• »…dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng…«

– 1. Teil

Zygmunt Bauman:
Alexander Sołżenicyn in der Zeit seiner Verbannung schlug seinen Landsleuten „einen Tag ohne Lüge“ vor; er meinte, es reicht ein Tag und das sowjetische System bricht zusammen. Ob er recht hatte, erfahren wir nie, die Vorstellung war aber nicht mehr absurd als das System, auf das sie sich bezog.

Diese Worte gelten für jedes totalitäre System, denn diese sind auf Lügen gebaut. Heute, als es schon möglich ist, die unvorstellbaren Verbrechen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts genau zu untersuchen – die Archive, die über Jahrzehnte…

geschlossen waren, stehen nun seit 20 Jahren zur Verfügung – heute, als die dritte Generation nach dem Geschehenen sich dieser Materie annimmt und Bücher erscheinen, die die Verbrechen und ihre Opfer nicht nur ziemlich genau aufzuzählen in der Lage sind, aber diese Menschen auf dem letzten Weg, kurz vor ihrem Tod noch einmal wie lebendig erscheinen lassen, diese Bücher sind dick und schwer. Die Bilder, die bei der Lektüre entstehen, sie reißen den Leser in die Abgründe. Es stellt sich die Frage, wo der erste Anfang, der Ursprung dieser Verbrechen war. Und vor allem: Wann war es möglich umzukehren? Und noch etwas: Wer hätte die Macht, die Umkehr zu bewirken?

„Eichmann in Jerusalem – Ein Bericht über die Banalität des Bösen“ – so Hannah Arendt. Sie zeigt, wie mühelos sich Menschen in furchtbarste Verbrechen verstricken, ihnen dabei sogar den Anschein des Guten geben können und diese Verbrechen auf einmal als ihre Lebensaufgabe betrachten und sie so erscheinen lassen. Mich aber interessiert hier, was der Urbeginn, was der aller erste Schritt auf diesem Weg ist, auf dem die Umkehr nicht mehr ohne Anwendung großer Gegengewalt möglich ist.

Was ist also die erste Station auf dem Weg bis hin zum Massenmord?

Eines ist klar, am Ende dieses Weges sind Menschen, die wie Roboter andere Menschen töten – wie Roboter, weil sie nicht mehr imstande sind, ihr aller Menschlichstes, das Gewissen, sprechen zu lassen. Und Massengräber krönen das Werk.

Wie war es also möglich, damals, vor 70 und 90 Jahren in Osteuropa? Und, nicht weniger wichtig zu fragen: Kann es heute oder morgen wieder möglich sein?

Die ganze Zivilisationsgeschichte gibt Zeugnis dafür, dass der Mensch vor sich selbst, vor seiner eigenen Natur geschützt werden muss. Mit Gesetz. Im Anbeginn der Zivilisation ist Moses, der der Menschheit etwas schenkt, was er vorgibt, von Gott bekommen zu haben, die Zehn Gebote. Sie werden im Verlauf der Jahrtausende, durch die ganze Geschichte der Zivilisation hindurch in jedwede Morallehre und jedwede Gesetzgebung eingehen. Diese zehn Gebote kommen an den Menschen scheinbar von Außen heran, in Wirklichkeit sind sie jedoch tief in der menschlichen Seele eingeschrieben. Die biblische Erzählung spricht eigentlich nur vom Bewusstwerden der ordnenden Kraft dieser Ge- und Verbote im zusammenleben mit anderen Menschen und im individuellen – von der Gewissensbildung.

Was ist das aber für eine Kraft, die im Menschen das Gewissen ausschaltet und im Rechtsleben einer Gesellschaft die Regel so verändert, dass die einer Menschenseele immanenten Gebote sich in ihr Gegenteil umkehren? Was passiert da? Ein alter Topos zeigt die menschliche Seele als Schauplatz eines ewigen Kampfes. Man sagt, es ist der Kampf zwischen entgegengesetzten Kräften, zwischen Leben und Tod, zwischen Gut und Böse. Was muss aber passieren, dass das Gute im Menschen verliert und das Böse gewinnt?

Was markiert eigentlich den Beginn? Wann begibt sich der Mensch auf die abschüssige Bahn?

Festzustellen ist, dass am Anfang auf die im Menschen im Verborgenen stark wirkenden Kräfte – Neid und Hass, Gier und Hochmut – stets eine Lüge trifft. Lüge – die selten als solche erkannt wird – verwandelt Neid und Hass und Gier in dämonische Kräfte. Das alles klingt naiv und passt scheinbar in unsere aufgeklärte Welt nicht mehr. Es ist aber nicht naiv und es wäre gut, fände diese Sprache zurück in unser Bewusstsein – nicht nur als Metapher.

Anna Achmatowa:
»Ich wollte sie alle mit Namen nennen,
Doch man nahm mir die Liste, wer kennt sie noch?«

Die neuere Geschichte des alten Europas ist eigentlich eine Geschichte der Eroberungen. Als es im Okzident zu eng wird, machen sich mutige und abenteuerfreudige Menschen auf den Weg, um weit von der europäischen Zivilisation entfernte Länder zu erkunden und zu erobern – und dabei neue Quellen des erhofften Reichtums zu erschließen. Schiffe der englischen und der spanischen, der französischen, portugiesischen und der niederländischen Flotte fahren hinaus, um für ihre Könige die Schätze der Welt zu erobern. In noch früheren Jahrhunderten waren es die Händler, die die begehrten Waren von entfernten Ländern brachten, ab jetzt geht es aber darum, diese nicht mehr zu kaufen, sondern die Rechte für die Exploration der Natur- und Kulturschätze für sich zu sichern. Gerne unter dem Vorwand, den christlichen Glauben verbreiten zu wollen oder neue Freiheit für sich selbst zu finden. Beides legitime Motive, deren Verwirklichung jedoch stets das Leben der Einheimischen kostet. Trotz dieser Tatsache wird der Welteroberung, der Kolonisation ganzer Länder und Kontinente ein Anschein des zivilisatorischen Wirkens gegeben.

Im 19. Jahrhundert versucht Deutschland auf dem Gebiet der kolonialen Eroberungen zwar mit den westeuropäischen Ländern Schritt zu halten. Die deutschen Eroberungen in Afrika sind jedoch ineffizient, wenn auch blutig und grausam; auf den entfernten Kontinenten sind die anderen westlichen Eroberer erfolgreicher. Für Deutschland ist es aber nicht Afrika, nicht Asien, sondern der Osten Europas das wahre Ziel und die Stoßrichtung der Eroberungen, des angestrebten Machtzuwachses. Wenn in früheren Jahrhunderten eine friedliche Besiedelung fremder Gebiete möglich ist und deutsche Siedler gen Osten ziehen, um die nach den Tatareneinfällen entvölkerten Gebiete in Besitz zu nehmen, oder den jungen polnischen Städten das Handwerk zu bringen, so ist es etwa seit dem 18. Jahrhundert, als Friedrich der Große sich anschickte, zusammen mit dem Zar und der ihnen zur Hilfe eilenden Maria Theresia das große traditionsreiche Königtum Polen sich einzuverleiben, ganz anders. Jetzt geht es darum, große Gebiete samt der Einwohner zu besetzen. Dem eigenen Volk, dem man doch Sinn für Gerechtigkeit unterstellt, muss man das offensichtliche Unrecht erklären und letztendlich schmackhaft machen. Und wie geht es am besten? Mit Lüge doch, mit Propaganda. Und mit Gewinnversprechen.

Friedrich II. begründet die Einverleibung großer Gebiete Polens mit der angeblichen Unfähigkeit der Polen, einen eigenen Staat zu bilden, ihn zu verwalten und letztendlich zu erhalten. Trotz der zu dieser Zeit im Königreich Polen laufender großer Reformanstrengung, trotz des ersten modernen Grundgesetzes in Europa unterliegt dieser Staat der militärischen Macht der drei Anrainerstaaten, die übrigens in Gegensatz zu Polen allesamt absolutistische Monarchien sind. In Laufe der Zeit, mit dem wachsenden Nationalismus, erklärt man die eigene Macht- und Geldgier mit der Behauptung, die Deutschen als Kulturträger hätten im Osten Europas eine Zivilisatorische Mission zu erfüllen. Wie wohlklingend diese Lüge.

Die aus deutschen Landen in das Gebiet des Königtums Polen eingewanderten Kolonisten der früheren Jahrhunderte verschmelzen bis auf ihre Namen – diese überdauern einzig die Zeit – mit der alt eingesessenen Bevölkerung. Die Assimilation ist so gut wie vollständig, die Deutschen werden vielmals zu glühenden polnischen Patrioten. Diese friedliche Einwanderung, die in Assimilation mündet, nimmt zur Zeit der Teilungen ein Ende. Jedoch bis zum Vormärz ist auf dem deutschen Gebiet keine ideologische, geschweige denn rassistische Einstellung zu den östlichen Nachbaren anzutreffen. Erst als sich die Nationalversammlung in der Pauluskirche im Namen des Nationalinteresses entscheidet, die Einverleibung der polnischen Gebiete festzuschreiben, findet ein Paradigmenwechsel statt – aus einer demokratischen Bewegung wird eine konservative und imperiale. Und durch diese Entwicklung wird die deutsche Ostpolitik des nächsten Jahrhunderts impliziert.

