seele und des menschlichen Geistes offenbart.
Non omnis moriar 1942 by Zuzanna Ginczanka translated from the Polish by Nancy Kassell and Anita Safran
Non omnis moriar. My grand estate – Tablecloth meadows, invincible wardrobe castles, Acres of bedsheets, finely woven linens, And dresses, colorful dresses – will survive me. I leave no heirs. So let your hands rummage through Jewish things, You, Chomin’s wife from Lvov, you mother of a volksdeutscher. May these things be useful to you and yours, For, dear ones, I leave no name, no song. I am thinking of you, as you, when the Schupo came, Thought of me, in fact reminded them about me. So let my friends break out holiday goblets, Celebrate my wake and their wealth: Kilims and tapestries, bowls, candlesticks. Let them drink all night and at daybreak Begin their search for gemstones and gold In sofas, mattresses, blankets and rugs. Oh how the work will burn in their hands! Clumps of horsehair, bunches of sea hay, Clouds of fresh down from pillows and quilts, Glued on by my blood, will turn their arms into wings, Transfigure the birds of prey into angels.
Zuzanna Ginczanka (eigentlich Zuzanna Polina Gincburg; 1917–1944), eine junge polnische Dichterin, versteckt sich in Lemberg, einer bis zum 17. September 1939 polnischen Stadt, die nach diesem Datum unter sowjetische Verwaltung fällt, einer Stadt, die nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 zu einer Falle wird für alle hier lebenden Juden. Ginczanka, geplagt und gequält von Erpressern, den Schmalcowniks entgleitend, unterliegt indessen im Herbst 1944 in Kraków, wo sie sich zu dieser Zeit versteckt, einer Denunziation: Sie fällt in die Hände von Gestapo und wird 27jährig – weil sie Jüdin ist – erschossen.
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Nach dem Krieg herrschte bei den Menschen jahrzehntelang eine Sprachlosigkeit, ein Beschweigen der Leere. Diese war übrigens nicht immer wahrnehmbar, vor allem für die später Geborenen: Die Häuser, die Wohnungen und Werkstätten aus dem jüdischen Eigentum wurden besetzt und angeeignet. Eine gewisse Sprachlosigkeit – wohl der Ausdruck von einem diffusen Schuldgefühl – war da. Einer Schuld, die auch heute von vielen geleugnet wird. Es gab also etwas, worüber man im Allgemeinen ungern sprach.
Ich hörte fremde Namen, die der Vergangenheit gehören, ich hörte von Gegebenheiten, die kein Entsprechen in der neuen Zeit hatten und von Menschen, die nicht mehr da waren. Es waren einfach zu viele abwesend, dass man dies als einen normalen Lebensgang hätte verstehen können. Es waren Lektüren, es waren Gedichte, die von etwas erzählt hatten, das man nicht immer verstand. Was fehlte, wer fehlte – über das sprach man nicht viel und wenn, dann mit gedämpften Stimmen, irgendwie ungern. Ich schaute Bilder in den Familienalben und ich hörte von Menschen, von denen jemand entschied, dass sie nicht leben sollten.
Hier muss ich erwähnen, dass ich meine Jugendjahre in einer Stadt verbracht hatte, die nicht weiter als 50 Kilometer von der Ortschaft entfernt ist, die für immer in die Weltgeschichte einging – auf die denkbar negative Weise: von Auschwitz. Die Nähe, aber auch die Tatsache, dass mein Vater nicht über lange Zeit, aber immerhin, das Leben und Sterben in dem KL Auschwitz sich anschauen musste, das alles warf einen langen Schatten auf meine Kindheit und Jugend. Es wurde nicht viel darüber gesprochen, vor allem Vater, wie alle Überlebenden, sprach nicht, und wenn, dann nur auf mein aufdringliches Nachfragen. Jedoch mit der Zeit konnte ich mir ein Bild von dem machen, was in der Zeit der Okkupation geschehen war. Das Bild über das Leben v o r diesem Krieg war bei mir jedoch sehr schattenhaft und das Wissen darüber voller weißer Flecken. Der Krieg stellte eine Zäsur dar, die ich erst viel später fassen konnte in ihrer Bedeutung. Als Kind empfand ich die Vergangenheit, die Zeit vor dem Krieg, als eine längst vergangene Epoche, eine Zeit vor der Sintflut. Es gab überhaupt keine Kontinuität. Vor dem Krieg und nach dem Krieg – das waren – in diesem Land besonders – ganz andere Welten.
Erst allmählich hatte sich ein Bild des Landes aus der Vorkriegszeit vor meine Augen gestellt, am auffälligsten war die Konstatation: Es war bis zum Kriegsausbruch ein Staat mit vielen Nationen. Das stand im Kontrast dazu, was ich selbst in dem Land sah: Eine homogene Bevölkerung, beschnittene Grenzen, fremde Gebiete und eine für mich wahrgenommene, aber mit den Augen nicht gesehene, Leere. Was fehlte denn? Was geschah mit den Menschen, mit den Völkern, die jetzt nicht mehr da waren? Ich hörte, die deutsche Minderheit hat das Land mehr oder weniger freiwillig verlassen, einige blieben, man konnte jedoch nicht mehr über eine deutsche Minderheit sprechen. Die Ukrainer sind mit den östlichen Gebieten des früheren Polen der Sowjetunion einverleibt worden. Die Juden, das ganze Volk, dass im östlichen Polen seit Jahrhunderten gelebt hatte, war vernichtet, ermordet. Wie sich das genau zugetragen hatte, erfuhr ich erst in Laufe der Jahre, denn in der stalinistischen Zeit hatte man mit Gewalt historische Politik betrieben: Statistiken gefälscht, Tatsachen verschwiegen und verfremdete Narrative als die einzig wahren zum Glauben gegeben. Ich wusste nicht, wie wenig diese „Wahrheiten“ mit den Fakten zu tun hatten. Erst in der Zeit nach dem Jahr 1989 konnte man frei forschen und endlich die Geschichte erzählen.
Für mich persönlich, so wie für viele aus meiner Generation, bedeutete erst das Jahr 1968 einen Durchbruch. Im März dieses Jahres – das Thema behandele ich genauer in diesem Artikel – erlebte ich einen atavistischen Überfall der Kräfte, die gänzlich die alten Dämonen waren – Antisemitismus und Nationalismus: Plötzlich brach eine politisch organisierte, von den Machthabern angestrebte antisemitische, furiose Aktion vom Zaun. In Folge des Pogroms ohne Blutvergießen hatten etwa 20 000 Juden Polen verlassen. Diese Kampagne, obwohl sie gegen die Juden gerichtet war, die in der stalinistischen und der poststalinistischen Zeit hohe Stellungen im Partei- und Staatsapparat einnahmen, betraf allen voran assimilierte polnische Juden, die sich ergeben für das Wohl des Landes eingesetzt haben: Freiberufler, Wissenschaftler, Journalisten und – Studenten. Diese Aktion hatte dem Land großen Schaden zugefügt und das Ansehen des Landes im Westen, vor allem in den USA nachhaltig beschädigt. Obwohl diese vertriebenen Juden sich sehr schnell in den neuen Gastländern zurecht fanden und schnell integriert waren, blieben viele dem alten Land doch zugeneigt. Es verband sie doch so viel mit Polen! Ein nicht geringer Teil der „März-Emigranten“ hatten aus dem Ausland, angeschlossen an die Organisationen, die die Opposition in Polen unterstützt hatten, für die Freiheit von der Sowjetsystem gefochten.
Beim Fall des Kommunismus im Jahr 1989 lebten nur noch 5 000 bis 10 000 Juden im Land, von denen viele es vorzogen, ihre jüdische Herkunft zu verbergen.
Aber der Antisemitismus ist nicht ausgestorben. Sogar das Museum ist manchem Antisemit ein Dorn im Auge.
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Das Museum der polnischen Juden – Polin – wurde feierlich im Oktober 2014 eröffnet. Es ist auf dem Gebiet des ehemaligen jüdischen Viertels und des späteren Ghettos platziert. Es ist für wechselnde Ausstellungen und eine ständige Ausstellung über die Geschichte der polnischen Juden vom Mittelalter bis heute konzipiert. Es bildet die größte kulturelle Investition in Warszawa. Ich meine auch, die beste. Aber auch die traurigste. Es füllt die Leere nicht.
Anmerkungen:
1 Polin (hebr. פולין) – Name Polens (gespr. pojln). Museum der Juden in Polen – das Museum befindet sich im Zentrum von Warschau, im Stadtteil Muranów. Es dokumentiert die Jahrhunderte dauernde Geschichte der Juden in Polen.
2 Die einzige jüdische Gemeinde in Deutschland ist in Frankfurt am Main geblieben.
3 „In den deutschsprachigen Staaten wurde die rechtliche Gleichstellung der Juden nicht in einem einmaligen staatlichen Hoheitsakt erreicht, sondern allmählich und in vielen Einzelschritten von 1797 bis 1918.“ – Wikipedia, Jüdische Emanzipation
4 Die Frankisten, aber auch Nichtfrankisten, die sich taufen ließen, hatten bei der Taufe neue Namen bekommen, meistens waren es Namen der Taufpaten, die somit diese Juden adoptiert haben, aber auch Namen, die künstlich gebildet wurden. Die Neophyten verstanden sich oft als dem Adelstand zugehörig.
5 Der polnische Staat entstand nach 120-jähriger Nichtexistenz erst im Jahr 1918, nach dem 1. Weltkrieg, im Zuge des Versailler Friedens.
6Jan Karski, eigentlich Jan Kozielewski, war ein polnischer Offizier und Kurier der Polnischen Heimatarmee. Der Jurist und Diplomat zählte zu den wichtigsten Zeugen des Holocaust.
Zygmunt Bauman: Alexander Sołżenicyn in der Zeit seiner Verbannung schlug seinen Landsleuten „einen Tag ohne Lüge“ vor; er meinte, es reicht ein Tag und das sowjetische System bricht zusammen. Ob er recht hatte, erfahren wir nie, die Vorstellung war aber nicht mehr absurd als das System, auf das sie sich bezog.
Diese Worte gelten für jedes totalitäre System, denn diese sind auf Lügen gebaut. Heute, als es schon möglich ist, die unvorstellbaren Verbrechen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts genau zu untersuchen – die Archive, die über Jahrzehnte…
geschlossen waren, stehen nun seit 20 Jahren zur Verfügung – heute, als die dritte Generation nach dem Geschehenen sich dieser Materie annimmt und Bücher erscheinen, die die Verbrechen und ihre Opfer nicht nur ziemlich genau aufzuzählen in der Lage sind, aber diese Menschen auf dem letzten Weg, kurz vor ihrem Tod noch einmal wie lebendig erscheinen lassen, diese Bücher sind dick und schwer. Die Bilder, die bei der Lektüre entstehen, sie reißen den Leser in die Abgründe. Es stellt sich die Frage, wo der erste Anfang, der Ursprung dieser Verbrechen war. Und vor allem: Wann war es möglich umzukehren? Und noch etwas: Wer hätte die Macht, die Umkehr zu bewirken?
„Eichmann in Jerusalem – Ein Bericht über die Banalität des Bösen“ – so Hannah Arendt. Sie zeigt, wie mühelos sich Menschen in furchtbarste Verbrechen verstricken, ihnen dabei sogar den Anschein des Guten geben können und diese Verbrechen auf einmal als ihre Lebensaufgabe betrachten und sie so erscheinen lassen. Mich aber interessiert hier, was der Urbeginn, was der aller erste Schritt auf diesem Weg ist, auf dem die Umkehr nicht mehr ohne Anwendung großer Gegengewalt möglich ist.
Was ist also die erste Station auf dem Weg bis hin zum Massenmord?
Eines ist klar, am Ende dieses Weges sind Menschen, die wie Roboter andere Menschen töten – wie Roboter, weil sie nicht mehr imstande sind, ihr aller Menschlichstes, das Gewissen, sprechen zu lassen. Und Massengräber krönen das Werk.
Wie war es also möglich, damals, vor 70 und 90 Jahren in Osteuropa? Und, nicht weniger wichtig zu fragen: Kann es heute oder morgen wieder möglich sein?
Die ganze Zivilisationsgeschichte gibt Zeugnis dafür, dass der Mensch vor sich selbst, vor seiner eigenen Natur geschützt werden muss. Mit Gesetz. Im Anbeginn der Zivilisation ist Moses, der der Menschheit etwas schenkt, was er vorgibt, von Gott bekommen zu haben, die Zehn Gebote. Sie werden im Verlauf der Jahrtausende, durch die ganze Geschichte der Zivilisation hindurch in jedwede Morallehre und jedwede Gesetzgebung eingehen. Diese zehn Gebote kommen an den Menschen scheinbar von Außen heran, in Wirklichkeit sind sie jedoch tief in der menschlichen Seele eingeschrieben. Die biblische Erzählung spricht eigentlich nur vom Bewusstwerden der ordnenden Kraft dieser Ge- und Verbote im zusammenleben mit anderen Menschen und im individuellen – von der Gewissensbildung.
Was ist das aber für eine Kraft, die im Menschen das Gewissen ausschaltet und im Rechtsleben einer Gesellschaft die Regel so verändert, dass die einer Menschenseele immanenten Gebote sich in ihr Gegenteil umkehren? Was passiert da? Ein alter Topos zeigt die menschliche Seele als Schauplatz eines ewigen Kampfes. Man sagt, es ist der Kampf zwischen entgegengesetzten Kräften, zwischen Leben und Tod, zwischen Gut und Böse. Was muss aber passieren, dass das Gute im Menschen verliert und das Böse gewinnt?
Was markiert eigentlich den Beginn? Wann begibt sich der Mensch auf die abschüssige Bahn?
Festzustellen ist, dass am Anfang auf die im Menschen im Verborgenen stark wirkenden Kräfte – Neid und Hass, Gier und Hochmut – stets eine Lüge trifft. Lüge – die selten als solche erkannt wird – verwandelt Neid und Hass und Gier in dämonische Kräfte. Das alles klingt naiv und passt scheinbar in unsere aufgeklärte Welt nicht mehr. Es ist aber nicht naiv und es wäre gut, fände diese Sprache zurück in unser Bewusstsein – nicht nur als Metapher.
Anna Achmatowa: »Ich wollte sie alle mit Namen nennen, Doch man nahm mir die Liste, wer kennt sie noch?«
Die neuere Geschichte des alten Europas ist eigentlich eine Geschichte der Eroberungen. Als es im Okzident zu eng wird, machen sich mutige und abenteuerfreudige Menschen auf den Weg, um weit von der europäischen Zivilisation entfernte Länder zu erkunden und zu erobern – und dabei neue Quellen des erhofften Reichtums zu erschließen. Schiffe der englischen und der spanischen, der französischen, portugiesischen und der niederländischen Flotte fahren hinaus, um für ihre Könige die Schätze der Welt zu erobern. In noch früheren Jahrhunderten waren es die Händler, die die begehrten Waren von entfernten Ländern brachten, ab jetzt geht es aber darum, diese nicht mehr zu kaufen, sondern die Rechte für die Exploration der Natur- und Kulturschätze für sich zu sichern. Gerne unter dem Vorwand, den christlichen Glauben verbreiten zu wollen oder neue Freiheit für sich selbst zu finden. Beides legitime Motive, deren Verwirklichung jedoch stets das Leben der Einheimischen kostet. Trotz dieser Tatsache wird der Welteroberung, der Kolonisation ganzer Länder und Kontinente ein Anschein des zivilisatorischen Wirkens gegeben.
Im 19. Jahrhundert versucht Deutschland auf dem Gebiet der kolonialen Eroberungen zwar mit den westeuropäischen Ländern Schritt zu halten. Die deutschen Eroberungen in Afrika sind jedoch ineffizient, wenn auch blutig und grausam; auf den entfernten Kontinenten sind die anderen westlichen Eroberer erfolgreicher. Für Deutschland ist es aber nicht Afrika, nicht Asien, sondern der Osten Europas das wahre Ziel und die Stoßrichtung der Eroberungen, des angestrebten Machtzuwachses. Wenn in früheren Jahrhunderten eine friedliche Besiedelung fremder Gebiete möglich ist und deutsche Siedler gen Osten ziehen, um die nach den Tatareneinfällen entvölkerten Gebiete in Besitz zu nehmen, oder den jungen polnischen Städten das Handwerk zu bringen, so ist es etwa seit dem 18. Jahrhundert, als Friedrich der Große sich anschickte, zusammen mit dem Zar und der ihnen zur Hilfe eilenden Maria Theresia das große traditionsreiche Königtum Polen sich einzuverleiben, ganz anders. Jetzt geht es darum, große Gebiete samt der Einwohner zu besetzen. Dem eigenen Volk, dem man doch Sinn für Gerechtigkeit unterstellt, muss man das offensichtliche Unrecht erklären und letztendlich schmackhaft machen. Und wie geht es am besten? Mit Lüge doch, mit Propaganda. Und mit Gewinnversprechen.
Friedrich II. begründet die Einverleibung großer Gebiete Polens mit der angeblichen Unfähigkeit der Polen, einen eigenen Staat zu bilden, ihn zu verwalten und letztendlich zu erhalten. Trotz der zu dieser Zeit im Königreich Polen laufender großer Reformanstrengung, trotz des ersten modernen Grundgesetzes in Europa unterliegt dieser Staat der militärischen Macht der drei Anrainerstaaten, die übrigens in Gegensatz zu Polen allesamt absolutistische Monarchien sind. In Laufe der Zeit, mit dem wachsenden Nationalismus, erklärt man die eigene Macht- und Geldgier mit der Behauptung, die Deutschen als Kulturträger hätten im Osten Europas eine Zivilisatorische Mission zu erfüllen. Wie wohlklingend diese Lüge.
Die aus deutschen Landen in das Gebiet des Königtums Polen eingewanderten Kolonisten der früheren Jahrhunderte verschmelzen bis auf ihre Namen – diese überdauern einzig die Zeit – mit der alt eingesessenen Bevölkerung. Die Assimilation ist so gut wie vollständig, die Deutschen werden vielmals zu glühenden polnischen Patrioten. Diese friedliche Einwanderung, die in Assimilation mündet, nimmt zur Zeit der Teilungen ein Ende. Jedoch bis zum Vormärz ist auf dem deutschen Gebiet keine ideologische, geschweige denn rassistische Einstellung zu den östlichen Nachbaren anzutreffen. Erst als sich die Nationalversammlung in der Pauluskirche im Namen des Nationalinteresses entscheidet, die Einverleibung der polnischen Gebiete festzuschreiben, findet ein Paradigmenwechsel statt – aus einer demokratischen Bewegung wird eine konservative und imperiale. Und durch diese Entwicklung wird die deutsche Ostpolitik des nächsten Jahrhunderts impliziert.
Aufgrund einer massiven Propaganda wandelt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Bewusstsein der Deutschen im Bezug auf die Kolonisierung der Ostgebiete und zwar im Sinne des nationalenHochmutes und des Chauvinismus: Die ab 1871 militärisch durchgesetzte Unterdrückung und Germanisierung der östlichen Gebiete wird legitimiert durch die geglaubte Kulturlosigkeit der Polen und eine – tatsächliche – Rückständigkeit des Landes. Es gipfelt in dem Versuch, den Polen die Fähigkeit zu historischer Existenz als Nation abzusprechen, was seinen Ausdruck im Kulturkampf fand, im Kulturkampf, der sich im Westen als Konflikt zwischen dem Staat und der katholischen Kirche äußert, im Osten jedoch einen antipolnischen Charakter besitzt. So werden die Polen zu Bürgern zweiter Klasse, die Landbesitzer werden enteignet, die Landbevölkerung durch neue Ansiedlung aus dem Westen, zurückgedrängt. Schriftsteller wie Gustav Freytag, Heinrich von Treitschke oder Max Weber bringen ihre Verachtung und ihr Hass auf die Polen in ihren viel vom deutschen Bürgertum gelesenen literarischen Werken zum Ausdruck. Der lügnerische Stereotyp, die Deutschen seien in Osteuropa die „Kulturträger“ hat sich über fast zwei Jahrhunderte in der deutschen Mentalität so tief festgesetzt, dass er noch heute öfters als erwartet in einem Gespräch zum Vorschein kommen kann.
Ein anderes Bild ergibt in dieser Zeit eine diffuse Angst vor dem russischen Volk, Angst, die von Bewunderung auf der einen Seite und Hass auf der anderen begleitet wird. Diese Ambivalenz ist ein Zeichen der gegenseitigen Anziehungskraft der beiden Völker. Seit der Öffnung des östlichen Landes während der Herrschaft von Zar Peter dem Großen spielen die westlichen Eliten eine große Rolle bei der Modernisierung des Landes. Der Kampf gegen Napoleon verbindet das russische und das deutsche Volk, in der Volkstradition der deutschen Landen hingegen bleiben Russen eine grausame, menschenfeindliche, wilde Masse. Dieses enthumanisierte Bild bleibt beherrschend auch in der Zeit des Nationalsozialismus und des 2. Weltkrieges.
In der ersten Hälfte de 20. Jahrhunderts nimmt der alles beherrschende Hass gegen die Polen und gegen den nach dem Versailler Frieden entstandenen polnischen Staat – und auch der Hass gegen die Russen – bisweilen infernale Züge, es wird klar, dass es über kurz oder lang zur einer Katastrophe kommen muss. Die schiefe Ebene, die vom Leben weg führt zum Tod, gibt keine Gelegenheit mehr zur Umkehr.
Zurück in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts: Eine andere Migrationsbewegung findet statt: Aus dem zaristischen Russland, in erster Linie aus Litauen und Weißrussland und aus der habsburgischen Monarchie, aus Galizien und Ukraine, ziehen nach Deutschland, allen voran nach Berlin, die Juden. Gebildet und bildungshungrig wie sie sind, finden sie erstaunlich schnell Anschluss an das wirtschaftliche und kulturelle Leben Deutschlands. Die Tatsache, dass sie in der ersten, spätestens in der zweiten Generation, viele wichtige Stellen im Staat und Gesellschaft einnehmen, wird ihnen schnell zum Verhängnis: Der zuerst im Verborgenen wirkende Neid und der um sich greifende Hass werden durch den 1. Weltkrieg und die nachfolgenden wirtschaftlichen Krisen weiter gesteigert, die Propaganda, ein Gebäude aus ungerechtfertigten Schuldzuweisungen, Lügen und Halbwahrheiten verfällt nicht ihre Wirkung. Und endet im Völkermord.
Infolge Hitlers Wahnvorstellungen von einem Lebensraum, den man auf Kosten von zig Millionen Menschenleben beabsichtigt zu erobern, kommt es erneut zum Krieg. Außer der unter Vertreibung und Aushungerung erfolgten Eroberung der osteuropäischen Gebiete, ist die Lösung der „jüdischen Frage“ das weitere Ziel dieses Krieges. Als sich herausstellt, dass es nicht gelingen wird, 30 Millionen vor allem Russen und Weißrussen verhungern zu lassen, dass also das wichtigste Ziel des Krieges, den Lebensraum für die Deutschen zu erobern, nicht erreicht werden kann, wendet sich die Kriegsmaschinerie ihrem zweiten Ziel, der „Judenfrage“ zu. Und die Utopie, Europa ohne Juden zu schaffen, wird durch die Vernichtung eines Volkes erreicht, das seit Jahrhunderten vor allem in den Gebieten von Ostpolen, Litauen, Weißrussland und der Ukraine lebt.
Die Lüge, mit der das deutsche Volk seit zwei Jahrhunderten genährt wird, wirkt so mächtig, dass sie aus Menschen gemeine Mörder macht, Mörder, denen man es beigebracht hat, Verständnis für Gut und Böse umzukehren. Die Befriedigung von Gier ist in dieser Zeit die zweite Säule des Erfolgs von Hitlers Staat. „Gestützt auf glänzend ausgebildete Experten, transformierte die Regierung Hitler den Staat im Großen in eine Raubmaschinerie ohnegleichen. Im Kleinen verwandelte sie die Masse der Deutschen in eine gedankenlose, mit sich selbst beschäftigte Horde von Vorteilsnehmern und Bestochenen. Diese Politik des gemeinnützigen Ausraubens fremder Länder, so genannter minderwertiger Rassen und Zwangsarbeiter, bildet den empirischen Kern meiner Studie“, schreibt Götz Aly während der Debatte, die er mit seinem Buch „Hitlers Volksstaat“1 entfacht hat.
Dieses „man darf es“ – morden und rauben – erstreckt sich selbst auf die vom Hitler unterjochten Völker. Zwar ist der Hass auf Juden auch in Osteuropa seit dem 19. Jahrhundert lebendig, gern durch die katholische Kirche unterstützt, jedoch das absolute Aushebeln aller moralischen und rechtlichen Regeln geht auf die verhältnismässig kurze Zeit der Nazi-Herrschaft in Europa zurück. Als der uralte Hass auf Juden auf Ansporn und generelle Billigung durch die Okkupationsmacht trifft, erlebt Osteuropa eine beispiellose Orgie von Mord und Raub: Es morden und plündern nicht nur die berüchtigten deutschen Einsatzgruppen, sie finden willige Helfer bei vielen polnischen Bauern, die sich gern des jüdischen Eigentums bemächtigen und es geht hin bis zum späteren jahrelangen durchwühlen der Erde in den früheren Vernichtungsstätten von Treblinka, Bełżec, Sobibór. Auch die von den Deutschen entsprechend geschulten Mordhelfer kommen aus der Ukraine, aus Litauen, um hier nur die Schaulissen2, die litauischen SS-Männer, zu erwähnen, die sich durch besondere Grausamkeit hervortun, die mit der schon dem Untergang geweihten Armee gen Westen gehen, mordend und mordend.
Das sind die Hauptthemen der Bücher von Tymothy Snyder und Götz Aly. Sie sind der Beginn einer Anstrengung, nach 65 Jahren seit dem Beenden des Krieges, viele bis dahin unbekannten und nicht ausgewerteten Quellendokumente der Nachwelt zu erschließen. Diese Auswertungen sind für den Leser erschütternd. Sie müssten für die heutige und zukünftige Welt eine tief wirkende Mahnung sein. Das ist der Wunsch, wie ist aber die Wirklichkeit? Eine wichtige Frage ist dabei: Werden die Erkenntnisse überhaupt aufgenommen und wenn ja, werden sie nicht sogleich verdrängt?
Die Erfahrungen der Nazizeit und des Krieges sind so schrecklich, dass die Vorstellung, eine Lehre muss daraus gezogen worden sein, nicht abwegig ist. Es verhält sich aber nicht überall so. Erschreckend ist, dass heute in Deutschland wieder – und das verdanken wir der unaufhörlichen Arbeit der Chefin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach – die alten Lügen und neue hinzu verbreitet werden. In einer aktuell durch das Hessische Sozialministerium verbreiteten Schrift zum Thema Vertreibungen, aus der Feder von Alfred de Zayas, werden folgende Thesen verbreitet:
– Als Ursache für die „größte Vertreibung der Geschichte“ wird u.a. „der dynamische slawische Nationalismus des 19. Jahrhunderts“ genannt.
– Der Zweite Weltkrieg sei „zwar der Anlass, nicht aber die Ursache“ des schrecklichen Schicksals der Heimatvertriebenen.
– Die Mehrheit der Deutschen habe bis 1945 vom Holocaust nichts gewusst.
– Die Vertreibungen hätten den Charakter des Völkermordes.
– „Die Vorstellung, vollgezogene Vertreibungen seien unumkehrbar, ist weit verbreitet, aber nicht zutreffend.“
– Die Flüchtlinge und Vertriebenen hätten nicht nur Anspruch auf Rehabilitierung und Wiedergutmachung, sondern „ein Recht auf Rückkehr und Eigentumsrückgabe“.
Bei der Lektüre dieser Schrift vergeht einem der Glaube daran, dass aus der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges dauerhaft Lehren gezogen werden. Verbreitet werden weiter Lügen.
Wenn es aber in der westlichen Welt im Großen und Ganzen so zu sein scheint, als hätte der Mensch aus dem Geschehenen gelernt, scheint der Hass auf die Juden und ihren Staat in der arabischen Welt an Boden zu gewinnen. Der Vernichtungswille der Nazis wird von vielen Muslimen übernommen – und weiter entwickelt. Diese Tradition reicht in die Zeit des Mufti von Jerusalem (Muḥammad Amīn al-Ḥusainī)3, lebt aber seit der Gründung des jüdischen Staates ein neues Leben. Kurz gesagt: Die arabischen Völker werden, zusätzlich zu dem ursprünglichen muslimischen Antisemitismus, unentwegt mit der alten europäischen Lügen gespeist – Lügen, deren Wirkung ganz und gar bekannt ist aus Europa –, um den Hass lebendig zu erhalten und die Menschen für eine Vernichtung des jüdischen Volkes zu präparieren. „Protokolle der Weisen von Zion“4 werden in neuen Auflagen herausgegeben, sie werden verfilmt. Seriöse arabische Zeitungen bitten eine Plattform für die Thesen aus den „Protokollen…“ und diese Tatsache wird kaum beachtet. Was psychologisch bedeutet, diese Thesen finden beim Leser Eingang – ob bewusst, oder unbewusst – und werden durch nichts abgewehrt.
Der arabische Antisemitismus ist im Nahen und Mittleren Osten weit verbreitet, diese Tatsache findet erstaunlicher Weise nicht genügend Beachtung in der europäischen Öffentlichkeit.
Mahmud Ahmadinedschad, der iranische Präsident, bringt den muslimischen Antisemitismus auf den Punkt: Mit seinen aggressiven anti-israelischen Äußerungen und den Aufrufen zum bewaffneten Kampf gegen Israel erregt er Aufsehen in der ganzen Welt. Die Gefahr, die aus der Tatsache, dass Iran Atomwaffen anstrebt, resultiert, wird wahrgenommen, die Welt hat jedoch – außer Sanktionen – keine Antwort darauf. Die Sanktionen sind völlig unzureichend, das Atom-Programm wird weiter verfolgt. Zwar ist es kein Geheimnis, dass das vermehrte Aufrüsten im Iran allen voran der Stärkung der Position in der umliegenden arabischen Welt dient, die Gefahr für Israel ist dadurch jedoch nicht geringer. Die unter Palästinenser wirkenden, mit Iran verbündeten und von ihm abhängigen Kräfte stellen eine unmittelbare Gefahr für den Staat Israel dar. Israel das Existenzrecht abzusprechen, kann um so leichter Realität werden, da Ahmadinedschad sich seit Jahren in Vernichtungsvorhersagen ergeht. Ein Gipfel der anti-israelischen und damit auch der anti-jüdischer Propaganda erreicht er mit Veranstaltungen, die an die breite internationale Öffentlichkeit – bei den Vereinten Nationen oder bei den berüchtigten Konferenzen vom 2005: „Eine Welt ohne Zionismus“ und der Holocaustleugnungs-Konferenz (International Conference on «Review of the Holocaust: Global Vision») im Jahr 2006, gerichtet werden, in denen diverse Verschwörungstheorien ausgebreitet werden und vor allem der Holocaust geleugnet wird.