Aufgrund einer massiven Propaganda wandelt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Bewusstsein der Deutschen im Bezug auf die Kolonisierung der Ostgebiete und zwar im Sinne des nationalen Hochmutes und des Chauvinismus: Die ab 1871 militärisch durchgesetzte Unterdrückung und Germanisierung der östlichen Gebiete wird legitimiert durch die geglaubte Kulturlosigkeit der Polen und eine – tatsächliche – Rückständigkeit des Landes. Es gipfelt in dem Versuch, den Polen die Fähigkeit zu historischer Existenz als Nation abzusprechen, was seinen Ausdruck im Kulturkampf fand, im Kulturkampf, der sich im Westen als Konflikt zwischen dem Staat und der katholischen Kirche äußert, im Osten jedoch einen antipolnischen Charakter besitzt. So werden die Polen zu Bürgern zweiter Klasse, die Landbesitzer werden enteignet, die Landbevölkerung durch neue Ansiedlung aus dem Westen, zurückgedrängt. Schriftsteller wie Gustav FreytagHeinrich von Treitschke oder Max Weber bringen ihre Verachtung und ihr Hass auf die Polen in ihren viel vom deutschen Bürgertum gelesenen literarischen Werken zum Ausdruck. Der lügnerische Stereotyp, die Deutschen seien in Osteuropa die „Kulturträger“ hat sich über fast zwei Jahrhunderte in der deutschen Mentalität so tief festgesetzt, dass er noch heute öfters als erwartet in einem Gespräch zum Vorschein kommen kann.

Ein anderes Bild ergibt in dieser Zeit eine diffuse Angst vor dem russischen Volk, Angst, die von Bewunderung auf der einen Seite und Hass auf der anderen begleitet wird. Diese Ambivalenz ist ein Zeichen der gegenseitigen Anziehungskraft der beiden Völker. Seit der Öffnung des östlichen Landes während der Herrschaft von Zar Peter dem Großen spielen die westlichen Eliten eine große Rolle bei der Modernisierung des Landes. Der Kampf gegen Napoleon verbindet das russische und das deutsche Volk, in der Volkstradition der deutschen Landen hingegen bleiben Russen eine grausame, menschenfeindliche, wilde Masse. Dieses enthumanisierte Bild bleibt beherrschend auch in der Zeit des Nationalsozialismus und des 2. Weltkrieges.

In der ersten Hälfte de 20. Jahrhunderts nimmt der alles beherrschende Hass gegen die Polen und gegen den nach dem Versailler Frieden entstandenen polnischen Staat – und auch der Hass gegen die Russen – bisweilen infernale Züge, es wird klar, dass es über kurz oder lang zur einer Katastrophe kommen muss. Die schiefe Ebene, die vom Leben weg führt zum Tod, gibt keine Gelegenheit mehr zur Umkehr.

Zurück in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts: Eine andere Migrationsbewegung findet statt: Aus dem zaristischen Russland, in erster Linie aus Litauen und Weißrussland und aus der habsburgischen Monarchie, aus Galizien und Ukraine, ziehen nach Deutschland, allen voran nach Berlin, die Juden. Gebildet und bildungshungrig wie sie sind, finden sie erstaunlich schnell Anschluss an das wirtschaftliche und kulturelle Leben Deutschlands. Die Tatsache, dass sie in der ersten, spätestens in der zweiten Generation, viele wichtige Stellen im Staat und Gesellschaft einnehmen, wird ihnen schnell zum Verhängnis: Der zuerst im Verborgenen wirkende Neid und der um sich greifende Hass werden durch den 1. Weltkrieg und die nachfolgenden wirtschaftlichen Krisen weiter gesteigert, die Propaganda, ein Gebäude aus ungerechtfertigten Schuldzuweisungen, Lügen und Halbwahrheiten verfällt nicht ihre Wirkung. Und endet im Völkermord.

Infolge Hitlers Wahnvorstellungen von einem Lebensraum, den man auf Kosten von zig Millionen Menschenleben beabsichtigt zu erobern, kommt es erneut zum Krieg. Außer der unter Vertreibung und Aushungerung erfolgten Eroberung der osteuropäischen Gebiete, ist die Lösung der „jüdischen Frage“ das weitere Ziel dieses Krieges. Als sich herausstellt, dass es nicht gelingen wird, 30 Millionen vor allem Russen und Weißrussen verhungern zu lassen, dass also das wichtigste Ziel des Krieges, den Lebensraum für die Deutschen zu erobern, nicht erreicht werden kann, wendet sich die Kriegsmaschinerie ihrem zweiten Ziel, der „Judenfrage“ zu. Und die Utopie, Europa ohne Juden zu schaffen, wird durch die Vernichtung eines Volkes erreicht, das seit Jahrhunderten vor allem in den Gebieten von Ostpolen, Litauen, Weißrussland und der Ukraine lebt.

Die Lüge, mit der das deutsche Volk seit zwei Jahrhunderten genährt wird, wirkt so mächtig, dass sie aus Menschen gemeine Mörder macht, Mörder, denen man es beigebracht hat, Verständnis für Gut und Böse umzukehren. Die Befriedigung von Gier ist in dieser Zeit die zweite Säule des Erfolgs von Hitlers Staat. „Gestützt auf glänzend ausgebildete Experten, transformierte die Regierung Hitler den Staat im Großen in eine Raubmaschinerie ohnegleichen. Im Kleinen verwandelte sie die Masse der Deutschen in eine gedankenlose, mit sich selbst beschäftigte Horde von Vorteilsnehmern und Bestochenen. Diese Politik des gemeinnützigen Ausraubens fremder Länder, so genannter minderwertiger Rassen und Zwangsarbeiter, bildet den empirischen Kern meiner Studie“schreibt Götz Aly während der Debatte, die er mit seinem Buch „Hitlers Volksstaat“1 entfacht hat.

Dieses „man darf es“ – morden und rauben – erstreckt sich selbst auf die vom Hitler unterjochten Völker. Zwar ist der Hass auf Juden auch in Osteuropa seit dem 19. Jahrhundert lebendig, gern durch die katholische Kirche unterstützt, jedoch das absolute Aushebeln aller moralischen und rechtlichen Regeln geht auf die verhältnismässig kurze Zeit der Nazi-Herrschaft in Europa zurück. Als der uralte Hass auf Juden auf Ansporn und generelle Billigung durch die Okkupationsmacht trifft, erlebt Osteuropa eine beispiellose Orgie von Mord und Raub: Es morden und plündern nicht nur die berüchtigten deutschen Einsatzgruppen, sie finden willige Helfer bei vielen polnischen Bauern, die sich gern des jüdischen Eigentums bemächtigen und es geht hin bis zum späteren jahrelangen durchwühlen der Erde in den früheren Vernichtungsstätten von Treblinka, Bełżec, Sobibór. Auch die von den Deutschen entsprechend geschulten Mordhelfer kommen aus der Ukraine, aus Litauen, um hier nur die Schaulissen2, die litauischen SS-Männer, zu erwähnen, die sich durch besondere Grausamkeit hervortun, die mit der schon dem Untergang geweihten Armee gen Westen gehen, mordend und mordend.

Das sind die Hauptthemen der Bücher von Tymothy Snyder und Götz Aly. Sie sind der Beginn einer Anstrengung, nach 65 Jahren seit dem Beenden des Krieges, viele bis dahin unbekannten und nicht ausgewerteten Quellendokumente der Nachwelt zu erschließen. Diese Auswertungen sind für den Leser erschütternd. Sie müssten für die heutige und zukünftige Welt eine tief wirkende Mahnung sein. Das ist der Wunsch, wie ist aber die Wirklichkeit? Eine wichtige Frage ist dabei: Werden die Erkenntnisse überhaupt aufgenommen und wenn ja, werden sie nicht sogleich verdrängt?

Die Erfahrungen der Nazizeit und des Krieges sind so schrecklich, dass die Vorstellung, eine Lehre muss daraus gezogen worden sein, nicht abwegig ist. Es verhält sich aber nicht überall so. Erschreckend ist, dass heute in Deutschland wieder – und das verdanken wir der unaufhörlichen Arbeit der Chefin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach – die alten Lügen und neue hinzu verbreitet werden. In einer aktuell durch das Hessische Sozialministerium verbreiteten Schrift zum Thema Vertreibungen, aus der Feder von Alfred de Zayas, werden folgende Thesen verbreitet:

– Als Ursache für die „größte Vertreibung der Geschichte“ wird u.a. „der dynamische slawische Nationalismus des 19. Jahrhunderts“ genannt.

– Der Zweite Weltkrieg sei „zwar der Anlass, nicht aber die Ursache“ des schrecklichen Schicksals der Heimatvertriebenen.

– Die Mehrheit der Deutschen habe bis 1945 vom Holocaust nichts gewusst.

– Die Vertreibungen hätten den Charakter des Völkermordes.

– „Die Vorstellung, vollgezogene Vertreibungen seien unumkehrbar, ist weit verbreitet, aber nicht zutreffend.“

– Die Flüchtlinge und Vertriebenen hätten nicht nur Anspruch auf Rehabilitierung und Wiedergutmachung, sondern „ein Recht auf Rückkehr und Eigentumsrückgabe“.

Bei der Lektüre dieser Schrift vergeht einem der Glaube daran, dass aus der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges dauerhaft Lehren gezogen werden. Verbreitet werden weiter Lügen.

Wenn es aber in der westlichen Welt im Großen und Ganzen so zu sein scheint, als hätte der Mensch aus dem Geschehenen gelernt, scheint der Hass auf die Juden und ihren Staat in der arabischen Welt an Boden zu gewinnen. Der Vernichtungswille der Nazis wird von vielen Muslimen übernommen – und weiter entwickelt. Diese Tradition reicht in die Zeit des Mufti von Jerusalem (Muḥammad Amīn al-Ḥusainī)3, lebt aber seit der Gründung des jüdischen Staates ein neues Leben. Kurz gesagt: Die arabischen Völker werden, zusätzlich zu dem ursprünglichen muslimischen Antisemitismus, unentwegt mit der alten europäischen Lügen gespeist – Lügen, deren Wirkung ganz und gar bekannt ist aus Europa –, um den Hass lebendig zu erhalten und die Menschen für eine Vernichtung des jüdischen Volkes zu präparieren. „Protokolle der Weisen von Zion“4 werden in neuen Auflagen herausgegeben, sie werden verfilmt. Seriöse arabische Zeitungen bitten eine Plattform für die Thesen aus den „Protokollen…“ und diese Tatsache wird kaum beachtet. Was psychologisch bedeutet, diese Thesen finden beim Leser Eingang – ob bewusst, oder unbewusst – und werden durch nichts abgewehrt.