„Der Holocaust sei als Mythos instrumentalisiert worden, um einen Judenstaat in der islamischen Welt zu gründen.“ In einem Spiegel-Interview im Jahr 2006 äußerte Ahmadinedschad, wenn es den Holocaust gegeben hätte, seien die Europäer und Amerikaner für die Verbrechen an den Juden verantwortlich und ein jüdischer Staat hätte auf ihrem Boden errichtet werden müssen. Das deutsche Volk trage heute jedoch keine Schuld mehr und müsse erkennen, dass es eine „Geisel des Zionismus“ sei. Der Politikwissenschaftler Hubert Kleinert bezeichnete das Interview als beispiellos: „Ein leibhaftiger iranischer Staatspräsident, nicht irgendein Neonazi oder obskurer Außenseiter der historischen Forschung, verbreitet sich per Interview seitenweise über die angebliche Ungeklärheit des Holocaust. Ganz unverhohlen werden dabei auf ebenso schlichte und törichte wie zugleich erschreckende Weise die zentralen Argumentationsfiguren wiederholt, die hierzulande für gewöhnlich zu Haftbefehlen und Verurteilungen führen, wenn sie in der rechtsextremen Szene öffentlich geäußert werden: danach sei die Holocaust-These in erster Linie ‚politisch motiviert‘, andere Auffassungen und ‚Wissenschaftler‘ würden unterdrückt, verfolgt und ins Gefängnis gesteckt.“ (Wikipedia)
Die wahren Gründe für das Phänomen des arabischen Antisemitismus sind unterdessen die weit verbreitete Wahrnehmung der Muslime, sie seien ohnmächtige Opfer irgendwelcher global agierender Kräfte. Sowohl die Kolonialgeschichte als auch die Gründung des Staates Israel dienen als Bestätigung der These, die fremden Mächte wollen die arabische Welt schwächen und in der Konsequenz beherrschen. Wie auch in Europa früher lenkt heute der arabische Antisemitismus von den tatsächlichen Problemen der Region ab. Auf der Grundlage der dem Menschengeschlecht innewohnenden Neid und Hass gedeihen bestens der arabische Antisemitismus und Antizionismus, beide im Grunde immer auf starken Minderwertigkeitskomplexen basierend.
Neu ist, dass sowohl in der arabischen Welt als auch in Europa des Öfteren Zionismus mit Nazismus gleichgesetzt wird.
Der Kreis schliesst sich.
Umkehren auf diesem Weg zum Verbrechen hin war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesichts des auf Lügen gebauten Systems nicht mehr möglich. Der lange Marsch musste in einer Katastrophe enden. Das gilt für alle totalitären Systeme und muss auch heute beachtet werden.
Am Anfang habe ich die Frage gestellt, ob sich die Geschichte der Vernichtung einer Menschengruppe oder eines Volkes in Europa wiederholen kann. Die gleiche Frage wird vom Timothy Snyder5 gestellt und bejaht, auch Götz Aly ist im Bezug auf diese Frage pessimistisch: „Ein Ereignis, das dem Holocaust der Struktur nach ähnlich ist, kann sich wiederholen. Wer solche Gefahren mindern will, sollte die komplexen menschlichen Voraussetzungen betrachten und nicht glauben, die Antisemiten von gestern seien gänzlich andere Menschen gewesen als die Heutigen.“6
1 Götz Aly: „Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus“, S. Fischer, Frankfurt am Main, 2005
2 Schaulissen (lit. šaulys – Schütze) Zum Zeitpunkt des Rückzugs russischer Armee im Jahr 1941 beteiligten sie sich an einem antisovietischen Aufstand, der sich auch in Morden an Juden geäußert hat. Litausche Hilfspolizei hat sich verdient gemacht bei der Jagd nach den sich versteckenden Juden, die dann zu den Exekutionsstätten transportiert wurden.
3 Amin el-Husseini (ca. 1895-1974), der Mufti von Jerusalem, war zu seiner Zeit die höchste religiöse wie auch politische Autorität der Palästinenser. In den 30er und 40er Jahren kollaborierte er offen mit den Nationalsozialisten, 1941-1945 lebte er in Berlin. Sein nationaler Extremismus, sein offener Antisemitismus und sein Bündnis mit dem Faschismus diskreditiert die Sache der Palästinenser bis heute.
4 Trotz mehrfach erbrachter Beweise, dass es sich bei den Protokollen um eine Fälschung handelt, glauben noch heute Antisemiten und Anhänger von Verschwörungstheorien in der ganzen Welt an ihre Authentizität oder Wahrheit. Wer der Verfasser ist, ist nicht gesichert. Weit verbreitet ist die Ansicht, dass sie in den Kreisen der zaristischen Geheimpolizei Ochrana zu suchen sind. (Wikipedia)
5 Timothy Snyder: „Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin“, C. H. Beck, München, 2011
6 Götz Aly: „Warum die Deutschen? Warum die Juden?“, letzte Seite, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011.
Die drei größten Ritterorden – der Templerorden, etwa 70 Jahre früher als der Deutsche Ritterorden, Ordo Teutonicus, gegründet, und der jüngere Johanniterorden spielen eine außergewöhnlich große Rolle in Europa in der Zeit nach den Kreuzzügen, also im Hochmittelalter. Der Deutsche Orden, eine geistliche Ordensgemeinschaft, geht aus einem im Jahr 1190 im Heiligen Land gegründetem Hospital hervor.
Alle drei, jedoch auf unterschiedliche Weise, bereiten den Weg für die Weiterentwicklung der modernen Staatenorganisation und ihrer wichtigen Institutionen. Das historische Novum der Ritterorden ist die Verbindung des adligen Rittertums mit dem Mönchtum, was wichtige Ursachen in den mittelalterlichen Idealen und, unter andern, im europäischen Erbrecht hat und weitreichende Folgen haben wird, was in der Geschichte des Deutschen Ordens besonders deutlich zum Ausdruck kommt.
Die Kreuzzüge sind im Mittelalter der Organisationspunkt der sich neu formierenden europäischen Gesellschaft. Für die Verdienste in den Kriegen im Heiligen Land wird dem Rittertum Landbesitz geschenkt und verliehen. Diese Schenkungen und Lehen sind der Anfang großer Vermögen und bedeuten Machtzuwachs des Adels, der aus den Kreuzzügen generell gestärkt hervor geht. Durch die Neuverteilung des Reichtums und durch die Verfestigung einer modernen Staatenorganisation führen in der aufkommenden Zeit neue Impulse zu grundlegenden Veränderungen auf dem Kontinent. Die Kreuzzüge, die zwar stark religiös motiviert sind, verfolgen dessen ungeachtet wirtschaftliche und machtstrategische Ziele. Ganz am Anfang der neuen Entwicklung stehen im Jahr 1059 die Kämpfe gegen Sarazenen in Sizilien, 1063 gegen die Mauren in Spanien und 1066 die Eroberung Englands durch Wilhelm den Eroberer. In allen diesen und späteren Kriegszügen kämpfen die Ritter unter den geweihten Fahnen.
DerTemplerorden (ca. 1118 – 1312), dessen erster Quartier ein Flügel des Palastes von König Balduin, der heutigen Al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg gewesen ist – daher der Name –, hat die Aufgabe darin gefunden, die Straßen des Heiligen Landes für die christlichen Pilger zu sichern. Als Mönche legten sie das klassische, auf Armut, Keuschheit und Gehorsam bezogene Gelübde ab, als Ritter verpflichteten sich zudem, Geleit und Zuflucht der Pilger sicherzustellen. Mit der Armut ist es bald zu Ende, denn in Laufe der Zeit kommen zu den bestehenden, der Aufgabe im Heiligen Land angemessenen Besitzungen, bedeutende Landschenkungen in allen westeuropäischen Ländern hinzu. Die wachsende Macht und der sich abzeichnende Einfluss werden außerordentlich durch die 1139 verfasste wortgewaltige Schrift Bernhards von Clairvaux, „Lob der neuen Ritterschaft“ verfestigt. Darüber hinaus, im gleichen Jahr, wird der Orden dem Papst Innozenz II. direkt unterstellt, was dem Orden dazu verhilft, zum Staat im Staate zu werden und für weltliche Herrscher unantastbar zu sein. Der ursprünglichen Aufgabe gemäß widmeten sich die Templer weiterhin der Organisation und dem Schutz der Pilger, die zum Heiligen Land, aber auch auf dem Jakobsweg nach Compostella Jahr für Jahr aufbrechen. Eine Pilgerreise ist für den Christen, einen Ritter und Abenteurer von Bedeutung und wird trotz aller möglichen Risiken von vielen unternommen. Um ihr Vermögen für die Dauer der Pilgerfahrt nicht ohne Schutz zu lassen, geben die Reisenden dieses den Templern in Obhut. Fortan gehört diese Aufsicht zu genuinen Aufgaben der Templer. Es versteht sich von selbst, dass einiges von dem anvertrauten Vermögen durch den Tod der Pilger und Kreuzzügler verwaisen, und für immer in der Hand der Rittermönche bleiben wird. Dadurch, und zusätzlich durch ein einträgliches Geschäft mit Verleihen des Geldes gegen den Zins, der Orden in Laufe der 200 Jahre unermesslich reich werden wird. Darin jedoch liegt bereits der Keim des Todes, denn gerade dieses Reichtum – der sagenumwobene Schatz der Templer – nimmt dem gierigen und eifersüchtigen König Philippe le Bel jede Ruhe. Und es kommt, wie es kommen muss: Im Jahr 1309, beginnt Philippe die Macht des Ordens mit Intrigen und falschen Anschuldigungen zu unterminieren und am Ende gelingt es ihm mit Hilfe einer grausamen militärisch-polizeilichen Aktion die Macht der Templer zu brechen. Er erreicht sein Ziel, das unvorstellbare Vermögen des Ordens an sich zu reißen. Der Templer-Gold bleibt aber bis heute verborgen…
DieJohanniter, das soll nur kurz erwähnt werden, widmen sich dem Schutz, der Beherbergung und Pflege von Pilgern, Kranken und Armen. Obwohl in einer stark abgewandelter, an den neuen Zeitgeist angepassten Form, retten sie Diese Ziele bis in die heutige Zeit.
Der Orden der Deutschen Ritter wird als letzter der drei großen Orden im Heiligen Land 1190 – gestiftet von einem Bruder Heinrichs VI., Herzog Friedrich von Schwaben – gegründet, verlässt aber das Land als erster wieder, um neue Aufgabenfelder zu suchen. Dieser Orden ist nach dem Vorbild vom Tempelorden errichtet. Anfänglich als Hospitalbruderschaft gegründet, entwickelt er sich zu einem Ritterorden. Anders jedoch als die Templer, die überall im westlichen Europa im Umkreis der Kriegswege ihre Besitzungen haben, bekommen bald die Deutschordensbrüder die Möglichkeit, sich einen territorialen Herrschaftsbereich zu sichern – in Preußen. Dort gründen sie einen überaus modernen, perfekt organisierten und perfekt funktionierenden Staat.
Noch im Heiligen Land zieht es den vierten Großmeister des Ordens, Hermann von Salza, nach Süditalien, wo der Hohenstaufenkaiser, Friedrich II., der modernste Herrscher dieser Zeit, kaiserlichen Hof hält.
Der sizilisch-unteritalienische Staat ist in dieser Zeit der erste moderne Staat des Abendlandes. Seine Wurzel hat er zum gleichen Teil in dem sarazenisch-arabischen- und in dem normannischen Element, die sich in diesem Staat verbinden und gegenseitig verfestigen. Folgendes ist dazu bei dem Politik- und Rechtswissenschaftler, Richard Schmidt, zu lesen: „In Hofgericht, Justitiarien, und Amtsleuten wurde Justiz und Polizei unter gänzlichem Ausschluss der feudalen Grundherren zusammengefasst, die Finanzverwaltung durch Grund- und Kopfsteuer, Monopole, Zölle und Eigenhandel des Kaisers aufs Äußerste angespannt, das Lehnsaufgebot durch eine große sarazenische und deutsche Leibwache in Schach gehalten, Handel, gewerbliches Zunftwesen, Universitätsstudium durch strenge Regulative polizeistaatlich gebunden, der letzte Rest der mittelalterlichen Verfassungsschranken der Krone völlig abgetötet … Es war die energievollste Staatsschöpfung des Mittelalters.“
Diese neue Staatenorganisation bedeutet jedoch den Bruch mit der Idee des weltumspannenden Reiches, der Idee des Universalismus. Jahrzehnte später spricht noch Dante Alighieri in seiner „Monarchie“ von Absichten Gottes, eine Weltmonarchie, ohne Nationen und Grenzen, entstehen zu lassen, Jahrhunderte später ist es Novalis, der die Idee, Europa sei mit Christenheit identisch, in der Zeit der Umbrüche in seiner 1799 gehaltenen Rede „Die Christenheit oder Europa. Ein Fragment“ zur Debatte stellt. Der Staat Friedrichs des II. bedeutet eine grundlegende Neuerung. Die Weltmonarchie, ein feudales Reich, Lehensstaat, existiert noch, die neue Formation – die Fürstentümer als Beamtenstaaten – entsteht zur gleichen Zeit. Diese beiden Formen der Machtorganisation existieren einige Zeit nebeneinander, wobei der Beamtenstaat nach dem Muster des unteritalienischen Staates der Hohenstaufer erst im Spätmittelalter und in der Renaissance zur Blüte kommt.
Von Salza bleibt lange am Hof von Friedrich II., lange genug, um notwendige Impulse aufzunehmen, die er bald in die Gestaltung eines anderen modernen Staates einfließen lässt. Dies wird zudem dadurch ermöglicht, dass dank Hermanns Unterstützung für die Kreuzfahrt Friedrichs (1228-1229), der Orden sich mittels ihm verliehener Privilegien von bis dahin bestehenden Verpflichtungen befreien kann.
Es bestehen von Anfang an enge Beziehungen zwischen den Deutschrittern und den Hohenstaufen. Ein Geschichtsschreiber nennt den Orden geradezu die „Lieblinge Friedrichs II.“ und Friedrich ist es auch, der dem Hochmeister des Ordens, Hermann von Salza, das recht verleiht, auf seiner Hochmeisterordensfahne und auf seinem Schild den Reichsadler zu führen, den schwarzen Adler des alten deutschen Reiches auf goldenem Grund. Gestiftet ist der Deutschritterorden zu Ehren der Jungfrau Maria, die Brüder tragen ein weißes Ritterkleid mit dem schwarzen Kreuz und führen als Wappen ebenso das schwarze Kreuz auf weißen Schild.
Mittelalter ist entgegen der in späteren Jahrhunderten allgemeinen Betrachtungsweise eine Zeit, in der Kommunikation und Austausch zwischen den Herrscherhäusern rege ist und sowohl die bedeutenden Errungenschaften der Wissenschaft als auch die philosophischen und literarischen Werke so schnell wie eben möglich auch in die entlegensten Winkel der damaligen Welt gelangen, wenn auch mit einer verständlichen Verzögerung. Der Mensch ist zu jeder Zeit ein neugieriges, an allem interessiertes Wesen, und lebt vom Austausch. So ist auch nicht verwunderlich, dass die Ordensritter, selbst meistens jüngere Söhne der Adelsfamilien, für die es wegen des Erbrechts günstiger war, eine gute Position in einem Orden als in den weltlichen Zusammenhängen, wo der Platz schon die ältesten Söhne dieser Familien eingenommen haben, zu erlangen. Es finden also oft Reisen quer durch Europa statt und die Fäden, die den Orden mit der Literatur, den Minnesänger, und auch der mystischen Strömung verknüpfen, sind fest. „Es sind die selben Familien“, schreibt ein Forscher, „aus denen Dichter und hohe Ordensmitglieder hervorgehen.“
Im Deutschritterorden lebt ursprünglich – ich unterstreiche: ursprünglich – der Kreuzzugsimpuls. Das Ideal der Kreuzritter war: „…das Ritterlich-Kriegerische in den Dienst des Menschen zu stellen, von dem sie angenommen haben, sein Streben ist christlich-spirituell. Wenn man sagt, das Streben der Templer ist vorzugsweise der Kampf gegen die Ungläubigen, die Johanniter widmen sich in erster Linie der Krankenpflege, so gelingt dem Deutschritterorden bis zum gewissen Grad und für bestimmte Zeit beides, oder besser gesagt – eine Synthese von beiden. Also: Kampf und Heilen sollten ihnen obliegen – Dienst an Mars und Merkur“, schreibt Karl Heyer.
Der erste Versuch (1211-1225) einer Staatenbildung, in Siebenbürgen, scheitert. Die Ritterbrüderschaft kann sich nicht gegen die heidnischen Kumanen durchsetzen, die Christianisierung des Volkes gelingt nicht. Eine Schicksalswende für den Orden bedeutet – im Jahr 1226 – der Ruf eines polnischen Herzogs, Konrad von Masowien, der sich eine Hilfestellung von der Ritterschaft erhofft. Hilfestellung im Kampf gegen die im baltischen Raum, also im Grenzgebiet zu Masowien, lebenden Pruzzen und andere heidnische Völker, die die südlichen Gebiete seines Landes unablässig überfallen. Konrad erhofft sich zudem, dem geistlichen Orden gelingt die Christianisierung dieser Völker. Diesmal dauern die Verhandlungen zwischen dem Großmeister und Konrad lange, denn Hermann von Salza will die Geburtsfehler der Staatsgründung in Siebenbürgen nicht wiederholen und verlangt von Konrad feste Verträge und ein bestimmtes Gebiet als notwendige Basis, um die Mission zu erfüllen. Im Jahr 1230 bringt von Salza die Verhandlungen mit Konrad zum glücklichen Abschuss.
Friedrich II. als „Oberlehnsherr aller heidnischen Länder“, aus dem universalchristlichen Impuls des hohenstaufischen Kaisertums handelnd, belehnt den Orden mit „allen in Zukunft zu erobernden Ländern“: In der „Goldenen Bulle“ von Rimini wird also dem Orden das Privileg erteilt, einen eigenen Staat in dem zu erobernden und zu christianisierenden Land zu errichten und dem Hochmeister des Ordens der Status eines Reichsfürsten zuerkannt. Konrad seinerseits überträgt den Deutschen Herren im Vertrag von Kruschwitz – in Form einer Schenkung also zum freien Besitz und nicht als Lehen – das Kulmer Land, das am rechten Ufer der Weichsel zwischen Graudenz und Thorn liegt.
Für den Orden ist das ein überaus günstiger Abschluss der Verhandlungen, für Konrad markiert dieser die Geburt eines Konflikts zwischen ihm und dem Orden, denn es lag eigentlich nicht in seiner Absicht, die Hoheit über dieses Gebiet an andere zu übertragen. Jedoch durch seine Niederlagen im Kampf mit den heidnischen Völkern aus der Region um das Baltische Meer und in Angesichts der Tatsache, dass der von ihm gegründete Ritterorden, die Brüder von Dobrin, sein eigenes Land Masowien nicht in der Lage gewesen sind vor den heidnischen Pruzzen zu verteidigen, steht Konrad mit dem Rücken zur Wand und sieht sich gezwungen, die Bedingungen des Hochmeisters und vor allem die vom Kaiser Friedrich II., anzunehmen. Dieser in dem Moment geborene Konflikt wird lange Zeit schwellen, bis er fast 200 Jahre später, unter dem Hochmeister, Ulrich von Jungingen, zum Ausbruch der Kriegshandlungen führen wird und gewaltsam ausgetragen wird.
Hermann von Salza selbst kommt nie nach Preußen. Sein Sitz befindet sich seit dem Abzug aus dem Heiligen Land in Venedig. Die immensen Aufgaben der Eroberung des Landes im nördlichen Osteuropa, der Kämpfe mit den heidnischen Völkern und die Organization des Landes beginnen unter der Führung des Landmeiters Hermann Balk. Die Missionierung der Pruzzen und der anderen Nachbarvölker wird vom Kaiser, vom Papst, nicht zuletzt von den Rittern selbst als eine Fortsetzung des Glaubenskrieges in Palästina aufgefasst, als ein neuer Kreuzzug. Die Christianisierung dieser Gebiete schreitet voran, so dass bald der Papst sich veranlasst fühlt, den zukünftigen Ordensstaat schon im Jahr 1234 in der Bulle von Rieti unter seine Herrschaft zu stellen. Damit wird das Land endgültig dem Zugriff der christlichen Nachbarn entzogen.
Die Kreuzritter erbauen in dem Gebiet eine Kette von Burgen, von denen viele bis heute stehen. Von hier unterwerfen sie zusammen mit der Ritterschaft aus Polen und anderen christlichen, meist westlichen Ländern, mit Gewalt, mit Feuer und Schwert das Land der Pruzzen. 35 Jahre leisten Pruzzen dem Deutsch Ritterorden hartnäckig den Widerstand! Erst dann gelingt es, das Land zu unterwerfen und zu kolonisieren. Also schon 1283 befindet sich das Land der Pruzzen in der Hand des Ordens. In der Folgezeit findet eine intensive Kolonisierung der bis dahin heidnischen Gebiete, die durch die gewaltsame Eroberung zum großen Teil entvölkert werden, statt. In den Osten ziehen Menschen aus Westeuropa. 1237 vereinigt sich der Deutschritterorden mit dem livländischen Orden der Schwertbrüder und wird somit zusätzlich zum Herren von Livland und Kurland. Der Orden ist in dem Staat die führende Schicht, die sowohl im Materiellen als auch im Geistigen vollkommen autark lebt. 150 weitere Jahre kämpft er mit den Litauern einen harten Kampf um das zwischen dem baltischen Schwertbrüder-Besitz und Preußen liegende Land Schamaiten.
Trotz Rauheit und Gewaltsamkeit ihres Vorgehens in Preußen und den anderen Gebieten, trotz der mörderischen Kämpfe behalten diese Ritter ganz stark das Bewusstsein – was heute schwer zu verstehen ist – im Dienste ihrer Schutzpatronin, Mutter Gottes, zu wirken. Das ist im Geist der Zeit.
Auf den eroberten Gebieten werden nach Kulmer Recht Städte gegründet: Thorn, Kulm, Marienwerder, Elbing, Braunsberg, Heilsberg, Königsberg und andere. Dazu kommen Lokationen von Dörfern, die von deutschen und holländischen Kolonisten besiedelt werden. Die Städte, die der Orden gegründet hat, zählen noch heute zu den besten Errungenschaften der Urbanistik in Europa! Marienburg ist im Mittelalter die größte gotische Wehrburg auf dem Kontinent. Die Städte, die Siedlungen, die Schlösser, die in den Machtgebiet der Komture fallen, werden mit einem Netz gut ausgebauter Wege verbunden, es entstehen reguläre Verbindungen von Elbing nach Lübeck, Riga und anderen Ostseestädten. Die Straßenverbindungen dienen dem Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen und Kommunikation. Post wird regelmässig befördert, die Burgen sind zugleich Poststationen. Im Sinne der Verwaltung, der Organisation des sozialen Lebens und der internationalen Kontakte, stellt der Ordensstaat eine neue Qualität, besonders in dem östlichen Teil Europas dar. Durch die wachsende Bevölkerung und dank der hervorragenden Organisation und leistungsfähiger Bürokratie wächst zugleich die wirtschaftliche Kraft des Staates, so dass der Orden – als einzige Nichtstadt – und sechs seiner Städte Mitglieder der Hanse werden. Die ökonomische Macht des Ordens, die auf dem Transithandel aus dem polnischen Gebiet, dem Export von Holz, Getreide, Bernstein und Wachs beruht, ist die Bedingung sine qua non der weiter steigenden militärischen Stärke des wachsenden Staates.
Aber erst Jahrzehnte später, im Jahr 1309 – dem Jahr des Templer-Pogroms – verlegt Siegfried von Feuchtwangen, fünfzehnter Hochmeister des Deutschen Ordens, seine Residenz nach Marienburg. Der Orden entwickelt sich zu einer Macht im Nord-Ost Europa. Unter Winrich von Kniprode, einem der besten Hochmeister, erlebt der Orden seine Blütezeit: Ihm gehören um die 3000 Ritter an. Unter Konrad von Jungingen erreicht der Orden seine größte territoriale Ausdehnung. Und es gelingt dem Orden in dieser Zeit seine Beziehungen zu Dänemark in Ordnung zu bringen. Die Befriedung der Ostsee, die Befreiung von der Piraterie, der gute Frieden mit der Margarethe I. von Dänemark verlieren jedoch an Bedeutung angesichts der sich abzeichnenden Eskalation des Konflikts mit dem Königtum Polen und dem Großfürstentum Litauen.
Es ist überaus interessant, das es ein polnischer Herzog ist, der den Orden in sein Land ruft, dass er und die polnische Ritterschaft zuerst, trotz wachsender Konflikte, Arm in Arm für die neue Religion kämpfen, sich dadurch Zunahme an Sicherheit vor den Heiden für ihr Land erhoffend. Die Konflikte nehmen bald überhand, hier begegnen sich nämlich zwei völlig unterschiedliche Elemente, zwei Völker, die zu dieser Zeit verschiedene Stufen der Staatenentwicklung einnehmen. Die Deutschen Herren gehören der westlichen Kultur, schöpfen ihre Sicherheit und ihre Stärke sowohl aus der langen Tradition des westlichen Rittertums als auch aus der Einbettung in die Interessen des Kaisers und des Papstes und erfreuen sich deren bedingungslosen Unterstützung. Das Königtum Polen, geschwächt durch die Teilung des Landes unter die Söhne des Bolesław III., sucht erst sein modus vivendi im Europa. Durch die geografische Lage begegnen sich das polnische und das deutsche Element im Grenzgebiet ohnehin. Jedoch das Eindringen des westlichen, des deutschen, Elements weit in das östliche Land hinein ermöglicht überhaupt die entschiedene Einflussnahme der westlichen Kultur, des Rechts und der westlichen Staatskunst, besonders auf die zwei großen Völker, die Polen und die Litauer. Der Druck, dem sich diese beiden ausgesetzt sehen, veranlasst sie zu Handlungen, für die es ohne diesen keine Veranlassung gebe. Darüber hinaus entsteht zum ersten Mal in der Geschichte ein starkes Nationalgefühl in den mitteleuropäischen Völkern. Eigentlich kann solches Nationalgefühl nur im Bewusstsein einer Bedrohung entstehen.
Es ist auch das spätere Ende des Ordens, das das Bewusstsein und die weiteren Geschicke sowohl der Deutschen als auch der Polen und Litauer verändert. Man kann sagen, Konrads Ruf an den Orden birgt in sich von Anfang an eine weltverändernde Kraft.
Im Laufe der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts erstarkt der Orden und sein Territorium vergrößert sich durch den von der Kurie gedeckten Expansionsdrang. Dieser führt zur Annexion mehrerer Gebiete in der Nachbarschaft und zu zahlreichen Kriegen mit Litauen.
Indes gelingt es dem litauischen Fürsten Mindaugas, dank seiner militärischen Kraft, die Nachbarstämme unter seiner Hoheit zu vereinigen. Im Jahr 1253 lässt er sich – durch den Bischof von Riga, vom Papst abgesegnet – zum König krönen. Die Vereinigung der litauischen Stämme und die Staatenbildung führen zu weiterer Vergrößerung seiner militärischen Kraft und erlauben die vordringenden Rittern des Deutschen Ordens erfolgreich, abzuwehren. Was jedoch Mindaugas nicht gelingt, ist die Christianisierung des Volkes: Er ist gezwungen, die Taufe für nichtig zu erklären und zum alten Glauben zurück zu kehren. Das Volk bleibt heidnisch, auch später, nach allen Versuchen der Missionierung von Seiten des Ordens. Mindaugas bleibt der einzige christlich gekrönte Herrscher Litauens. Der spätere litauische Großfürst, Gedyminas, und seine Nachfolger bauen das Großfürstentum zu einer osteuropäischen Großmacht aus. Ungeachtet dessen kann der Konflikt mit dem Deutschen Orden nicht zu einem zufrieden stellenden Ende geführt werden. Erst die Union zwischen Polen und Litauen führt 100 Jahre später zur Überwindung der kriegerischen Auseinandersetzung mit dem Orden.
In Europa zeichnen sich seit Jahrhunderten zwei Tendenzen, die widersprüchlich sind: Die universalistische und die der selbständigen Staaten, die sich im Rahmen der eigenen Tradition und eigener Staatlichkeit – des eigenen Rechts – organisieren. Im Laufe der Zeit ist der Universalismus immer deutlicher auf dem Rückzug, was durch die innere Krise der Kirche weiter verstärkt wird. Nicht nur Kirche, ganz Europa wird durch Krisen und Kriege erschüttert. Der hundertjährige Krieg tobt zwischen Frankreich und England, Schweizer Bauern und Bürger in Flandern führen systemverändernde Kämpfe; diese markieren den Anfang der bürgerlichen Selbstverwaltung. Der sich abzeichnende Fortschritt wird jäh durch den schwarzen Tod aufgehalten. Dieser dezimiert das westliche Europa. Auch wenn die Pandemie sich nicht nur auf das westliche Europa beschränkt, erspart sie unerklärlicher Weise einige ostmitteleuropäische Länder. Es kommt im 13. und 14. Jahrhundert in diesen Ländern zu einem starken Entwicklungsschub. Die Herrscher dieser Zeit – in Ungarn, Böhmen, Serbien in Litauen und nicht zuletzt – Winrich von Kniprode, der Hochmeister des Ordens werden in die Geschichte als bedeutende Herrscher eingehen. In Polen wird die Macht konsolidiert, was unabdingbar ist für weitere Entwicklung zum modernen Staat.