Der arabische Antisemitismus ist im Nahen und Mittleren Osten weit verbreitet, diese Tatsache findet erstaunlicher Weise nicht genügend Beachtung in der europäischen Öffentlichkeit.

Mahmud Ahmadinedschad, der iranische Präsident, bringt den muslimischen Antisemitismus auf den Punkt: Mit seinen aggressiven anti-israelischen Äußerungen und den Aufrufen zum bewaffneten Kampf gegen Israel erregt er Aufsehen in der ganzen Welt. Die Gefahr, die aus der Tatsache, dass Iran Atomwaffen anstrebt, resultiert, wird wahrgenommen, die Welt hat jedoch – außer Sanktionen – keine Antwort darauf. Die Sanktionen sind völlig unzureichend, das Atom-Programm wird weiter verfolgt. Zwar ist es kein Geheimnis, dass das vermehrte Aufrüsten im Iran allen voran der Stärkung der Position in der umliegenden arabischen Welt dient, die Gefahr für Israel ist dadurch jedoch nicht geringer. Die unter Palästinenser wirkenden, mit Iran verbündeten und von ihm abhängigen Kräfte stellen eine unmittelbare Gefahr für den Staat Israel dar. Israel das Existenzrecht abzusprechen, kann um so leichter Realität werden, da Ahmadinedschad sich seit Jahren in Vernichtungsvorhersagen ergeht. Ein Gipfel der anti-israelischen und damit auch der anti-jüdischer Propaganda erreicht er mit Veranstaltungen, die an die breite internationale Öffentlichkeit – bei den Vereinten Nationen oder bei den berüchtigten Konferenzen vom 2005: „Eine Welt ohne Zionismus“ und der Holocaustleugnungs-Konferenz (International Conference on «Review of the Holocaust: Global Vision») im Jahr 2006, gerichtet werden, in denen diverse Verschwörungstheorien ausgebreitet werden und vor allem der Holocaust geleugnet wird.

„Der Holocaust sei als Mythos instrumentalisiert worden, um einen Judenstaat in der islamischen Welt zu gründen.“ In einem Spiegel-Interview im Jahr 2006 äußerte Ahmadinedschad, wenn es den Holocaust gegeben hätte, seien die Europäer und Amerikaner für die Verbrechen an den Juden verantwortlich und ein jüdischer Staat hätte auf ihrem Boden errichtet werden müssen. Das deutsche Volk trage heute jedoch keine Schuld mehr und müsse erkennen, dass es eine „Geisel des Zionismus“ sei. Der Politikwissenschaftler Hubert Kleinert bezeichnete das Interview als beispiellos: „Ein leibhaftiger iranischer Staatspräsident, nicht irgendein Neonazi oder obskurer Außenseiter der historischen Forschung, verbreitet sich per Interview seitenweise über die angebliche Ungeklärheit des Holocaust. Ganz unverhohlen werden dabei auf ebenso schlichte und törichte wie zugleich erschreckende Weise die zentralen Argumentationsfiguren wiederholt, die hierzulande für gewöhnlich zu Haftbefehlen und Verurteilungen führen, wenn sie in der rechtsextremen Szene öffentlich geäußert werden: danach sei die Holocaust-These in erster Linie ‚politisch motiviert‘, andere Auffassungen und ‚Wissenschaftler‘ würden unterdrückt, verfolgt und ins Gefängnis gesteckt.“ (Wikipedia)

Die wahren Gründe für das Phänomen des arabischen Antisemitismus sind unterdessen die weit verbreitete Wahrnehmung der Muslime, sie seien ohnmächtige Opfer irgendwelcher global agierender Kräfte. Sowohl die Kolonialgeschichte als auch die Gründung des Staates Israel dienen als Bestätigung der These, die fremden Mächte wollen die arabische Welt schwächen und in der Konsequenz beherrschen. Wie auch in Europa früher lenkt heute der arabische Antisemitismus von den tatsächlichen Problemen der Region ab. Auf der Grundlage der dem Menschengeschlecht innewohnenden Neid und Hass gedeihen bestens der arabische Antisemitismus und Antizionismus, beide im Grunde immer auf starken Minderwertigkeitskomplexen basierend.

Neu ist, dass sowohl in der arabischen Welt als auch in Europa des Öfteren Zionismus mit Nazismus gleichgesetzt wird.

Der Kreis schliesst sich.

Umkehren auf diesem Weg zum Verbrechen hin war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesichts des auf Lügen gebauten Systems nicht mehr möglich. Der lange Marsch musste in einer Katastrophe enden. Das gilt für alle totalitären Systeme und muss auch heute beachtet werden.

Am Anfang habe ich die Frage gestellt, ob sich die Geschichte der Vernichtung einer Menschengruppe oder eines Volkes in Europa wiederholen kann. Die gleiche Frage wird vom Timothy Snyder5 gestellt und bejaht, auch Götz Aly ist im Bezug auf diese Frage pessimistisch: „Ein Ereignis, das dem Holocaust der Struktur nach ähnlich ist, kann sich wiederholen. Wer solche Gefahren mindern will, sollte die komplexen menschlichen Voraussetzungen betrachten und nicht glauben, die Antisemiten von gestern seien gänzlich andere Menschen gewesen als die Heutigen.“6

1 Götz Aly: „Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus“, S. Fischer, Frankfurt am Main, 2005

2 Schaulissen (lit. šaulys – Schütze) Zum Zeitpunkt des Rückzugs russischer Armee im Jahr 1941 beteiligten sie sich an einem antisovietischen Aufstand, der sich auch in Morden an Juden geäußert hat. Litausche Hilfspolizei hat sich verdient gemacht bei der Jagd nach den sich versteckenden Juden, die dann zu den Exekutionsstätten transportiert wurden.

3 Amin el-Husseini (ca. 1895-1974), der Mufti von Jerusalem, war zu seiner Zeit die höchste religiöse wie auch politische Autorität der Palästinenser. In den 30er und 40er Jahren kollaborierte er offen mit den Nationalsozialisten, 1941-1945 lebte er in Berlin. Sein nationaler Extremismus, sein offener Antisemitismus und sein Bündnis mit dem Faschismus diskreditiert die Sache der Palästinenser bis heute.

4 Trotz mehrfach erbrachter Beweise, dass es sich bei den Protokollen um eine Fälschung handelt, glauben noch heute Antisemiten und Anhänger von Verschwörungstheorien in der ganzen Welt an ihre Authentizität oder Wahrheit. Wer der Verfasser ist, ist nicht gesichert. Weit verbreitet ist die Ansicht, dass sie in den Kreisen der zaristischen Geheimpolizei Ochrana zu suchen sind. (Wikipedia)

5 Timothy Snyder: „Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin“, C. H. Beck, München, 2011

6 Götz Aly: „Warum die Deutschen? Warum die Juden?“, letzte Seite, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011.

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• Die Bedeutung des Verzeihens

Kein einfaches Thema, was ich heute aufnehmen möchte: Das Verzeihen und die Vergebung der Schuld im Lichte der fünften Bitte aus dem Vaterunser.

Die ersten drei Bitten: „Geheiligt werde Dein Name“„Dein Reich komme“„Dein Wille geschehe…“ beziehen sich grundsätzlich auf die göttliche Welt, wenn auch eine gewisse Spiegelung dieser Bitten in der Gedankenwelt der Menschen zum Ausdruck kommt.  …

„…und vergib uns unsere Schulden, wie wir vergeben unseren Schuldigern… “ Mt 6,9-13
Das Neue Testament, Übersetzung von Emil Bock, Urachhaus 1980, Stuttgart

Die vierte Bitte „Unser tägliches Brot gib uns heute“ bezieht sich auf das irdische Leben des Menschen, auf das notwendige Gesichertsein der menschlichen Existenz. Diese Bitte bezieht sich ohne Zweifel auch auf die seelische und geistige Nahrung, deren der Mensch in seinem Leben wie Luft zum Atmen bedarf.

Die drei letzten Bitten: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, „Und führe uns nicht in Versuchung“, „Sondern erlöse uns von dem Bösen“ stehen in unmittelbarer Beziehung zum Problem des Bösen in der Welt, was sowohl als „das Böse“ und als auch wesenhaft als „der Böse“ verstanden werden kann.

Einerseits machen die Worte der fünften, sechsten und siebten Bitte dem Menschen bewusst, welche Aufgabe er selbst im Bezug auf das Böse hat, andererseits wird ihm klar, dass er nicht allein, also ohne die göttliche Welt und deren Hilfe es schaffen kann, der Versuchung als solchen zu widerstehen. Allein das „Widerstehen“ aber, also das Böse von sich zu weisen, wenn nicht gar die Menschenkraft übersteigernd, an sich keinen besonderen Wert besäße, denn dieses Widerstehen ist a priori stark mit Egoismus behaftet. Und Egoismus ist das Böse schlechthin.

Es erschließt sich als Konsequenz aus dem Gesagten, dass es eine denkbar wichtige, eigentlich wesentliche Aufgabe ist, das Auflösen oder – sagen wir es gleich – das Erlösen des Bösen. Die Teilnahme des Menschen an der Erlösung des Bösen hat ihren Ausdruck allein in der unaufhörlich geübten Verzeihung und Vergebung. Es ist ein Paradigmenwechsel, der sich hier abzeichnet: Das Böse soll nicht vom Menschen abgewiesen werden und von Gott „bestraft“ werden, sondern wieder zum Guten geführt werden. Und das liegt tatsächlich in der Verantwortung und in der Macht der Menschen! Obschon manchmal zögernd, manchmal an scheinbar wesentliche Bedingungen wie Reue oder Wiedergutmachung geknüpft, geschieht Vergebung unter Menschen unaufhörlich. Jedoch erst unbedingtes Verzeihen hat in sich die erlösende Kraft.

Dem bewussten, unbedingten Verzeihen geht eine Erkenntnis voran, die sich in das Wollen, in das Tun gesenkt hat. Eine Erkenntnis, dass Nachtragen, Rachegefühle, Zorn oder Wut dem Bösen zum Gedeihen verhelfen, dagegen das bedingungslose Verzeihen die Liebe als Gefühl und als objektiv wirkende Kraft zu Folge hat. Es ist wichtig zu unterstreichen, dass die im vorigen Satz erwähnte Willenstat nicht im Rahmen von einer so oder so gearteter Obedienz zustande kommen kann. Es kann sich nur um freie Entscheidung und freie Tat handeln, die jedoch ohne diese Erkenntnis nicht hätten erfolgen können.

Es ist schon so viel angedeutet worden, jetzt ist es an der Zeit zu schauen, was es eigentlich das Verzeihen ist?

Es reicht sicher nicht, einen abstrakten Willen zu dem Akt des Verzeihens zu haben. Was sich vollziehen muss im Menschen, der vergibt, ist die Tilgung der fremden Schuld aus dem eigenen Gedächtnis. Dieses muss errungen werden, vielleicht sogar unter Opfer erreicht werden. Die besondere Bedeutung dieses Vorgangs liegt darin, dass in die unaufhörlich von der Erinnerung an Leid und Kränkung frei werdenden Räume ein ganz anderer geistiger Impuls Eingang finden kann. Es muss hier unterstrichen werden, dass es sich dabei nicht nur um eine Durchdringung des individuellen Bewusstseins mit neuen Impulsen handelt, so, dass die eigenen Wunden heilen können, sondern in weiterer Konsequenz um positive Folgen für die unmittelbare Umgebung und für die Gesellschaft; es entsteht mehr Menschenliebe, mehr Brüderlichkeit, was überraschend ein verstärktes Bewusstsein der Anwesenheit Gottes zu Folge hat, denn ohne den gemeinsamen Vater – keine Brüderlichkeit. Hier kommt der Genius der Sprache deutlich zum Ausdruck: denn „verzeihen“ rührt von dem Verb „verzichten“, in dem Fall verzichten auf die niederen Regungen der Seele, die durch fremde Schuld hervorgerufen worden sind. Und „vergeben“ – verstanden als sich ver-geben – als Hingabe an die Mitmenschen.

Die Verzeihung darf also nicht als Feindesliebe verstanden werden, sie hebt gerade die Feindschaft auf und lässt Brüderlichkeit, Nächstenliebe und Liebe Gottes, die Liebe schlechthin, entstehen. Im Verzeihen ist diese Liebe erfahrbar. Liebe, die unbedingt und absolut das Gute ist.

Die Folgen der Verzeihung sind besonderer Natur. Weil Verzeihen ausschließlich ein Akt des freien Willens sein kann, tritt die Person, der die Schuld vergeben wird, in eine Beziehung zu einem anderen Menschen, dem Vergebenden, die nicht abhängig macht. Im Gegenteil: Der Akt der Verzeihung wirkt auf den Schuldigen befreiend – ein neuer Anfang ist möglich! Befreiend und als ein neuer Anfang wirkt er auch unerwartet auf den Verzeihenden! Auch für ihn ist ein neuer Anfang möglich geworden.

Der Akt der Verzeihung oder Vergebung hat in meinen Augen in seinem Ausdruck weniger den Opfercharakter, vielmehr hat er den Charakter der Gnade. Auch diese wird unverdient und ohne Erwartung einer Gegenleistung gewährt, was die conditio sine qua non sowohl der Gnade, als auch der Verzeihung ist! In diesem Sinne kann das menschliche Handeln als ein schöpferischer Akt im Sinne Nachfolge Christi verstanden werden, als gratia creata.

Ein wichtiges Buch zu diesem Thema:

Sergiej O. Prokofieff,Die okkulte Bedeutung des Verzeihens“ , Verlag Freies Geistesleben, 1991

Nicht mit allen Thesen des Autors könnte ich mich anfreunden, über einige gehe ich hinaus. Trotzdem ist es eins der wichtigsten Bücher überhaupt, die ich gelesen habe.

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• Wie frei ist der Wille?

Der Versuch, die Entscheidungsfreiheit und was damit zusammenhängt, die Verantwortung für die Gedanken, Absichten und letztendlich für die Taten der Menschen zu relativieren oder gar zu negieren, wäre ohne den rasanten Fortschritt der Hirnforschung nicht möglich. Obschon anfangs die Fragen zum Verhältnis von Geist und Gehirn selbst von den Forschern als unzulässig betrachtet worden …

Über Jahrhunderte haben die Philosophen und Wissenschaftler das Verhältnis zwischen der Materie und Bewusstsein für ein für alle Zeiten unlösbares Rätsel gehalten: „Ignoramus et ignorabimus“ –  war der Ausdruck der Skepsis. Wie nicht anders zu erwarten, versucht die moderne Wissenschaft mit Hilfe der bildgebenden Untersuchungs- methoden den Prozessen im Gehirn, wo sie den Sitz des Bewusstseins vermutet, auf die Spur zu kommen. Was sind die vermeintlichen Erkenntnisse?

… waren und später die Neurowissenschaft weiter nichts zur Klärung dieser Fragen beitragen konnte, haben in folgenden Jahrzehnten einige Wissenschaftler den kühnen Versuch gewagt, mit den Methoden der Naturwissenschaft die Fragen aus dem Gebiet der Wissenschaft über den menschlichen Geist zu lösen. Die zentralen Fragen in diesem Kontext sind: Verfügt der Mensch über einen freien Willen? Wie sei dieser Begriff zu definieren? Welche theoretischen und praktischen Konsequenzen die von den Neurowissenschaftlern angebotene Antwort für das weit gefasste Zusammenleben der Menschen haben könnte?

Jean-Paul Sartre schreibt: „Freiheit ist jene kleine Bewegung, die aus einem völlig bedingten Wesen, einen Menschen macht, der nicht in allem das darstellt, was von seinem Bedingtsein herrührt. So wird aus Jean Genet ein Dichter, obwohl er ganz dazu bedingt war, ein Dieb zu werden.“

Diese kleine Bewegung wird von einer Gruppe der Neurowissenschaftler negiert. Wolf Singer, einer der führenden Vertreter der modernen Hirnforschung erklärt die Meinung der Forschergruppe mit diesen Worten: „Wir glauben, dass alle Leistungen von Gehirnen, die mentalen Prozesse eingeschlossen, auf neuronalen Vorgängen beruhen. Das heißt, sie gehorchen physiko-chemischen Gesetzen. […] Der vorausgehende Zustand des Gehirns verursacht die Handlung.“ Das heißt, der Mensch hat keinen freien Willen. Die allererste Konsequenz solcher Annahme wäre die Aberkennung jeglicher Verantwortlichkeit der Menschen für ihre Gedanken und Handlungen, die wiederum unvorhersehbare Folgen unter anderem im Rechtsleben hätte! Man muss hier sogleich anmerken, dass die Worte „Gedanken“ und „Handlungen“ an sich nicht geeignet sind zur Beschreibung der von Singer eigentlich gemeinten marionettenhaften Abläufe von Impulsen, Worten, Bewegungen und anderen Äußerungen des Menschen. Auch wird der Mensch von ihnen nicht als Person definiert, sondern als „lebendiger Organismus“.

Die These, Denken und Handeln des Menschen seien auf neuronale Prozesse zu reduzieren, ist für unsere Intuition indiskutabel. Und doch sorgt die provokante Meinung der Forscher, seit im Jahre 2004 „Das Manifest“ veröffentlicht worden ist, noch heute für Debatten. Es war aber der Präkursor der Neurobiologie Benjamin Libet selbst, der, nachdem er mit seinen ersten Untersuchungen der Zeitabfolge einer Entscheidung, die er an den Hirnströmen gemessen hatte, und der Ausführung der Bewegung, die wahrnehmbar war, mit seiner ersten Feststellung, den freien Willen gebe es nicht, eine kleine Revolution zwischen den Grenzgebieten der Natur- und Geisteswissenschaft verursachte und diesen später vor dem eliminativen Materialismus doch in Schutz nahm. Ihm ist klar geworden, dass seine Forschungsergebnisse nicht dazu geeignet sind, diese gewagte These, den freien Willen gebe es nicht, zu stützen. Anders die elf Wissenschaftler: Seit der Veröffentlichung des Manifestes verteidigen sie fortwährend in zahlreichen Zeitungsartikeln und Rundfunk- und Fernsehsendungen ihre Meinung und sorgen damit nach wie vor für Verwirrung der Meinungen und Gefühle. Mit der These, die zwar nicht haltbar, aber auch ganz und gar nicht leicht zu widerlegen ist, mit der sie an die Menschheit herangetreten sind und nachhaltig für erhöhte Aufmerksamkeit auf der einen Seite und für entschiedenen Widerstand auf der anderen Seite sorgt, haben die Forscher vorerst einen großen Erfolg erzielt. Da der Ruhm auch mit Forschungsgeldern verbunden ist, sorgt er nicht nur für breite Bekanntheit, sichert aber auch nachhaltig die eigene Existenz als Wissenschaftler. Ideen muss man haben!