Auch das westeuropäische Rittertum befindet sich seit Jahrzehnten in einer Krise, wirtschaftliche Schwierigkeiten ziehen eine verhängnisvolle Aushöhlung des ritterlichen Ethos nach sich und damit den rapiden Verlust an Bedeutung des Standes. Mit einen Wort, das Rittertum hat seine Blütezeit schon längst hinter sich, es geht seinem eigenen Zerfall entgegen. Doch im Osten glaubt man noch Aufgaben zu finden: Der Ordo Teutonicus Verspricht noch Kämpfe, Gewinn und ritterlichen Ruhm. Nicht zu vergessen, die Verwirklichung der verpflichtenden, von Bernhard von Clairvaux bestimmten ritterlichen Tugenden. Die Strahlkraft des Ordens ergibt sich aus seiner militärischen und politischen Macht in der Region und aus seinem zunehmenden Reichtum. In Marienburg werden vielfach die Fäden der europäischen politischen Szene gehalten. Dies ist ein Ort, wo sich Gesandte bedeutender und weniger bedeutender, kirchlicher und weltlicher europäischer Machthaber treffen, von hier werden die Reisen in heidnische, und in schon längst christianisierte, Gebiete organisiert, hier wird taktiert und paktiert, hier werden Abmachungen getroffen – alles den Nachbarn nicht wohlgesinnt. Hier verhandelt man über gegenseitige Unterstützung jeglicher Art und Geldleihgaben. Hier werden Abhängigkeiten geschaffen.
Richtung Marienburg ziehen Ritter aus dem ganzen Europa: aus den deutschen Ländern, Niederlanden, Frankreich, England, Schottland, Irland, Kastilien, Aragonien, Portugal, aus Italien, Böhmen, Ungarn und aus Polen. Von hier brechen sie in Richtung Litauen, um ihre ritterlichen Pflichten zu tun: Um ihre Mission, die Heiden zu bekehren, zu erfüllen. Dabei aber auch die Besiegten zu berauben und ihre Häuser zu plündern… Diese vom Orden organisierten Preußenreisen in die heidnischen Gebiete werden lange als Kreuzzüge und gerechte Kriege gegen die Heiden, aber auch als ritterliche Abenteuer angesehen. Mit der Zeit verlieren diese Reisen den ursprünglichen Charakter, beschränken sich zunehmend auf Raub und Mord und somit untergraben sie zunehmend den Ruf des Ordens. Die eigene Bevölkerung wird kontinuierlich rücksichtslos unterdrückt, mit ihr führt der Orden einen regelrechten fiskalischen Krieg, der damit endet, dass die preußische Bürgerschaft Zuflucht sucht bei dem polnischen König. Repressalien seitens des Ordens sind die Antwort.
Die Brutalität des Vorgehens, die Grausamkeit, allen voran aber der alles übertreffende Hochmut der Ordensbrüder geben immer mehr Anlass zur Kritik von Seiten bedeutender Persönlichkeiten – um nur Jan Hus und die heilige Brigitta von Schweden zu erwähnen – die scharf sehen, wie weit sich die Realität vom ritterlichen Ideal entfernt hat. Ihr Entsetzen und Erschrecken bringen sie in Briefen zum Ausdruck, die sie an die europäischen Höfe und an den Papst senden. Briefe, die wir heute noch lesen können.
Der 15. August 1385 markiert eine Zäsur in der Geschichte des Europas im Allgemeinen und in der Geschichte des Ordens, des Fürstentums Litauen und des Königtums Polen im Besonderen. An diesem Tag wird die Union zwischen Polen und Litauen geschlossen, eine Union, die endgültig, durch die Taufe des litauischen Fürsten Jogaiła, später genannt Jagiełło, und seine Vermählung mit der polnischen Königin Jadwiga von Anjou, das Kräfteverhältnis in Mittelosteuropa verändert. Mit der Personalunion entsteht der größte Staat in Europa, mit dem die westeuropäischen Könige zunehmend rechnen müssen. Vitold, ein Cousin Jogaiłas wird der Großfürst von Litauen. Der Grundstein für diese Staatenunion ist in der Regierungszeit des Kasimir des Großen von Polen im 14. Jahrhundert gelegt worden: Nach der Inkorporation von Ruß‘ hat man ein Model, in dem gemeinsame Rechte und Privilegien aber unterschiedliche Sprachen, Religionen und Kultur eingeschlossen sind, ausgearbeitet. Noch heute ist dieses Erbe – in der Europäischen Union – lebendig.
Der litauische Adel und die Bojaren bekommen zahlreiche, an die Taufe gebundene, Privilegien und Landschenkungen, die ihre Position im Staat ungemein stärken und dem polnischen Adel gleichstellen. Die Christianisierung verläuft zielbewusst und energisch. Es soll hier erwähnt werden, dass Jagiełło zwar entschieden und mit großem Eifer die neue Religion in Litauen zur Staatsreligion macht, jedoch schützt er genau so die anderen Konfessionen wie das orthodoxe Christentum, das orientalisch-orthodoxe Christentum der Armenier, die muslimischen Tataren und die Juden, deren Privilegien er sowohl in Polen als auch in Litauen bestätigt. Im 14. Jahrhundert ist Jagiełło damit eine Ausnahme und eine Ausnahme in dieser Hinsicht bleibt in Europa dieser riesige Staat noch für weitere Jahrhunderte. Seine Monarchie ist wahrlich multiethnisch, multikulturell und multikonfessionell und damit stellt sie eine Brücke zwischen der östlichen und der westlichen Zivilisation dar. Die Frage bleibt jedoch, ob der so uneinheitliche Staat sich mit dem hervorragend organisierten Ordensstaat messen kann.
Die Tatsache, dass Litauen jetzt endgültig christianisiert ist, entzieht dem Deutschen Orden raison d’être, die Daseinsberechtigung für sein weiters Verbleiben im Baltikum, das mit der territorialen Ausdehnung gleichgesetzt wird. Anfänglich gelingt es dem Orden, die Welt von weiterer Notwendigkeit der „wahren“ Christianisierung zu überzeugen: Die Reisen in die litauischen Gebiete gehen weiter, das westeuropäische Rittertum nimmt an ihnen zahlreich teil. Die polnische Diplomatie versucht den Westen zu überzeugen, dass die Wirklichkeit eine andere ist, anfänglich ohne Erfolg. Erst im Jahr 1403 verbietet der Papst Bonifaz IX. dem Orden, Reisen in Richtung Litauen zu unternehmen. Es ist jetzt klar, dass Litauen zur römischen Kirche gehört und dass der Prozess der Christianisierung friedlich verlaufen ist. Das stärkt auf der einen Seite die Position Polens und die von Jagiello in Europa und auf der anderen Seite verbessert es die Lage der Kurie.
Der Krisenherd liegt in dieser Zeit in Schamaiten (Żemaiteje), einem Gebiet, das zum Fürstentum Litauen gehört. Dieses Land liegt zwischen Preußen und Livland. Nach ihm giert der Orden, um den preußischen Staat mit dem livländischen Zweig des Ordens zu verbinden und damit den Staat erheblich zu vergrößern. Im Laufe der Ereignisse gelangt Schamaiten unter die Herrschaft des Ordens, womit vor allem die Bevölkerung nicht einverstanden ist; es kommt zu mehreren Aufstanden, die Union gewährt den Schamaiten stille Unterstützung. Und dies ist die unmittelbare Ursache der Kriegserklärung seitens des Deutschen Ordens.
Auch Jagiełło sieht die Notwendigkeit ein, nach einer militärischen Lösung der Probleme zu suchen. Nicht überzeugt davon sind die anderen polnischen Herren und schon gar nicht die Geistlichkeit. Eine gewisse Ehrfurcht vor dem Orden als einer explizite von der Kirche unterstützter Institution, die sich darüber hinaus als im Auftrag Gottes handelnde versteht, ist nicht leicht zu überwinden. Der Orden drängt seinerseits gleichermaßen wie Jagiełło auf eine definitive Auflösung der schwellenden Konflikte. Jagiełło versteht die kommende Auseinandersetzung als ein „Gericht Gottes“, im Mittelalter eine gängige Haltung.
Außenpolitik des Königstum Polen gehört in dieser Epoche zum königlichen Prärogativ, ausgeführt wird sie in Kraków von cancelaria Regni Poloniae. Hier werden Dokumente und Instruktionen vorbereitet, Vollmachten und Beglaubigungsschreiben ausgestellt, diplomatische Reisen vorbereitet: nach Rom, nach Wien, in die Türkei, nach Marienburg, nach Böhmen und Ungarn. In den Jahren vor dem Krieg ist sowohl die königliche- als auch die Ordensdiplomatie rege. Verständlich, denn beide Seiten geben sich Mühe, eigene Sicht der Lage, eigene Klagen und Bitten, eigene Propaganda den europäischen Herrschern zu präsentieren. Die Chronisten der Zeit – was für Glück! – verfolgen die Routen und beschreiben diese Besuche auf den Höfen in den meisten Fällen sehr genau, die Briefe und andere Sendschreiben sind zum großen Teil bis heute erhalten geblieben: Es ist ungemein interessant, in das Leben von vor 600 Jahren einzutauchen. Die polnische diplomatische Tätigkeit im Westen bringt zwar keine spektakulären Ergebnisse mit sich, es gelingt ihr aber, auf die Lage im nördlichen Mittelosteuropa aufmerksam zu machen und das bis jetzt sehr vorteilhafte Bild des Ordens nachhaltig zu verändern. Die Diplomatie des Deutschen Ordens nutzt einen Vorteil aus, der sich aus den vielen familiären Verflechtungen der Ordensritter und aus vielen wirtschaftlichen Kontakten mit dem Westen ergibt: Die Gesandten des Ordens stoßen auf zugeneigte Ohren.
Im Jahr 1409 erklärt der Hochmeister Ulrich von Jungingen, dem König Jagiełło den Krieg. Er beginnt zugleich mit weiteren territorialen Eroberungen, Polen und Litauer beschränken sich zu dieser Zeit nur auf die Verteidigung. Jagiełło will den Krieg jedoch nach Preußen tragen. Indessen vermitteln die Gesandten des böhmischen Königs Wenzel IV. zwischen beiden Seiten und führen im Oktober 1409 einen Waffenstillstand, der bis zum 24. Juni 1410 anhalten soll, herbei. Beide Machthaber brauchten Zeit, um ihre Heere vorzubereiten und endgültig Verbündete zu gewinnen.
Anfang des Jahres 1410 beginnen auf beiden Seiten intensive Vorbereitungen zum Krieg. Schon im Dezember 1409 treffen sich in Brest am Bug König Wladyslaw Jagiełło mit dem Großfürsten Vitold. Es herrscht höchste Geheimhaltung, eingeweiht ist nur der Kanzler, Mikolaj Trąba. Später stößt dazu der zukünftige Chan der Goldenen Horde. Tatarische Kämpfer werden sich an den bevorstehenden Kämpfen beteiligen. Über den Verlauf der Verhandlungen haben wir heute kein genaues Wissen, einzig und allein aus dem späteren Verlauf der Ereignisse können wir eine Strategie erkennen, wobei die Unterscheidung zwischen Planung und Improvisation nicht immer gelingt.
Hier in Brest beschliesst man, den Krieg im Ordensstaat zu führen, Richtung Marienburg zu gehen, jedoch nicht zuerst die Burg zu belagern, sondern eine Schlacht auf dem offenen Feld anzustreben. Die Armee des Ordens ist in dieser Rechnung eine Unbekannte. Es wird eine Strategie, die dazu führen soll, dass diese Rechnung bald aufgeht, ausgeklügelt. Und das alles unter höchster Geheimhaltung, trotz der sehr gut ausgebauter und gut organisierter Spionage des Ordens. Des Weiteren wird in Brest der genaue Kalender ausgearbeitet: Wann lässt man das allgemeine Aufgebot ergehen, welche logistischen Vorbereitungen müssen getroffen werden, wie wird die Versorgung gesichert, wann und wo sollen die polnische und die litauische Armeen konzentriert werden und wo sollen sie sich treffen. Und die schwierigste Frage: Wie wird das polnische Heer die Weichsel überschreiten? Die Geheimhaltung über die Pläne gelingt über die ganzen Monate bis zum tatsächlichen Kriegsausbruch! Dies führt zu einer Desorientierung der Befehlshaber der Ordensarmee.
Die Konzentration der polnischen Ritterschaft verläuft nach Plan: Ende Juni 1410 bei Czerwińsk, am linken Ufer der Weichsel, erscheinen alle berittenen Kämpfer der polnischen Krone. In den drei Tagen vom 30. Juni bis zum 2. Juli setzt die ganze Armee über die an dieser Stelle etwa 500 m breite Weichsel über. Wir haben das Jahr 1410. Wie wird die Übersetzung einer ganzen Trosskolonne bewerkstelligt? Noch in Brest beschließen Jagiełło und Vitold, eine Pontonbrücke bauen zu lassen. Diese Brücke wird unter strengster Geheimhaltung bei Kozienice im Radomer Urwald gebaut, von dem Radomer Starost Władysław Dobrogost Czarny z Odrzywołu beaufsichtigt, rechtzeitig mit der Weichsel in Teilen Richtung Czerwińsk geflößt und an Ort und Stelle zusammen gebaut: 500 Meter in acht Stunden! Eine Brücke, die auf 168 Booten liegt. Die Kunde über diese Pionierleistung verbreitet sich in alle Richtungen und macht einen großen Eindruck auf die Zeitgenossen. Der Hochmeister aber will gar nicht glauben, dass der Feind so eine erstaunliche Lösung gefunden hat und tröstet sich höhnisch, die Polen haben nicht mal eine Furt finden könnten.
Auf dem anderen Ufer der Weichsel verbindet sich das polnische Heer mit den litauischen und masowischen. Die Armeen nehmen die Richtung preußische Grenze. Am 9. Juli überschreiten sie, etwa 30 000 Kämpfer, die Grenze zum Ordensstaat. Zu diesem Zeitpunkt ist der Hochmeister bereits über die Marschrichtung der vereinten Heere gut informiert. Ulrich von Jungingen weiß außerdem über die zahlenmäßige Überlegenheit der feindlichen Armeen. Er kennt eine interessante strategische Variante, die es erlaubt, gegen viel stärkere Armee zu siegen: Sie wird im hundertjährigen Krieg angewendet, auch Türken, die Balkan erobern, wenden sie an. Jagiełło durchschaut die Pläne vom Hochmeister und lässt sich nicht in die Falle locken.
Die vereinten Heere die sich jetzt auf dem Marsch durch die preußischen Dörfer und Städte befinden, plündern und morden und dies alles mit dem Einverständnis des Königs. Auch dies ist ein Teil der Strategie von Jagiełło und Vitold: Den Hochmeister zu einer Reaktion zu zwingen. In der Tat, Ulrich von Jungingen, um das „Verwüsten und Schlachten“ zu unterbinden, setzt seine Armee in den Marsch in die Richtung, aus der die vereinten polnischen und litauischen Heere erwartet werden. Am 15. Juli 1410 um 8.00 Uhr erreicht die Ordensarmee die kleine Ortschaft Tannenberg (Stębark) und postiert sich frontal in die Richtung, aus der die polnisch-litauische Armee vermutet wird. Eine Stunde später wird Jungingen mit einer durch Vorhut überbrachten Nachricht überrascht: Die Feinde liefern sich mit einigen Abteilungen der Ordensarmee Scharmützel, dies spielt sich aber in einer anderen Richtung ab, als die, aus welcher sie erwartet werden. Von Jungingen befiehlt, die Front in die südöstliche Richtung zu drehen. Und dort, in den Wäldchen und Hainen, in einer hügeligen Landschaft ist die polnisch-litauische Armee erst damit beschäftigt, ein Lager zu organisieren. Ihre Befehlshaber werden nicht minder überrascht durch das plötzliche Erscheinen des feindlichen Heeres. Dieses Zeitfenster bietet übrigens die einzige geeignete Gelegenheit, die vereinten Armeen erfolgreich zu attackieren. Von Jungingen zögert. Er riskiert keinen Kampf in einem hügeligen, bewaldeten und, zu allem Übel, morastigen Terrain.
Jagiełło zielt auf Verzögerung: Er hört zwei Messen, schlägt zahlreiche junge Männer zum Ritter, hält vor seinem Kanzler, der zugleich ein Geistlicher ist, die Beichte, dann hört er eine weitere Messe. In dieser Zeit wacht Vitold über das Aufstellen der Kämpfer und der Formationen. Erst in der Mittagszeit ist es so weit, die Kämpfe beginnen. Die Schlacht dauert bis zum Sonnenuntergang, ihr Verlauf ist höchst dramatisch. Großfürst Vitold nimmt persönlich an den Kämpfen teil, so auch der Hochmeister Ulrich von Jungingen. König Jagiełło befiehlt die polnische Armee und beobachtet das Geschehen von einem Hügel hinter der Kampflinie.
Die Schlacht beginnt mit der mehrfach durch Chronisten beschriebener Szene: Zwei Herolde der Verbündeter des Ordens, des Stettiner Fürsten Kasimir und des ungarischen Königs Sigismund von Luxemburg überreichen dem König zwei nackte Schwerte. Jan Długosz beschreibt die Szene wie folgt: „Erlauchter König! Der preußische Hochmeister Ulrich sendet dir und deinem Bruder (…) die zwei Schwerte, so dass du mit deinem Heer kämpfst und dich nicht weiter in Wäldern und Hainen versteckst, ihn nicht arglistig täuschst und den Kampf nicht unnötig aufschiebst (…)“. Dies wird als Ausdruck des Hochmuts empfunden, was es jedoch nicht zwingend ist, denn das Übereichen der Schwerte vor der Schlacht war im Mittelalter ein oft praktiziertes Ritual. Ulrich von Jungingen kennt die wahre Ursache der Verzögerung nicht, ist überzeugt, sie ist der Ausdruck einer List. Sehr weit entfernt von der Wahrheit kann er nicht sein, denn Jagiełło, zwar auf die Formierung seiner Heere wartend, die Gunst der Situation für sich nutzt. Denn er weiß um den langen, ermüdenden Marsch der Ordensritter, um deren jetzige Lage – in der sengenden Sonne, auf einem nackten Hügel stehend. Um die Mittagszeit ertönen Trompeten, die polnischen Ritter singen „Bogurodzica“ (Gottesgebärerin, Theotokos), ein uraltes Lied, das die polnischen Kämpfer bei jedem Kriegszug, bei jeder Schlacht, seit Jahrhunderten, begleitet.
Die Schlacht beginnt, sie verläuft ähnlich wie andere Schlachten im Mittelalter, es fehlt aber nicht an höchst dramatischen Momenten. Auf der polnischen Seite ereignet sich etwas, was sich auf den weiteren Verlauf entscheidend auswirken könnte. Während einer Attacke gleitet dem Ritter Marcin z Wrocimowic das Gonfanon aus der Hand! Das ist immer ein Zeichen zum Rückzug! Die Kreuzritter, siegessicher singen ihre Hymne „Christ ist erstanden“. Der Trumpf dauert dennoch nicht lange: Die besten Ritter, die unter dem Reichspanier dienen, heben auf der Stelle das Gonfanon.
Als nach drei Stunden die Kräfte der zahlenmässig unterlegenen Ordensarmee langsam ausgeschöpft werden, beschließt von Jungingen, den entscheidenden Angriff durchzuführen. Er selbst und seine besten Ritter wollen den rechten Flügel angreifen, nehmen die Richtung und galoppieren auf ein Hügel zu, nicht wissend, dass gerade dort Jagiełło mit seiner Leibgarde steht. Jungingen interessiert sich für die kleine Gruppe nicht, er kann sie auch nicht erkennen, denn die Polen, die Gefahr sehend, ziehen die Standarte ein uns lassen andere Erkennungszeichen verschwinden. Nur ein einsamer Ritter, Diepold von Köckritz, schert aus der bewaffneten Rotte aus und mit gesenkter Lanze saust, wohl nicht wissend, wen er attackiert, geradeaus auf den König zu. Dieser wehrt sich und mit eigener Lanze verwundet den Angreifer. Erst der junge Zbigniew Oleśnicki, der spätere Bischof und Kardinal wirft den Angreifer vom Pferd und gibt ihm den Todesstoß. Indes erreicht der Stoßtrupp Jungingens die jetzt neuformierten polnischen und litauischen Reihen. Es ist nicht als klug und verantwortlich anzusehen, und keine gängige Praxis in Europa, dass ein Befehlshaber, hier der Hochmeister, solche Attacke anführt. Die Lage der Kreuzritter wird kritisch. Die Schlacht wird zum Schlachten. Ulrich von Jungingen und andere vortreffliche Ritter fallen in dem Gemetzel, es gibt hier keine Gefangene; zur wichtigsten Beute werden die Banner.
Die Sieger jagen und nehmen die, die sich aus dem Schlachtfeld retten wollen gefangen, oder schlagen sie tot. Sie plündern den Tross der Ordensarmee. Bemerkenswert ist, dass sie da Mengen an vorbereiteten Stricken und Fesseln finden. Und Weinfässer. Diese werden auf Befehl von Jagiełło sofort vernichtet, denn der ganze Ausmass der Niederlage des Ordens ist dem König in dem Moment noch nicht bekannt und er fürchtet, die Disziplin in eigenen Reihen könnte leiden.
Beachtenswert ist, dass die Chronisten die Namen der gefallen Kreuzritter erwähnen, über die siegreichen polnischen Ritter und ihre Verluste aber schweigen. Es wird dennoch verständlich: Die meisten westlichen Chronisten kennen sie, außer den berühmtesten, nicht. Andererseits wagten es die polnischen Ritter selten, einem Ordensritter den Todesstoß zu geben. Sie lassen lieber die Litauer diese Arbeit machen. Hier muss man etwas besonders erwähnen: Den mitten in der Schlacht kämpfenden Hochmeister des Ordens, der auf seinem Harnisch das Kreuz mit einem Reliquiar trägt, kann kein in der christlich-kirchlicher Tradition der Verehrung der Reliquien erzogene Kämpfer angreifen. Auch das tut ein litauischer Krieger.
Man muss sich nur in die Zeit versetzen. Der Orden erfreut sich im Europa einer hohen Anerkennung, hat viele Freunde auf den königlichen und fürstlichen Höfen und in Rom. Und was für die Polen besonders wiegt – es ist ein geistlicher Orden, die Ritter kämpfen im Namen der Gottesmutter und ihres Sohnes! Darüber können sie sich als Gegner nicht hinweg setzen, trotz der feindschaftlichen Relationen. Der Respekt vor dem Orden ist unter den polnischen Rittern sehr groß, er ist anfänglich nicht zu überwinden und die Ritterschaft nicht so einfach dazu zu gewinnen, überhaupt einen Krieg gegen den Orden zu führen. Sie befürworten anfänglich die strategischen Pläne von Jagiełło und Vitold nicht. Für sie ist die Union zwischen der polnischen Krone und Litauen mehr ein Gewinn an östlichen Gebieten, um die die polnischen Könige seit Generationen gekämpft haben, als ein Pakt gegen den Ordensstaat, was auf jeden Fall dem Verständnis von Jagiełło und Vitold entspricht. Erst die Entwicklung unter Ulrich von Jungingen, der unaufhörlich Eroberungszüge organisiert und immer mehr längst christianisierte Gebiete unterjocht, führt dazu, dass die polnischen Herren ihre Einstellung ändern. Zwar organisieren sie den Krieg und kämpfen bei Tannenberg, aber das Schlachten überlassen sie bevorzugt den Litauern, die als frisch christianisiert, den lähmenden Respekt für die Ordensritter nicht empfinden.
Am Abend treten die Kämpfer vor den König; sie übereichen ihm Gefangene und die eroberten Standarten – die Kreuzritter haben alle 51 verloren. Diese Fahnen – und auch die zwei Schwerter – werden auf der Wawelburg aufbewahrt. Am nächsten morgen wird vor dem königlichen Zelt ein Dankgottesdienst gefeiert. Wie schon oben erwähnt, es ist Jagiełłos Idee, ja Ideologie, den Kampf, genau gesagt diese Schlacht unter Gottes Gericht zu stellen. Das ist keine Floskel und im Mittelalter überhaupt nichts Ungewöhnliches; es werden alle Kämpfe, auch viele ritterliche Zweierkämpfe unter das Gottesurteil gestellt, was die Annahme bedeutet, Gott wird dem Unschuldigen helfen. Hier aber ist diese Ideologie zugleich eine Rechtfertigung dafür, dass man den Kampf gegen den Orden überhaupt führt. Und es geht dem König in diesem Krieg nicht darum, den Orden zu vernichten. Es geht ihm darum, den Hochmut des Ordensstaates und seiner Herrscher zu brechen und ihre zermürbenden Eroberungsreisen in die Gebiete von Polen und Litauen als beendet zu sehen. Die Schlacht entscheidet und beendet im Grunde den Krieg. In diesem Licht wird es auch verständlich, warum Jagiełło nach der Schlacht zwar noch in Preußen bleibt, aber unentschlossen und ohne Eile in Richtung Marienburg marschiert, und die Burg ohne die nötige Entschiedenheit belagert. Eine Belagerung sei auch ohne größere Aussicht auf Erfolg, denn der Komtur Heinrich von Plauen, der bald zum Statthalter des Hochmeisters gewählt wird, erreicht Marienburg, mit etwa 2500 Kämpfern, noch vor dem polnischen Heer.
Der Krieg vernichtet den Ordensstaat nicht, dieser ist jedoch so sehr geschwächt, dass er nie mehr seine ursprüngliche Machtstellung erreicht, seine unbesiegbare Armee erleidet den Schmach der Niederlage. Die Position der Union von Königtum Polen und Litauen in Europa verbessert sich dagegen bedeutend. Nach der Schlacht gelingt es der polnischen Diplomatie zudem, dem Westen eine andere Sicht – gestützt auf Fakten – auf die osteuropäischen Verhältnisse zu präsentieren. Auf dem Konzil in Konstanz wird die antipolnische Allianz definitiv außer Gefecht gesetzt.
Die Kriegshandlungen der Jahre 1409-1411 enden mit dem Frieden von Thorn. In Europa beginnt eine neue Zeit. Das Rittertum verliert gänzlich an Bedeutung, es gibt keine Treffen, keine kriegerischen Reisen, der Ethos dieser Gesellschaftsgruppe verblasst.
Der Krieg schwächt den Ordensstaat. Es ist aber nicht nur dieser Krieg, der über Bedeutungslosigkeit des Ordens entscheidet. Wie jede Entwicklung, auch dieser Verlust hat mehrere Ursachen. Sie liegen zum Teil in dem besonderen Charakter dieses Staates: Der Ordensstaat in Preußen ist ein Kolonialstaat. Er ist nicht organisch gewachsen, sondern ist eine westeuropäische Kolonialgründung an der Weichsel. Einerseits die Eroberungszüge und andererseits die hervorragende Organisation der Wirtschaft, der Finanzen, der Armee, mit anderem Wort des ganzen Staates führen zum Reichtum, zum Zuwachs an Bedeutung, was noch durch die Unterstützung seitens des Papstes und des Kaisers verstärkt wird. Aber „das Preußenland war niemals anders als auf dem Pergament der staufischen Urkunde Glied des Deutschen Reiches, war und blieb die Kolonie einer fremden Macht, der Deutschen Herren, die als herrschende Kaste in strenger nationaler Absperrung über ihm saßen und ihre eiserne Phalanx eher dem Bürger von Lübeck öffneten als dem uralt eingesessenem preussischen Landadel und der eingewanderten aus dem Westen Deutschen und Holländer. Eine Dynastie von Landfremden, Heimatlosen, Ehelosen, die sich in Jahrhunderten nie mit dem von ihr beherrschten Lande vermischte, die sich aus dem deutschen Adel frisches Blut holte, sie musste naturnotwendig vereinsamen und das desto schneller und desto sicherer, je mehr im Lande Wohlstand, Handel, Wandel, Bürgersinn, Patrizierhochmut und Adelsstolz in Halme schossen. Die Ordensbrüder hatten so gut wie keinen nachbarlichen Kontakt zu der Bevölkerung gefunden, er war auch unerwünscht. Sie haben die Sprache der Bevölkerung nicht beherrscht. Die Übernachtung bei Bürgern oder Bauern war streng verboten, mit einem Wort, sie konnten und wollten in diesem Land nie heimisch werden, sondern immer als Fremdkörper empfunden. Es gab einen großen Hass auf die Deutschen Herren in der Bevölkerung“, schreibt Hans von Hülsen.
Zwei andere Ursachen sind in dem allgemeinen Fortschritt zu suchen. Der Zerfall des Rittertums im Spätmittelalter wird sowohl durch die rasche Weiterentwicklung der Waffentechnik, als auch durch die Etablierung der Fußtruppen eingeleitet. Der innere Zerfall ist jedoch nicht minder bedeutend. Der Ritter unterscheidet sich vom berittenen Krieger damit, dass er ein besonderes Gesellschaftsideal verkörpert. Dazu gehört nicht nur die Unerschrockenheit, Tapferkeit und Mut aber auch eine intensive Beschäftigung mit Literatur und Gesang – worauf schon Wolfram von Eschenbach aufmerksam macht. Aus dieser Beschäftigung resultiert das Phänomen der Minne. Im Früh- und im Hochmittelalter ist die Konnotation des Begriffes nicht auf Liebe zum anderen Geschlecht begrenzt, sonder umfasst das „freundliche Gedenken“ dem Schöpfer und der Schöpfung gegenüber. Minne ist karitativ, erotisch, auf Freundschaft ausgerichtet, was den altbekannten Arten der Liebe, Agape, Philia und Eros entspricht. Ein Ritter kämpft für seine Ideale, er ist bereit für diese im Kampf sein Leben zu opfern. Jahrhundertelang sind es hohe Ideale. In Laufe der Zeit wird aus Unerschrockenheit und Tapferkeit eine fruchtlose Verachtung des Lebens, das man für Nichtigkeiten opfert, aus Minne – Flatterhaftigkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen, der Kampfwille lebt nicht mehr von Idealen, sondern beschränkt sich auf Beutemachen.