Diese Aufruhr hat jedoch ihre positiven Seiten. Die Philosophen, die sich zuständig für die Fragen des menschlichen Geistes fühlen, sind ihrerseits sogleich auf den Plan getreten. Vielleicht hat sich also der Joke für die Menschheit gelohnt, denn diese Philosophen, Theologen, Schriftsteller, Journalisten und andere Humanisten fühlen sich berufen und verpflichtet, gezielt zu diesem medialen Feldzug der Naturforscher Stellung zu nehmen. Es sind seitdem erschienen und erscheinen immer noch geistvolle und fundierte Repliken, die es sich allemal lohnt zu lesen.

Es sind die Philosophen – Julian Nida-Rümelin, Jürgen Habermas, Martin Seel, der Theologe Christian Hoppe und viele andere, die gute Argumente gegen die unhaltbaren Behauptungen der Hirnforschung entgegenhalten. In mancher Debatte fehlt es nicht an Humor, denn ohne Humor ist die Begegnung mit der Vorstellung, der Mensch ist ein absolut unfreies Wesen und die graue Masse des Gehirns erledigt für ihn alles, schwer zu ertragen. (Hier zur Erheiterung ein Gespräch zwischen Julian Nida-Rümelin und Wolf Singer, geführt in der Redaktion der Frankfurter RundschauSinger und Nida-Rümelin)

Es ist in der Tat so, dass sich im Gehirn, genau gesagt in den Verbindungen der einzelnen Nervenzellen, also in den Synapsen, die auch Verschaltungen genannt werden, der Geist – der menschliche Geist – auf die Materie trifft und seine mehr oder weniger dauerhafte Spuren hinterlässt. Das Phänomen des Gedächtnises macht es sichtbar: Die Wahrnehmungen, Gefühlsregungen und Ideen sind wie dieses nicht materiell aber das Erleben der Gefühle, das Abwägen von Ideen, das Erinnern – das Denken also, hinterlässt neue Verschaltungen im Gehirn, die als physische Phänomene darstellbar und messbar sind. Ich bin der Überzeugung, dass im Trennen der res cogitans und res extensa sowohl im sozialen Leben als auch im individuellen Bewegen der Gedanken, also im Erwägen, Einschätzen, Gegenüberstellen, Vergleichen, Beurteilen und Urteilen, die Weisheit vom Menschen liegt und nicht in der oberflächigen Gleichsetzung der geistigen Prozesse im Menschen mit dem Funken und Knistern zwischen den Nervenzellen im Gehirn. Das Verständnis des subjektiven Erlebnisgehaltes der mentalen Zustände ist eine zentrale Kategorie der Philosophie des Geistes und ist absolut nicht mit den Mitteln der Neuro- und Kognitionswissenschaften zu erklären. Die neuronalen Korrelate von Erlebnissen sind natürlich nicht uninteressant als Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung. Sie können aber nur eine Seite dieser Phänomene bleiben und so müssen sie auch erkannt und definiert werden, sonst führte diese einschränkende pseudowissenschaftliche Annahme, die neuronalen Korrelate sind alles, zur Trivialisierung der Begriffe und der Erklärungen, die nicht annähernd die Natur des Bewusstseins beleuchten könnten.

Wenn tatsächlich eine einzelne Entscheidung, etwa die Hand zu bewegen, doch noch irgendwie messbar und das zeitliche Verhältnis zur Ausführung des Befehls feststellbar ist, verhält es sich anders mit komplizierten und komplexen Entscheidungsprozessen, die sich über Jahre hinziehen können und bei dem Zustandekommen des Ergebnisses verschiedene Erkenntnisse und Überlegungen – frei – berücksichtigen werden möchten. Auch das, was wir moralische Entscheidungen nennen, wird grundsätzlich frei getroffen. Der Grund für die freien Entscheidungen wird jedoch früher gelegt: Die Verschaltungen, die Synapsen – sie müssen sich gebildet haben. Wie kommen diese zustande?

Ich habe schon erwähnt, was zu Entstehung und Vermehrung der Verschaltungen führt: Das Denken und Erleben. Konkret geht es hier um die vielen Vorgänge und Prozesse wie z. B. Erziehung und Selbsterziehung, Beschäftigung mit der bildenden Kunst, mit Literatur und Musik, das Zusammenleben mit den anderen Menschen. In den Prozessen der Erziehung, der Selbsterziehung, im Erfahren der Welt, im Austausch mit Anderen, durch das Lernen und Nachdenken, durch geistige Prozesse also, entstehen Verschaltungen im Gehirn. Deren Inhalte bleiben erhalten, sie bleiben zum Teil auf der Oberfläche, also im Bewusstsein, zum Teil werden in das Unterbewusstsein verschoben. Mit der Zeit werden sie zur „zweiten Natur“ einer Person. Im Falle einer Entscheidung greift das menschliche Ich auf die fertigen, mühsam vorbereiteten Vorgaben oder aber das Unterbewusstsein meldet sich von selbst. Ich kann es mir sehr gut vorstellen, dass es im Gehirn regelrecht blitzt und knistert, wenn wir uns anschicken, eine Entscheidung zu treffen und das „Gelernte“ zu erinnern. Dieses „Blitzen“ und „Knistern“ – das ist eventuell (und sehr wahrscheinlich) das, was im Hirn-Scanner sichtbar und darstellbar wird.

Das Erarbeiten des Wissens- und Erfahrungsnetzes, was oft vom Leben aufgezwungen wird, also in dem Sinne nicht gewollt initiiert, ist gerade das, was der Mensch frei gestallten kann. Bin ich bereit großzügig zu vergeben? Oder verharre ich auf der Forderung einer Genugtuung? Oder meine ich sogar, dass ich Rache nehmen darf und sogar muss? Das gerade kann jeder Mensch frei entscheiden! Er muss es nur wollen. Er muss verstehen, warum es wichtig ist, an sich selbst zu arbeiten und zwar ein Leben lang. Aber dann, wenn die Zeit der Prüfung kommt, greift er auf diese fest verankerten Überzeugungen und Einstellungen. Der Mensch handelt also frei und unfrei zugleich. Seine Arbeit an sich selbst ist frei. Jedoch die frei erarbeiteten Ansichten und Einstellungen determinieren im hohen Maße sein späteres Handeln.

Bei dieser inneren Arbeit muss man sich frei machen vom Einfluss der Anderen, der Politiker, verschiedener Verführer, aber auch Menschen, die von uns geschätzt und geliebt werden. Es ist wichtig, sich beraten zu lassen, fremde Meinung zu hören, dies abzuwägen und zu überlegen; die Schlussfolgerung muss jedoch eindeutig eine eigene sein. Nur in Diesem und in Solchem ist der Subjekt wirklich frei.

Ohne die Mühe, echte, eigene Überzeugungen zu schaffen, kann der Mensch nicht frei sein. Entweder handelt er nach „Vorgaben“ seines Temperaments, seiner Gelüste, Wünsche und Begehren oder er orientiert sich daran, wie die Umgebung sich verhält. Weder die eigene angeborene Natur noch die Umgebung lassen uns frei entscheiden.

Nur die eigene Bemühung schafft es. Der Mensch kann frei wählen, ob er ethisch handeln will oder nicht. Um frei entscheiden zu können, muss er sich um die Erkenntnis von ethischen und unethischen Meinungen und Handlungen, also vom Gut und Böse bemühen. Wenn er Gut und Böse nicht unterscheiden kann, entscheidet er auch nicht frei, auch wenn er das im Moment der Entscheidung glaubt!… Zu oft ist es alles andere als einfach…

Wenn auch viele physiko-chemischen Prozesse im Gehirn darstellbar sind, so ist  weder die Qualität dieser Prozesse noch die Qualität der entstehenden körperlichen Korrelate in ihrer Natur im Rahmen der Neurobiologie erkennbar und erklärbar. Die elf kühnen Wissenschaftler spielen darauf in ihrem Manifest an: „Aller Fortschritt wird aber nicht in einem Triumph des neuronalen Reduktionismus enden. Selbst wenn wir irgendwann einmal sämtliche neuronalen Vorgänge aufgeklärt haben sollten, die dem Mitgefühl beim Menschen, seinem Verliebtsein oder seiner moralischen Verantwortung zu Grunde liegen, so bleibt die Eigenständigkeit dieser ‚Innenperspektive‘ dennoch erhalten.“ Ja, man braucht unbedingt ein Türchen bei so viel Nonsens, sonst könnte jemand den Autoren die Fuge von Bach oder die „Divina Commedia“ um die Ohren hauen…

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• Schiller – der ungewöhnliche Geist

»Er – der philosophische Geist – bringt einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte«

Friedrich Schiller, Jena, 1789:
„Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“

Schiller spricht vor der Herzoginmutter, vor dem Herzogspaar Karl August und Luise, außerdem hören Johann Wolfgang Goethe, Christoph Martin Wieland, die Gebrüder Humboldt und andere dem jungen Genie aufmerksam zu. – Theobald Reinhold von Oër, Der Weimarer Musenhof. Schiller in Tiefurt dem Hof vorlesend

Die zeitlose Gültigkeit der akademischen Antrittsrede Schillers an der Universität Jena aus dem Jahr 1789 macht es sinnvoll, sich auch heute diese in Erinnerung zu rufen. Damals, vor fast 220 Jahren, wie Schiller in einem Brief an Christian Gottfried Körner schreibt, machte seine Vorlesung Eindruck. Man redete in der Stadt davon und ihm widerfuhr einige Aufmerksamkeit. Diese Rede scheint weitgehend vergessen zu sein, sogar in akademischen Kreisen wird sie wahrscheinlich nicht mehr als Orientierungshilfe für Geschichtsdenken zitiert.

Zwar spricht Schiller zu der akademischen Jugend, die sich weiter mit der Geschichtslehre befassen will. Seine Thesen sind aber gültig und aktuell auch für eine nichtprofessionelle historische Betrachtung der Zivilisationsgeschichte. Der universell Denkende, sagt Schiller, hebt die Begebenheiten heraus, „ …welche auf die heutige Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen, unwidersprechlichen und leicht zu verfolgenden Einfluss gehabt haben“. In diesem Zusammenhang ist erkennbar, dass Begebenheiten, die in späteren Zeiten bedeutend sind, nicht selten in ihrer eigentlichen Zeit isoliert erschienen sind und ihre Bedeutung damals nicht erschlossen werden konnte. Als Beispiel nennt Schiller an dieser Stelle den Christus-Impuls, der das Leben der späteren Generationen um vieles mehr zu beeinflussen in der Lage gewesen war und es heute weiterhin ist als in dieser Zeit und an diesem Ort, wo es seinen Anfang nahm. Bezeichnenderweise gibt es fast keine Quellen, die die Christus-Erscheinung für die Wissenschaft befriedigend erklären könnten.

So scheint es, dass der Lauf der Geschichte von den Menschen selten bewusst gestaltet werden kann, vielmehr ist es so, dass die Bedeutung bestimmter Vorgänge und Handlungen erst im nachhinein erkannt wird. Nicht selten in der Weltgeschichte vermuten wir sogar eine Absicht der Handelnden, nicht zum Wohle der Zeitgenossen zu wirken. Paradox jedoch: „…der selbstsüchtige Mensch“so Schiller„[der] niedrige Zwecke verfolgen kann, … unbewusst [die Menschheit] vortrefflich befördert.“

Sobald der „philosophische Geist“ den Versuch macht, das Vergangene mit dem Gegenwärtigen zu verknüpfen, die Ursachen und Wirkungen zu erkennen, wird er eine Erscheinung nach der anderen der „gesetzlosen Freiheit entziehen“ und ein Wissenssystem über den Lauf der Zeit aufbauen. Die Harmonie, die in seiner Vorstellung vorhanden ist, überträgt er auf die Ordnung der Dinge. Somit verleiht er der Weltgeschichte ein teleologisches Prinzip. Dieses intentionale Prinzip ist sowohl in der modernen Soziologie, als auch in der Geschichtswissenschaft als zulässig erklärt worden. Freilich wird heute nur der Mensch als der bewusst Handelnde gesehen, nicht der Geist, wie es Schiller in seiner Rede versteht.

Friedrich Schiller bringt in seine erkenntnistheoretischen Überlegungen den Gedanken hinein, dass die eigentliche Prüfung der Richtigkeit des eigenen Denkens eine Herzensregung ist: „Mit [dem teleologischen Prinzip] durchwandert er [die Weltgeschichte] noch einmal, und hält es prüfend gegen jede Erscheinung, welche dieser große Schauplatz ihm darbietet. Er sieht es durch tausend beistimmende Fakta bestätigt, und durch ebenso viele andere widerlegt; aber solange in der Reihe der Weltveränderungen noch wichtige Bindungsglieder fehlen, solange das Schicksal über so viele Begebenheiten den letzten Aufschluss noch zurückhält, erklärt er die Frage für unentschieden, und diejenige Meinung siegt, welche dem Verstande die höhere Befriedigung und dem Herzen die größte Glückseligkeit anzubieten hat.“ Dieser Gedanke hat mich besonders angesprochen: Im Laufe der Philosophiegeschichte ist die Idee, dass das Kriterium der Wahrheit eine Regung des Herzens ist, später nur noch vom Rudolf Steiner aufgenommen – und heute weitgehend vergessen.

Wenn nach dem teleologischen Prinzip die Entwicklung der Welt ein Ziel hat, dann ist die Erkenntnisarbeit nicht ein Zweck an sich und für sich. So sagt Schiller weiter: „Wichtig wird [dem philosophischen Geist] auch die kleinste Bemühung sein, wenn er sich auf dem Wege sieht oder auch nur einen späten Nachfolger darauf leitet, das Problem der Weltordnung aufzulösen, und dem höchsten Geist in seiner schönsten Wirkung zu begegnen.“

„Der Mensch verwandelt sich und flieht von der Welt“…

Die Geschichte wird somit dem Menschen zum Ansporn, „etwas dazu[zu]steuern (…) Jedem Verdienst ist eine Bahn zur Unsterblichkeit aufgetan, zu der wahren Unsterblichkeit meine ich, wo die Tat lebt und weitereilt, wenn auch der Name ihres Urhebers hinter ihr zurückbleiben sollte“. Mit diesen Worten schließt Schiller seine Vorlesung.

Peter-André Alt, Autor der zweibändigen Schiller-Biographie schreibt in einem Artikel: „Entdeckungen [im Schillers Werk] (…) verweisen auf den prognostischen Charakter eines komplexen Geschichtsbildes, das gegen die Vereinfachungsgarantie geltender Ideologien immun bleibt. Wer dem Zeitanalytiker Schiller begegnet, lernt einen scharfsinnigen Denker kennen, dessen Diagnosen jede Lesergeneration auf neue Weise zur Auseinandersetzung herausfordern.“

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• Die Weisheit der Kalenderordnung

Zum Thema Kalenderordnung gibt es auf dem Gebiet der Geisteswissenschaft nur eine einzige Arbeit, nämlich das in zweiter Auflage 1978 erschienene Buch aus der Feder von Dr. med. Walther Bühler: „Geistige Hintergründe der Kalenderordnung“, herausgegeben vom Verlag Urachhaus.  …

Walter Bühler, „Geistige Hintergründe der Kalenderordnung“
Vom Wesen der Woche – Die Beweglichkeit des Osterfestes – Die Kalenderreform – Urachhaus, 1978

… Da das Buch nicht mehr neu aufgelegt wird, ist anzunehmen, dass es kaum gelesen wird und wohl zum Teil vergessen worden ist, auch wenn es immer wieder in den Antiquariaten anzutreffen ist. Das ist der Grund, warum ich mir diesmal zum Ziel gesetzt habe, Bühlers überaus interessante Analyse hier kurz zu präsentierten. Denn auf die Frage, welchen Grund und welchen Sinn hat unsere, auf den ersten Blick so irrationale, Ordnung der Feste im Jahreslauf, gibt es keine bessere Antwort als die – für mich sehr überzeugenden – Überlegungen des Autors. Ich könnte es mir nur wünschen, dass meine kurze Zusammenfassung den Leser ermutigen wird, das Buch von Walther Bühler in die Hand zu nehmen.

Der Anlass für Bühlers Schrift war die in den fünfziger Jahren von mehreren indischen Religionsgemeinschaften bei der UNO angeregte und vom Vatikan so gut wie befürwortete Umwandlung des jahrtausendealten, beweglichen Kalenders in einen immerwährenden, ewigen, statischen Kalender, in dem die Wochentage und Feste immer auf das gleiche Datum fallen würden und in dem die übriggebliebenen Tage am Ende des Jahres als World-Feiertage von der ganzen Menschheit zur gleichen Zeit abgefeiert werden sollten. Aus diesen Projekten, die  in der Tat allen Ernstes von der UNO in Betracht gezogen waren, ist meines Wissens nicht viel übrig geblieben. Wie Bühler in seiner Arbeit unterstreicht, ist es zum größten Teil den jüdischen Organisationen zu verdanken, die energisch und entschieden für den Wochenrhythmus mit dem für die Juden heiligen Sabbat eingetreten waren. Zum Glück ist also die „Flurbereinigung“ auf dem Gebiet des Kalenders kein Thema mehr. Es ist aber interessant, sich unsere Kalenderordnung und ihre Hintergründe, die als wahrer Spiegel der kosmischen Ordnung verstanden werden können, anzuschauen.

Wenn man die zwei wichtigsten Jahresfeste der Christenheit – Weihnachten und Ostern – betrachtet, fällt vor allem auf, dass Weihnachten im Kalender einen festen Platz hat, der an einen bestimmten Punkt im Jahreslauf der Planeten – gemeint ist vor allem der von der Erde aus gesehene Lauf der Sonne – fixiert ist. Dieses Fest ist bekanntlich von dem Fluss der Wochentage unabhängig. Im Gegensatz dazu steht die Beweglichkeit des Osterfestes und der nachfolgenden Feste wie Himmelfahrt und Pfingsten. Diese Feste sind im Jahresverlauf beweglich, jedoch an den Wochen-Rhythmus eng gebunden.

Das Osterfest fällt auf den ersten Sonntag nach dem Frühlingsvollmond, dem Oster-Vollmond. Zu dieser Zeit verbinden sich auf eine bestimmte Weise der Sonnen-Rhythmus, der Mond-Rhythmus und der Wochen-Rhythmus miteinander. Ein Zusammenklang dieser drei kosmischen Rhythmen bestimmt den Tag des Festes der Auferstehung Christi. Dieses Datum strahlt über die Karwoche bis zum Aschermittwoch auf die ganze vorösterliche Zeit zurück und, wie schon erwähnt, bestimmt dieser Tag die Feste, die der Osterwoche folgen, einschließlich des Fronleichnams. Dieses letzte Fest ist eine überhöhte, vergeistigte Wiederholung des Letzten Abendmahls vom Gründonnerstag.