In einem geistlichen Orden, auch in einem Ritterorden ist das „freundliche Gedenken“ auf Liebe zum Gott, Agape und Philia beschränkt. Die Organisation des Lebens in einem solchen Orden ist ein Abbild einer Theokratie, und dies macht die Kraft eines Ritterordens aus. In der Zeit des Bedeutungsverlustes der kirchlicher Macht ist eine solche Theokratie nicht mehr zeitgemäss, mehr: Sie erstarrt zur Maske. Um so mehr, als die wachsende Selbstverwaltung der Bürger die caritative Arbeit eines Ordens übernimmt. Die weltlichen, politischen und kriegerischen Zwecke überwiegen also. Zu allem Übel mit der Zeit missachten die Ordensbrüder ihre eigenen Gesetze, womit sie in Augen der Bevölkerung das göttliche Recht, das Land zu verwalten, verspielen. Ein selbstgerechtes, aristokratisch-theokratisches Regime ist anachronistisch und damit überflüssig. Das sind die Gründe, warum der Deutsche Ritterorden nach der Schlacht bei Tannenberg seine frühere Kraft nicht mehr zurückerlangen kann und zunehmend seine Berechtigung und damit den Halt in der Bevölkerung verliert.
So wie die Kreuzzüge in das Heilige Land ein Organisationspunkt des feudalen Lebens im 11.-13. Jahrhundert in Westeuropa sind, so ist die Schlacht bei Tannenberg eine Zäsur in der Neuorganisation der polnisch-litauischen Union und ein fundamentaler Teil des sich verändernden Selbstbewusstseins. Die erste Welle der Kolonisierung der unermesslichen Gebiete im Osten des Staates erfolgt kurz nach dem Krieg. Die Ritter, die sich ausgezeichnet haben in diesem Krieg, besonders in der Schlacht bei Tannenberg, werden mit großen Schenkungen versehen, die Kämpfer, die besondere Verdienste haben und nicht dem Adelsstand gehören werden außer der Landschenkungen in diesen Stand gehoben. Die Wirtschaft des Staates organisiert sich in Laufe des Jahrhunderts um die wieder erlangten Transportwege über Ostsee, die es dem riesigen Land erlauben die überreichen Erzeugnisse der Land- und Forstwirtschaft zu exportieren. Die Schiffe der Entdecker neuer Kontinente werden aus dem Holz und Teer der litauischen und masowischen Urwälder gebaut, die Kerzen für die Beleuchtung der Schlösser und Kirchen im westlichen Europa werden aus dem besten in Europa litauischen Wachs hergestellt, die Pelze aus den überreichen östlichen Wälder erfreuen sich wachsender Nachfrage… Bald beginnt für das Land im Osteuropa – Rzeczpospolita Obojga Narodów – das Goldene Zeitalter.
Der Ordensstaat lebt aber noch weitere 115 Jahre, die durch Kriege, Verhandlungen und abgeschlossene Friedensverträge, Modernisierung der preußischen Städte, durch Emanzipation der Bürger und eine weitere Verweltlichung der Ordensbrüder, die letzten Hochmeister eingeschlossen, mit einem Wort, durch Verfall der Bedeutung des Ordens charakterisiert wird. Der letzte Hochmeister, Albrecht Hohenzollern, bringt durch das Führen weiterer Kriege den Ordensstaat an den Rand des Ruins. Die überaus schwierige Lage zwingt Albrecht zum Wandel seiner Haltung und zugleich zu weiteren Friedensverhandlungen mit dem polnischen König, der, am Rande gesagt, sein Cousin ist. Albrecht bricht mit dem Ordensleben, reformiert im Sinne Luthers die Staatsreligion und säkularisiert den Staat, der fortan ein Lehen des polnischen Königs, Sigismund des Alten, wird. Am 9. April 1525 wird der Frieden geschlossen, ein Tag später legt Albrecht in Kraków den Lehnseid auf den polnischen König ab. Trotz familiärer Verbindungen zwischen den beiden Statisten wird die neue Nachbarschaft nicht friedlich. Darüber aber ein anderes Mal.
Bibliografie:
Karl Heyer, „Studienmaterialien zur Geschichte des Abendlandes“, „Der Deutschritterorden und die Ursprünge des späteren Preussens“, „Der Deutschritterorden, die Preußen und die Polen“
Hans von Hülsen, „Tragödie der Ritterorden. Templer, Deutsche Herren, Malteser“, Münchner Verlag, München 1948
Sie ist wie Atlantis verschwunden, die Stadt. Auch wenn sie in Wirklichkeit immer noch da ist, ist dieser Vergleich angebracht, denn diese Stadt hat sich nicht durch die Zeitläufte notwendigerweise, wie die anderen Städte der Welt, verwandelt und modernisiert. Sie ist nicht mit der Zeit gegangen, die alte Stadt ist verschwunden.
Einst eine europäische Stadt, seit 1772 in der historischen Landschaft Königreich Galizien und Lodomerien, im Kulturleben und in der Architektur von der Metropole Wien bis in das 20. Jahrhundert hinein stark beeinflusst, ist mit dem Anfang des 2. Weltkrieges ihrer Oberschicht, der Intelligenzja beraubt worden. Die Kultur der Stadt, die von den verschiedenen Nationen und Konfessionen Schicht um Schicht in Laufe der Jahrhunderte erschaffen wurde, ist wie eine Schrift vom Pergament abgetragen, entfernt, beseitigt worden. Und Neues ist entstanden. Nur ist der genius loci dieser Stadt verzogen. Es ist nicht leicht, auf diesem Palimpsest die Spuren der Vergangenheit zu finden: Die Vergangenheit ist verschwunden.
Lemberg – polnisch Lwów, ukrainisch Lwiw, lat. Leopolis – war in der Geschichte vom Zusammenleben verschiedner Völker geprägt. Polen, Juden, Ruthenen, Armenier, Deutsche. Heute leben dort fast ausschliesslich Ukrainer. Lemberg mit seiner 1661 vom König Jan Kazimierz gegründeten Universität war über Jahrhunderte neben Krakau, Warschau und Wilna ein wichtiges Zentrum des polnischen Kultur- und Geisteslebens. So auch zwischen den Weltkriegen. Der September 1939 versetzte der Stadt den Todesstoss. Auch wenn sie im 2. Weltkrieg keine größere Zerstörung ihrer Bausubstanz erleben musste, ist das frühere blühende Geistesleben der Stadt schon in den ersten Monaten des Krieges zum Erliegen gebracht.
Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen war zweifelsohne die interessanteste Zeit im Leben dieser Stadt. Theater, Oper, Literatur – das alles blühte in dieser Stadt. Aber erst die Jan Kazimierz-Universität mit ihren genialen Wissenschaftlern und Gelehrten überstrahlte alles andere. Dort bildete sich die Warschau-Lemberger Philosophische Schule, die später in Warschau allein fortlebte. Allen voran ist hier jedoch die Lemberger Mathematische Schule zu nennen. Das Ende der Wirkung dieser bedeutenden Gruppe kam mit dem Jahr 1939. Ein Teil der Professoren ging auf Einladung von Prof. von Neumann unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges in die Vereinigten Staaten, ein Teil der Gelehrten, die während der Okkupation mit allen möglichen niederen Diensten beschäftigt waren, übersiedelte am Ende des Krieges mit der Jan Kazimierz-Universität nach Breslau, ein Teil wurde während des Krieges ermordet.
Wie einst in der Metropole Wien, waren auch in Krakau oder Lemberg die vielen Cafés die Orte, an denen sich die Künstler, die Literaten, Philosophen und auch – heute unvorstellbar – die Wissenschaftler getroffen und täglich stundenlang aufgehalten hatten. Eine dieser Kneipen erfreut sich bis heute weltweit einer Berühmtheit – freilich nur in Erinnerung: Das »Szkocka«-Café.
An einem der Tische hatten die Philosophen der berühmten Philosophen-Schule, die einen beträchtlichen Einfluss auf die europäische Philosophie ausgeübt hat, debattiert: Kazimierz Twardowski, Tadeusz Kotarbiński, Władysław Tatarkiewicz, Kazimierz Ajdukiewicz, Roman Ingarden und viele mehr, sogar begabte Studenten wurden zum Tisch zugelassen, denn trotz feudaler Sitten hatten Talent, Passion und Kollegialität für die Zusammenarbeit den Ausschlag gegeben. An einem anderen Tisch saßen und diskutierten, oft bis zum Morgengrauen, die Mathematiker: Stefan Banach, Hugo Steinhaus, Stanisław Ulam, Stanisław Mazur, Antoni Łomnicki, Wladyslaw Orlicz und andere nicht weniger bedeutende Mathematiker. Stefan Banach war in dieser Mathematikergruppe mehr als ein primus inter pares: Er war unangefochten das größte mathematische Genie dieser Zeit. In der anregenden und angeregten Atmosphäre dieses Ortes sind die Grundlagen der modernen Mathematik geboren. Eine Schlüsselrolle spielte dabei die bahnbrechende Raumtheorie von Banach. Stanisław Ulam, Jahre später an der Entwicklung der amerikanischen Wasserstoffbombe beteiligt, stützte sich auf Theorien, die hier in diesem Café, formuliert wurden, ihrer Zeit jedoch weit voraus waren. Zu unterstreichen ist aber, dass für diese Menschen Mathematik nicht durch die praktische Anwendung, sondern durch ihre immanente Schönheit legitimiert war, Schönheit, die diese Forscher ihr Fach nicht als ein rein deduktives System begreifen ließ, denn Mathematik zersprengt früher oder später den Rahmen des Systems und erschafft neue Prinzipien. Die Schönheit der Mathematik an sich entscheidet über ihr Wert, nicht ihre praktische Bedeutung.
Es waren an dem Café-Tisch keine akademischen Debatten angesagt: Hier zeichneten und rechneten die Genies auf Servietten oder auf dem Marmorblatt der Tische, oft schwiegen sie einfach oder unterhielten sich monosyllabisch, denn sie verstanden gegenseitig ihre Gedankengänge. Wenn sie die Lösung an einem Abend nicht gefunden haben, ging es am nächsten Tag weiter. Oft wurden die Hieroglyphen auf den Tischen bis zum nächsten Tag bewahrt und sie konnten ihre Arbeit an der Lösung fortsetzen. Nicht selten waren aber die Tischplatten doch gesäubert oder die Servietten vernichtet, so das manche Theorie nie das Tageslicht erblicken konnte… Ein großer Verdienst Frau Banach war, es war das Jahr 1935, einen dicken Heft, in dem die gestellten Fragen und Theorien aufgeschrieben werden konnten, zu spenden. In diesem Heft wurden Aufgaben – von harmlosen Rätseln bis zu Fragen von fundamentaler Bedeutung aufgeschrieben. Auf der linken Seite die Fragen, die rechte blieb leer, bis die Lösung gefunden werden konnte. Das „Buch“ wurde im Café aufbewahrt, so dass jeder Mathematiker, der die Vorstellung hatte, wie eine der Aufgaben zu lösen war, es verlangen konnte. Manche der Fragen fanden nicht so schnell ihre Antwort, man hat also Preise ausgelobt für die richtigen Ergebnisse. Die Preise waren so ungewöhnlich und witzig, wie diese Menschen selbst: Sie reichten von einer Tasse Kaffee, Flasche Wein, einer Reise nach Genf, bis zu einer… lebendigen Gans.
Mathematik besteht zum großen Teil aus Fragen; die Lösungen lassen bisweilen hunderte von Jahren auf sich warten. Der Zustand der geistigen Bereitschaft sich mit diesen Problemen zu messen, charakteristisch für diese Forscher, hatte sich durch den ausgerufenen Wettbewerb noch gesteigert. Über viele Jahre hinaus suchen Mathematiker in der Welt nach Lösungen für die damals gestellten Probleme. Auf eine der Fragen, die damals in dem Buch – genannt »Księga Szkocka« – aufgezeichnet waren, hat der schwedischer Mathematiker Per Enflo die Antwort erst Anfang 70ger Jahre gefunden – und die ausgelobte Gans entgegengenommen…
Der letzte Eintrag aus dem Jahr 1941 stammt von Hugo Steinhaus. Es gelang während der deutschen Okkupation das Buch außer Land zu bringen. Die Tradition der »Ksiega Szkocka« wurde eifrig in der Welt fortgeführt und – sie wird weiter fortgeführt. Das Buch, das Einfluss auf den Lauf der Welt nahm und noch nehmen wird, wird an einem unbekannten Ort in den Vereinigten Staaten aufbewahrt und behütet. Es enthält noch viele ungelöste Fragen.
„1968 war nicht das Jahr, das alles verändert hat, dazu war viel zu viel bereits im Gang. Aber nach ’68 war fast nichts mehr so wie vorher. Und in diesem Sinn war ’68 überall.“
„Mir scheint, die Kinder des nächsten Jahrhunderts werden das Jahr 1968 mal so lernen wie wir das Jahr 1848“ – Hannah Arendt an Karl und Gertrud Jaspers, 26. Juni 1968
In dem Machtzentrum des Staates, also in dem Zentralkomitee der Arbeiterpartei gab es schon früh die Erkenntnis, dass die Machthabenden zunehmend an Popularität verlieren. Und lange vor dem Jahr 1968 gab es eben in diesem Machtzentrum Überlegungen, was gegen die schwindende Popularität zu tun wäre. Eins war klar: Um wieder Popularität zu erlangen, müsste man eine feindliche Stimmung zwischen der Arbeiterklasse und den anderen Gruppen der Gesellschaft schaffen. Die Fraktionen in dem Machtzentrum waren aber miteinander zerstritten und konnten sich nicht einigen, wie der gewünschte Ziel zu realisieren sei – wen man angreifen müsste: die Studenten, die Intelligenzija, oder die Juden (Samuel Sandler, Gazeta Wyborcza). Und plötzlich hatten alle Puzzleteile gepasst: Die Studenten waren in ihrer Oppositionsarbeit allzu aktiv, es gelang nach vielen Versuchen nicht, die immer deutlicher enttäuschte Intelligenzija in der Tat zu unterwerfen – und zu aller letzt, die Juden bekundeten offensichtlich ihre Sympathie für den Staat Israel und ihre tiefe Freude über den gewonnenen Sechstagekrieg. Die bis dahin zerstrittenen Fraktionen des Machtzentrums konnten sich im Frühling 1968 auf alle drei Gesellschftsgruppen einigen… Die Pläne der Regierenden waren uns allen zu damaligen Zeit nicht in dieser Klarheit bewusst.
Unterdessen hatte die Avantgarde versucht, ihre noch so geringen Möglichkeiten, politische Veränderungen zu erzwingen, zu nutzen. Denn es war allen klar gewesen, dass man nicht tatenlos zusehen konnte, wie die demokratischen Freiheiten immer weniger wurden und alles, was den Fortschritt hätte bringen können, im Keim erstickt wurde.
Nicht verwundert waren wir Studenten aus anderen Zentren also über die immer wieder durchsickernden Nachrichten – aus Warschau, denn Polen ist ein zentralistisches Land und das Wesentliche geht von der Hauptstadt aus – dass Studenten, Professoren, Schriftsteller und Künstler nicht mehr schweigen wollten. Wir wussten, wenn auch sehr wenig, über das Wirken einer Gruppe von Studenten, die sich dem Kampf um die von Gomułka verratenen Ideale des Oktober ’56 verschrieben hatte. Ihr Ziel war nicht die bürgerliche Demokratie, kein Umsturz also, sondern eine Reform des Systems im Geiste des demokratischen Sozialismus. Aus diesem Grund wurden sie als „Revisionisten“ deklariert.
Folglich waren wir in dieser Atmosphäre nicht überrascht, als eines kalten Märztages 1968 die Nachricht aus Warschau kam, auf der Warschauer Universität und auf der Technischen Hochschule, der Politechnika, gewaltige und gewaltsam unterdrückte Proteste der Studenten ausgebrochen seien. Die Namen, die immer wieder fielen, waren uns nicht unbekannt, es handelte sich um die „Revisionisten“, die Studenten: Adam Michnik, Karol Modzelewski, Jacek Kuroń, Jan Lityński, Seweryn Blumsztajn, Józef Dajczgewand, Barbara Toruńczyk, Henryk Szlajfer und um die Professoren der historischen und philosophischen Fakultät: Włodzimierz Brus, Leszek Kołakowski, Zygmunt Bauman, Krzysztof Pomian, Maria Hirszowicz, Bronisław Baczko und andere. Diese beiden nicht formellen Gruppen, Studenten und Professoren, hatten seit Langem zusammen gearbeitet: In dieser Zeit war die Warschauer Universität der – wohl die einzige in Polen – ein Ort der unabhängigen geistigen und somit auch politischen Arbeit. Diese beiden Gruppen, eng verbunden, waren, wenn auch nicht ganz hermetisch, doch aufgrund der früherer politischen Arbeit, der wissenschaftlichen Interessen und der gesellschaftlichen Verbindungen bis zu einem gewissen Grad geschlossen.
Was war aber unmittelbar vor den Protesten und Streiks an der Uni und an der TH, die sich auf das ganze Land ausgegossen haben, geschehen?
Wie immer in Polen, auch diesmal ging es um die Wirkungskraft der Literatur und Kunst auf das aktuelle politische Leben. In der Theater-Wintersaison 1967/68 hatte das Nationaltheater in Warschau das berühmte Stück von Adam Mickiewicz, das übrigens auch Schullektüre gewesen ist, „Dziady“ vorgeführt. In diesem Drama aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, ging es um das Leid eines jungen Menschen auf dem Hintergrund der Teilungen der Adelsrepublik. Die Gestalten des Dramas sind die zaristischen Machthaber, es handelt sich um die politische Unterdrückung, die Ursache jeglichen Leides und Demütigung der Polen. So war jedes Wort, das Mickiewicz am Anfang des 19. Jahrhunderts schrieb, auch nach 130 Jahren, im sozialistischen Polen, aktuell. Der Schauspieler in der Rolle des jungen Helden, einer der größten Schauspieler dieser Zeit, hat durch seine Intonation die Parallele noch unterstrichen. Der Applaus der Zuschauer war eine Meinungsäußerung, mehr noch, es war eine Demonstration.
Die Zensur hatte das Drama – nach nur acht Vorstellungen! – vom Spielplan genommen. Das hat massive Proteste der Studenten und der Intelligenzija ausgelöst. Infolge der Proteste gegen das Eingreifen der Zensur sind nach der Entscheidung, die im Ministerium, und nicht auf der Uni – ein Angriff auf die Autonomie der Universitäten – gefallen war, Adam Michnik und Henryk Szleifer von der Uni verwiesen worden – unter anderm deshalb, weil sie die Informationen über das Eingreifen der Zensur an französische Korrespondenten weiter gegeben hatten. Aus Protest gegen die Relegation von der Uni wurde eine Demonstration organisiert, eine andere auf der Technischen Hochschule. Von dort hatten sich die Proteste wie Lauffeuer auf alle Uni-Zentren des Landes ausgegossen.
Die Schriftsteller des polnischen Pen Clubs: Paweł Jasienica, Antoni Słonimski und Jerzy Zawieyski hatten sich mit offenen Protestbriefen an das Kultur- und Wissenschaftsministerium und an das Kulturreferat des ZK gewandt, an das Parlament, dem noch pro forma eine Gruppe unabhängiger Parlamentarier angehörten, wurde von diesen eine Interpellation gestellt. (In diesem Zusammenhang muss der Name des späteren Premierministers der freien Republik, Tadeusz Mazowiecki, erwähnt werden.) All diese Proteste waren unerhört! Also erfuhren wir bald über die Folgen solcher Schritte: – Es waren ausnahmslos Repressalien und Verunglimpfungen der bekannten Persönlichkeiten, die den Mut hatten, den Machthabern die Stirn zu bitten.
Bis zu dieser Zeit waren Universitäten, sowie auch Kirchen, exterritoriale Orte – als Ausdruck der Autonomie. Unter anderem hatte hier die Miliz keinen Zutritt gehabt. Die Befehlshaber der Miliz wie auch die Parteifunktionäre hatten sich anfänglich daran gehalten, oder sie haben wenigstens nicht ohne Weiteres die fest verankerte Autonomie der Hochschulen zu brechen gewagt. Aber darum ging es doch, diese zu brechen! Die Truppen sind also schon früh genug auf dem Uni-Gelände in Bussen mit der Aufschrift „Ausflug“ postiert worden. Als die Demonstration angeschwollen war, sind die „Ausflügler“, als Arbeiter verkleidet, aus den Bussen gesprungen und haben die Jugend mit Schlagstöcken attackiert. Das war ein unerhörtes Vorgehen! Das hat die Proteste noch verstärkt und mit Nachdruck im ganzen Land entfacht.
Das Gären, die Stimmung unter den Studenten waren selbstverständlich den Herrschenden nicht entgangen. Sie waren gut vorbereitet: Die Proteste wurden nicht nur mit Gewalt erstickt, sondern sie wurden auf Grund dessen, dass viele aus der aktiven Gruppe Juden oder jüdischer Abstammung waren, für eine beispiellose antisemitische Hetzte genutzt. Warum denn?
Acht Monate früher war der Sechstagekrieg zwischen Israel und den arabischen Staaten ausgebrochen. „Als Israel im Jahr 1948 entstanden und sofort von den arabischen Staaten überfallen wurde, herrschte große Not an Waffen. Weder Amerikaner noch Briten halfen den Juden, sich zu verteidigen. Die von Israel eingesetzten Messerschmidts und Karabiner wurden von der UDSSR heimlich über die Tschechoslowakei geliefert“, ich zitiere frei nach haGalil.com. „Der Staat Israel sollte ein Vorposten des Kommunismus, ein bolschewistischer Staat im Nahen Osten werden. In den Kibbuzim, glaubte man, seien die wahren Ideale des Kommunismus verwirklicht worden. Stalin war für viele sozialistisch oder kommunistisch denkende Staatsgründer ein Held. Mit dem Tod Stalins und wegen des Kalten Krieges endete der israelische Flirt mit Moskau. Deutschland, Frankreich und Großbritannien lieferten nun die Waffen, während die Sowjetunion Irak, Libyen, Ägypten und Syrien, später auch die PLO, aufrüstete.“ So wurde Israel nach dem Ausbruch des Sechstagekrieges von der Sowjetunion mit einer Hasskampagne überzogen. Dieser Hasskampagne hatten sich auch die Regierenden in Polen verpflichtet gefühlt. Da passte es doch wunderbar! Die Kerngruppe der politisch aktiven Jugend und Künstler wurde als die 5. Kolonne des Staates Israel verschrieen, das Schimpfwort war: „die Zionisten“. Auch in Polen des Jahres 1968 hatte sich der Antisemitismus in seiner neuen Gestalt gezeigt: Als Antizionismus.
Auf den Straßen haben die Menschen offen ihr Antisemitismus demonstriert. Es wurden von den Machthabenden antijüdische Säuberungen, die vor allem als Ausdruck der Auseinandersetzungen in den Fraktionen im Parteiapparat zu betrachten sind, initiiert. Die jüdischen Studenten wurden von den Hochschulen verwiesen, die Professoren, die Journalisten, vor allem aber Politiker wurden entlassen. Alles mit dem Akkompagnement der Kakophonie der berühmt-berüchtigten Reden von Gomułka, Edward Gierek, der bald die Macht in Polen übernehmen sollte, sowie anderer Politiker und regimetreuen Journalisten. Kurz darauf hat man den jüdischen Professoren, Studenten, Künstler und deren Familien einen Pass ohne Recht auf Rückkehr angeboten. Viele, viele sind gegangen: nach Schweden, nach Dänemark, nach Amerika, nach Israel. Diese antisemitische Kampagne wahr wohl die erste und die letzte, die es im sozialistischen Polen gelungen war, durchzuführen.
Ich war zu dieser Zeit Pädagogik- und Philosophiestudentin in Breslau. Selbstverständlich haben sich die meisten Studenten unserer Universität an den Protesten, den Streiks und Demonstrationen beteiligt, selbstverständlich haben wir kein anderes Gesprächsthema gekannt. Unsere Professoren, diese die wir auch sonst am meisten schätzten und respektierten, waren mit uns vollkommen solidarisch, hatten uns in unserem Handeln unterstützt und uns beraten.
Die März-Ereignisse waren für mich ein Schlüsselerlebnis: Wir, Philosophiestudenten, im gewissen Sinne die Elite der Universität – denn um Philosophie studieren zu können, musste man schon seit wenigstens zwei Semestern an einer anderen Fakultät eingeschrieben worden sein, und es war nicht üblich, auf zwei Fakultäten zu studieren, musste also das eigene Interesse an dem Fach groß sein – wir waren im Auge des Zyklons. Unsere Gespräche, Diskussionen, sowohl während der Seminare und Übungen, als auch in Cafés und Studentenclubs fortgesetzt, drehten sich nur um dieses eine Thema. Nie werde ich aber den einen Tag vergessen: Den Tag, an dem sich aus unserer kleinen Gruppe mehrere Kommilitonen, mit Trennen in den Augen, verabschiedet haben: Sie gingen nach Schweden, nach Dänemark, nach Amerika, nach Israel… Der tragische in seiner Entschlossenheit Ausdruck der Augen von dem Freund, der nach Israel, gleich in den Militärdienst uns somit in den Krieg ging, sehe ich noch heute. Dieser Schock hat mich für mein ganzes Leben geprägt. In meiner jugendlichen Naivität glaubte bis dahin fest daran, dass nach Auschwitz ein Antisemitismus nie, aber wirklich nie mehr möglich ist. Jetzt wusste ich es. Und ich wusste fortan, wie meine eigene Haltung ist.
Diese Erfahrung hat auch dann, als ich schon im Westen lebte, meine entschiedene Einstellung dem westeuropäischen Antizionismus, der eben nichts anderes ist als ein den heutigen Gegebenheiten angepasster Antisemitismus, gegenüber, beeinflusst.
Aber zurück in das Jahr 1968. Nach den Osterferien stieß zu unserer jetzt sehr klein gewordener Gruppe der Adepten der Philosophie ein Student aus Warschau. Durch sein Wissen, seine herausragende Intelligenz und Denkreife wurde er in kürzester Zeit die wichtigste Person in unserer Gruppe, die zugleich offiziell ein Jahrgang war.
Wir wussten, dass dieser neue Kommilitone einige Wochen davor von der Warschauer Universität, als an den Protestaktionen in Warschau Beteiligte, relegiert wurde. Er hat diese Tatsache und die persönlichen Begleitumstände dieser, auch dies, dass er Jude ist, in einem vertraulichen Gespräch dem Dekan mitgeteilt. Daraufhin ist er vom Präsidenten der Breslauer Universität von der Studentenliste gestrichen worden.
Das Entsetzen bei uns war groß. Ein sofortiger Entschluss der Gruppe war: Wenn unser Freund nicht studieren darf, wollen wir es auch nicht. Wir verzichten alle auf das Philosophiestudium. Schließlich ist es unsere zweite Fakultät. Die meisten haben aus reinem Interesse am Philosophieren studiert, ein Muss war es nicht.
Und wenn auch einige Monate zuvor an der Warschauer Universität ganze Fakultäten im Zuge der Repressionen geschlossen wurden, in Breslau wollte die Universitäts-Leitung das Auseinanderfallen eines ganzen Jahrgangs nicht akzeptieren. Auf uns ist von der Uni-Leitung ein enormer Druck ausgeübt worden, wir ahnten auch, dass die just zu dieser Zeit neu dazu gekommenen Kommilitonen, die kaum Interesse für Platons Dialoge und Ähnliches zu zeigen vermochten, mit größter Wahrscheinlichkeit die Aufgabe hatten, unsere Gespräche weiter zu leiten und über die Stimmung in der Gruppe bei der Uni-Leitung wie auch bei dem Sicherheitsdienst zu berichten. Wir sind regelrechten Verhören vom Uni-Präsidenten unterzogen worden – mit einem Wort, der Druck auf uns, unseren Widerstand aufzugeben, war groß. Zumal wir alle jung waren und dies unsere erste Erfahrung mit der Staatsmacht war, hier in Person des Unipräsidenten, der nicht die Wissenschaft repräsentiert hatte, sondern tatsächlich die Staatsmacht. Es wurde der Obrigkeit jedoch klar, dass wir fest entschlossen waren, ohne unseren Freund auf das Pilosophiestudium zu verzichten.
Warum dies der Leitung der Uni nicht passte, haben wir nie erfahren… Nach längerer Zeit, nach zähen Verhandlungen und zahlreichen Verhören, ist der Status unseres Freundes als Student wiederhergestellt worden.
Das war unser großer Sieg!
Heute, nach über vierzig Jahren ist es für die damals Nichtbeteiligten und für die nachfolgende Generation kaum nachzuvollziehen, was für uns einerseits die März-Bewegung überhaupt und andererseits der eine, damals so wesentliche Kampf um unseren Freund bedeutet hatten. Aus der heutigen Perspektive kann ich es so beschreiben: Wir hatten uns in dieser Zeit das erste Mal in unserem jungen Leben und das letzte Mal für viele Jahre als wirklich freie Menschen empfunden. Frei Denkende, frei Handelnde. Es ist ein Pardoxon, aber trotz sofortiger Repressalien, hatten uns die März-Ereignisse ein starkes Freiheitsgefühl gegeben. Es bleibt unvergessen!
Die Rechnung der Herrschenden war jedoch aufgegangen: Es gelang für viele Jahre einen Keil zwischen die Arbeiterklasse die anderen Gesellschaftsgruppen zu treiben. Als in Dezember 1970 die Werftarbeiter gegen massive Preiserhöhungen für die Grundlebensmittel auf die Straße gegangen waren – man muss wissen, dass in der Planwirtschaft Preise für Brot, Zucker, Butter u.a. nicht anderswo als im Zentralkomitee der Partei bestimmt wurden! – waren die Arbeiter mit ihrem Protest allein. Es mussten noch weitere Jahre vergehen, bis es möglich war, dass die Intelligenzija Hand in Hand mit den Arbeitern, die Grundfeste der sowjetischen Herrschaft in Polen umstoßen konnte.
Auch wenn es zu damaliger Zeit und ebenso später viele Skeptiker gab, die in dieser Studentenrevolte eine Provokation, ein von langer Hand geplantes Spiel der sich gegenseitig bekämpfenden Fraktionen im ZK der Partei sahen, verwahre ich mich, genauso wie viele von den damals Engagierten, dagegen. Für uns alle war das ein lang erwarteter Versuch, die Freiheit – und nichts weniger – zu erlangen.
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Diese März-Ereignisse sind zum Gründungsmythos der heutigen freien Republik Polen geworden. Bemerkenswert ist, dass die damals aktiven jungen Menschen in nachfolgenden Jahren prägend an der Arbeit der Opposition beteiligt gewesen sind, im Untergrund, versteht sich, und federführend an der unblutigen Umgestaltung des Landes im Jahre 1989. Heute gehören sie der intellektuellen- und der Macht-Elite des Landes.