Die Sonne hat also in ihrem Jahresrhythmus durch die zwölf Tierkreise den Frühlingspunkt durchschnitten, der folgende Vollmond als solcher steht zu dieser Sonne in Opposition, also auf der entgegengesetzten Seite des Himmels. Es muss noch der nächste Rhythmus abgewartet werden – der Wochenrhythmus: Der erste Sonntag nach dem Frühlingsvollmond kann zu Ostersonntag erklärt werden. So kann Ostern im Jahreslauf frühestens auf den 22. März und spätestens auf den 25. April fallen, was eine Schwankungsbreite von 5 Wochen ergibt. Bedeutend für das Wesen des Osterfestes ist ebenfalls die Tatsache, dass zu diesem Zeitpunkt die Umlaufbahn der Sonne zum ersten Mal nach dem Winter einen größeren Bogen auf dem Tageshimmel zeichnet, als der Mond. Die Sonne, die das Leben symbolisiert, hat gesiegt! Walther Bühler erwähnt noch ein weiteres wichtiges Phänomen, das charakteristisch ist für diesen Tag:

„Der Ostersonntag unterscheidet sich durch die seit dem Ur-Christentum gehandhabte Regel [der Bestimmung] von allen Sonntagen des Jahres dadurch, dass an ihm nie eine Sonnen- oder auch Mondfinsternis störend in den Ablauf des Ruhetages eingreifen kann. Allein dieser Tatbestand sollte uns hellhörig machen für die Fragestellung, ob der Beweglichkeit des Osterfestes nicht ein tieferer Sinn innewohnt.“

Historisch ruht die Bestimmung des Auferstehungsfestes auf der Ordnung der jüdischen Feste, hier des Pessah-Festes am 14. Nisan, also am Tage des Frühlingsvollmondes. Wobei dieser auf jeden Tag der Woche fallen kann. Erst im Laufe der ersten Jahrzehnte nach dem Ereignis in Palästina hat sich das Fest der Auferstehung von dem Pessah-Fest gelöst und wurde fortan am darauf folgenden Sonntag gefeiert. Nur etwa 120 Jahre n. Ch. ist es schon Brauch, Ostern nach dem Frühlingsvollmond zu feiern. Bindende Vorschrift wurde es aber erst nach dem Konzil in Nicäa im Jahr 325 n. Ch. Die Beschlüsse des Konzils sprechen unter andrem davon, dass Ostern überall am gleichen Tag zu feiern sei aber niemals am Tage des Frühlingsvollmondes selbst. In folgenden Jahrhunderten waren viele Gelehrte damit beschäftigt, sehr komplizierte Berechnungen zu erstellen, in denen sie unabhängig von jüdischen Berechnungen den jeweiligen Frühlingsvollmond zu bestimmen suchten. Ab dem 13. Jahrhundert wurden weitere Korrekturen dieser Berechnungen und des Kalenders als solchen vorgenommen. In Anbetracht der Unzulänglichkeit und der Fehlerhaftigkeit dieser Berechnungen, hatte Papst Gregor XIII. weitere Korrekturen des Kalenders veranlasst. Die früheren zyklischen Ostertafeln waren bei dieser Reform von dem Astronomen Lilius so überarbeitet worden, dass künftig die Ostertage und somit andere Jahresfeste in besserer Übereinstimmung mit den tatsächlichen astronomischen Verhältnissen berechnet werden können. Über Jahrhunderte ließ es sich jedoch nicht vermeiden, dass die objektiven Schwierigkeiten der Berechnung der christlichen Feste zu Kontroversen zwischen der katholischen und der protestantischen Seite im Westen und der Orthodoxen Kirche im Osten geführt haben.

Im Grunde sind jedoch diese Berechnungen und die ihnen zu Grunde liegenden astronomischen Verhältnisse – gerade durch die scheinbare Unzulänglichkeit und eine gewisse Irrationalität – ein Indiz dafür, dass der Mensch seit Anbeginn in einem Zusammenspiel der kosmischen Rhythmen lebt und das gerade diese Rhythmen das Leben bedingen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass diese kosmischen Rhythmen nie ineinander restlos aufgehen. Im Gegenteil: Die Inkommensurabilität der Rhythmen ist für das ganze planetarische System charakteristisch und stellt das Lebendige des Kosmos und somit des Menschen dar.

„Wenn man die kosmischen Umläufe zueinander in Beziehung bringt, ergeben sich – mathematisch gesehen – stets irrationale Verhältnisse. Die Rechnung geht nie ganz auf. Es bleibt immer ein Rest übrig. So sind die planetarischen Rhythmen gegenseitig inkommensurabel, ver- schieben sich und gleiten – gleichsam elastisch – aneinander vorbei“,

so Walther Bühler weiter. Gerade aber die Konsequenz dieser Tatsache hat für den belebten Teil der Schöpfung eine besondere Bedeutung: Durch sie ist eine fortwährende Wandelbarkeit und Entwicklung im Gegensatz zu Mechanisierung und Entindividualisierung erst möglich! Keine Konstellation der Sterne und kein Individuum gleichen den anderen, sie sind unwiederholbar und dadurch einzig und einmalig. Diese Einmaligkeit zeigt uns der bewegte Himmel – und die… Genetik. Es bliebe noch diesen Zusammenhang zu erforschen…

Zurück also zum Kalender und den Jahresfesten. Seit der Geschehnisse in Palästina um das Jahr 33 nach Christi Geburt ist die Frage der Festsetzung der Feste ins Bewusstsein der Menschen getreten. Für die Kirche war die Frage, inwieweit der moderne, also christliche Kalender sich auf die früheren, heidnischen Bestimmungen stützen kann und darf. Die Datierung des Pessah-Festes, die sich auf die alte jüdische Erinnerung an den Auszug der Israeliten aus Ägypten stützt, mag wohl auf uralte kosmologische Vorstellungen zurückzuführen sein. Sowohl der Lauf der Sonne als auch des Mondes hatten bei den Urvölkern eine Rolle bei der Entstehung der Feiertage gespielt, was sich in zahlreichen Mythen und Legenden niederschlug. Trotz Bemühungen von Seiten der Kirchenmänner war es nicht gelungen, die neuen, christlichen Festtage von den alten, heidnischen und anderen vorchristlichen Festen, die zum Teil auf den gleichen kosmischen Konstellationen beruhen, zu entkoppeln. Und zu recht, denn der tiefere Grund aller Religionen ist ein gemeinsamer.

Das Christentum brachte aber eine neue, besondere Bedeutung des Sonntages mit sich. Dieser Tag wurde im Bewusstsein der Christen in Laufe der Zeit nicht mehr als der Tag der Ruhe nach der Arbeit empfunden, sondern als der Tag des Herrn, nicht nur zum Andenken an die Auferstehung, sondern als unaufhörliches Wiedererleben derselben. Interessant hier zu erwähnen, wie sich diese Tatsache im russischen Sprachgeist äußert: Der Sonntag heißt „Woskresenje“, was „Auferstehung“ bedeutet. Man muss nur bedenken – und das ist nicht minder interessant –, dass dieser besondere Name eines der Wochentage all die Umwälzungen und Katastrophen der Oktoberrevolution und die 72 Jahre der atheistischen Ideologie und der sowjetischen Schreckensherrschaft überstanden hat!

Dieser Tatsache wohnt eine besondere Symbolik inne, denn es wurde der Welt etwas bewahrt, was von einem Regime zum Untergang bestimmt war. Um so tragischer, wenn sich uns heute nicht nur das Erahnen der Symbolik entzieht, sondern auch die Neugierde auf die Ursprünge unserer wöchentlichen, monatlichen und jährlichen Rhythmen und deren Zusammenhang mit dem Göttlichen Prinzip im Kosmos und ihre Bedeutung für unsere körperliche und seelische Gesundheit, nicht mehr vorhanden sein sollte.

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• Vom Sinn des Leidens – Theodizee

„Das Leben ist ohne den dazwischen scheinenden Gott unlebbar“
Botho Strauss

…Das Thema Leid ist aber für mich plötzlich auf eine unerwartete Weise präsent geworden: Durch die in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschienene Betrachtung des Bildes von Guido Reni »Kreuzigung«, geschrieben von Navid Kermani. Mit wenigen Worten fasst Kermani die meisten Zweifel, die jeder Mensch, nicht nur ein Muslim, aber auch ein Christ, selbstverständlich doch, an Kreuz und dessen Verehrung im eigenen Prozess der Christ-Werdung hat. An der Kritik von Kermani könnte sich, sollte sich im Grunde genommen, eine Debatte, ein interreligiöser Dialog entzünden. Es ist, wie zu erwarten, keine theologische Debatte entstanden, aller Wahrscheinlichkeit nach wird es auch nie eine geben. Schade, denn es gäbe viel zu sagen sowohl zum Kermanis Standpunkt und dessen Verschiebung während der Kontemplation des Bildes als auch zu anderen möglichen Betrachtungsweisen, nicht nur eines Bildes – denn ein Bild der Kreuzigung lenkt die Aufmerksamkeit allen voran auf die materialistische Seite des Geschehenen – sondern durch das Bild hindurch der metaphysischen Ebene des abgebildeten Ereignisses.

Mit diesem kurzen Text möchte ich den interessierten Leser auf eine andere Betrachtungsperspektive aufmerksam machen. Mehr: Ich möchte einen besonderen, einen ungewöhnlichen und in unserer Zeit nicht mehr beachteten Trost vermitteln. Es geht mir also um die Frage: Wie ändert sich die Perspektive beim Anschauen des menschlichen Leides durch den Blickwinkel des Leides des Gott-Menschen und seines Kreuzestodes?

Leid ist ein Thema, dem ich mich nur mit größter Umsicht nähern kann. Ich versuche es doch. Eine Einschränkung möchte ich jedoch vorausschicken: Ich werde hier nicht über das unaussprechliche Leid der Menschen, die in den totalitären Systemen des 20. Jahrhundert ihres Lebens beraubt wurden. Ich werde auch nicht über das Leid der Überlebenden sprechen. Es entzieht sich jeglichem Verstehen. Das Einzige, was bleibt, ist ein Erinnern und in diesem Erinnern ein Mit-Leiden, ein Mit-Gehen. Ich habe dabei die Imagination, das gerade dieses Erinnern und Mit-Leiden die Erlösungskraft besitzt. Einzig, was ich sagen kann, ist, dass das Schrecklichste, der Grund dieses Leides, einen absolut satanischen Charakter hatte – und das verstehe ich hier wortwörtlich.

Das gewöhnliche Leid, tragisch und dramatisch oft, das Leid, was jedem geschehen kann und was fast jedem geschieht, immer und immer wieder, hat in meinen Augen nicht nur eine irdische Dimension. Ich vertrete die Meinung, dass das Leid, „das Kreuz“, das wir zu tragen haben, etwas – im Hinblick auf die nichtirdische Dimension – hier auf Erden geradezu notwendig ist.

Da möchte ich an diesem Punkt weiter ausholen: Die Erzählung von Wladimir Sergejewitsch Solowjew, „Kurze Erzählung vom Antichrist“, zeigt uns deutlich, dass nicht nur ein Leben in völliger Glückseligkeit, ja, sogar das Versprechen der Glückseligkeit, des Wohlergehens und des ewigen Friedens, hier auf Erden, unwahr und unecht ist, ein falsches Versprechen, ein Versprechen, das einer Verführung gleicht und damit – das sagt uns die Intuition – wieder den durch und durch bösen Charakter hat – einen unmenschlichen. Der Schmerz, das Leid sind demnach elementar mit dem menschlichen Leben verbunden, das Leben ist ohne Leid und Schmerz so gut wie undenkbar. Somit stellt sich die Frage: Welchen Sinn hat das Leid der Menschen? Ein simples verneinen dieser Frage würde nichts erklären, würde auch das Leid nicht mindern und vor allem – es nicht verhindern. Kurz gesagt, das Verneinen dieser Frage führt gedanklich auf Abwege. Wenn wir sie jedoch ernsthaft in Gedanken bewegen, sind wir der Anerkennung eines höheren Ziels des menschlichen Lebens und Erlebens und somit auch Leides nahe. Kurzum, wem die teleologische Perspektive verschlossen bleibt, dem bleibt nur eine schmerzliche Frage, die keine Antwort findet.

Wozu ist es also gut, unser Leid?

Sowohl das körperliche Leid als auch das seelische, die sich übrigens oft bedingen, können in sehr vielen Fällen gelindert oder ganz beseitigt werden, was unbedingt angestrebt wird – durch Medizin und durch Unterstützung durch die soziale Umwelt. Dennoch macht die gewesene Erfahrung des Schmerzes, ob körperlich oder seelisch, auch wenn der Schmerz schnell vergessen wird, den Menschen reifer, verständnisvoller, befähigt ihn zum Mitleiden und nicht zuletzt dazu, selbst Hilfe leisten zu wollen und zu können.

Es gibt so gut wie kein menschliches Leben ohne Leid; glücklich können wir uns schätzen, wenn Kinder nicht leiden müssen. Wir Erwachsene gehen immer wieder in unserem Leben durch Phasen des Leides, ob es Schmerz, Trauer, Misserfolg, Verrat oder Krankheit sind. Nach dem überwundenen Schmerz, nach der überwundenen Krankheit oder Trauer empfinden wir eine große Erleichterung und Dankbarkeit – ja, vor allem deshalb, weil wir es hinter uns glauben. Solche Erfahrung prägt sich jedoch in unser Gedächtnis ein, verbindet sich unauflöslich mit unserer Biographie und es mischt sich ein neues, ein anderes Gefühl unter die Erleichterung, oder verstärkt diese sogar: Plötzlich wollen wir dieses vergangene Leid nicht mehr missen.

Die Voraussetzung dafür, dass diese neue Intuition im Bezug auf das Leid entsteht, ist dessen Akzeptanz. Es wird um diese gerungen, denn auch das sagt die Erfahrung, dass ein Leid, was wir akzeptieren, nicht mehr so sehr schmerzt. Ein nichtakzeptiertes Leid führt letztendlich zur Wut, Verbitterung und Neid. Alles Gefühle, die den Schmerz weiter verstärken!

Im Grunde ist es ein Funken Selbstschutz, wenn wir versuchen, dem Leid keinen Widerstand zu leisten, mehr, ihn anerkennen und ihm Sinn geben. Die Erleichterung, die dadurch erfahrene Minderung des Schmerzes ist sofort und deutlich zu spüren, so dass es einen neugierig macht, was sich da in der Psyche eigentlich abspielt, wenn allein das Annehmen des Leides eine so starke Veränderung des Empfindens verursacht.

Ich habe lange über Schmerz und Leid nachgedacht, viele mir zugänglichen Aspekte betrachtet und glaube, einen tragfähigen – weil es gerade darum geht –, einen kraftspendenden und vor allem einen umsetzbaren Modus gefunden. „Das Leben ist ohne den dazwischen scheinenden Gott unlebbar“. Diese Worte, Botho Strauss ist ihr Autor, stellen auf poetische Weise die wichtigste Prämisse meiner Ausführung dar.

Man könnte aber fragen: Wo bleibt Gott, wenn wir leiden müssen, oft so leiden, dass es unsere Kräfte zu übersteigen droht?

Es ist eine uralte philosophische und theologische Frage, die nach Gottes Gerechtigkeit und nach der Notwendigkeit des Leides: Wie ist mit Gottes Existenz die gleichzeitliche Existenz des Übels, des Unglücks, des Schmerzes vereinbar? Dieses Theodizeenproblem ist so alt wie die ihr Leben reflektierende Menschheit. Das Wort Theodizee ist erst im 18. Jahrhundert entstanden, die Frage nach Gott im Bezug auf das Leid hatte schon Hiob und seine Gefährten vor tausenden von Jahren gestellt.

Wenn ich annehme, dass die Erschaffung der Welt kein müssiges Spiel Gottes ist, muss ich zugleich feststellen, dass das Böse – sowohl Leid als auch Schuld – konsequenterweise notwendig ist, dass es im Gottes Plan enthalten ist. Es ist keine gedanklich bequeme Prämisse, sie hat aber den Anschein des Wahrhaftigen, denn das Ur-menschliche und in dieser Welt das Ziel an sich, ist die Freiheit: In weiter Perspektive die Freiheit der Wahl zwischen Gut und Gut. Allein um zur dieser Freiheit zu gelangen, muss die Menschheit den Weg der Erkenntnis, der Verstrickung in das Böse, dessen Begleiter Leid und Schmerz sind, gehen. Es ist zugleich der Weg zum Überwinden des Übels: Darin sehe ich das Ziel der irdischen Entwicklung. Es wird wohl noch Äonen dauern, bis dieser Zustand erreicht werden kann. Sicher ist aber, dass wir uns auf dem Weg bis dahin befinden.

Die Verstrickung in das Böse ist jedoch so stark, das Böse so mächtig, dass wir Menschen – auch das ist intuitiv erfassbar – uns davon selbst nie befreien könnten. Im Lichte dieser Feststellung ist es konsequent, dass die Menschheit der göttlichen Hilfe bedarf. So glaubt also der Christ, der Menschheit ist tatsächlich vor 2000 Jahren solche Hilfe zuteil geworden. Als grundfalsch sehe ich es aber an, wenn Christi Leid und sein Kreuzestod als Tilgung irgendwelcher individuellen menschlichen Schuld verstanden wird! Wegen solch einer vereinfachten Deutung wird übrigens die Tat von Golgatha missverstanden oder gar abgelehnt.

Das Leid Christi ist ein Thema der Kreuzestheologie, die an sich ein sehr wichtiges Thesenkomplex darstellt. Hier möchte ich nur kurz erwähnen, dass Christi Kreuzestod und dessen Notwendigkeit uns zeigen, wie unendlich schwer für uns Menschen die Absage an das Böse ist. Die erlösende Wirkung der Golgatha-Tat, einmal geschehen, kann uns aber nicht mehr genommen werden. Sie wirkt in alle Zukunft hinein und für alle Menschen, die je geboren wurden und werden – trotz der wiederkehrenden Eruptionen des Bösen.

Ein Ausdruck aus der christlichen Theologie und Religion – »Nachfolge Christi« – bezieht sich ganz konkret auf die Nachfolge im Leid und auf die Leidensfähigkeit des Menschen und in der Konsequenz auf die Tatsache, dass er dem Leid nicht entrinnen kann. Auf diese Weise verstandene Nachfolge haben in den ersten Jahrhunderten des Christentums unzählige Märtyrer gelebt. Nicht aus einer, wie auch immer verstandenen, Liebe zu Christus. Sie haben verstanden, dass der Mensch durch sein Leid die Macht besitzt, das Böse zu erlösen: Den Menschen vom Bösen erlösen und zugleich das Böse erlösen.

Somit steht unser Leid eigentlich im Dienste der Menschheit und der weit verstandenen Schöpfung. Es ist also nicht sinnlos. Das Erkennen seiner Bedeutung und Wirkung lindert, wie von unzähligen Menschen erfahren, den individuellen Schmerz. Das ist gerade das Geheimnis des Leides.

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• Die heiligen zwölf Nächte

Weihnachten ist in der christlichen Tradition zweifellos das wichtigste Fest im Jahreslauf. In unserer Epoche, in einer Zeit des alles beherrschenden Kommerzes werden die letzten Wochen vor dem Fest nicht der seelischen Vorbereitung auf Jesu Geburt gewidmet, sondern den ausgedehnten Einkäufen und im Sinne der Vorwegnahme der Freude, …

„Ein Traumgesicht aber gab ihnen die Weisung, nicht zu Herodes zurückzukehren …“ Mt 2,12

Engel des Erwachens

… die eigentlich erst nach der Heiligen Nacht aufkommen sollte, wird Weihnachten schon in der Adventszeit gefeiert. Und wenn der Heiligabend vergangen ist, ist die Anstrengung der unzähligen Weihnachtsfeiern überstanden und alles endlich vorbei…

Der Monat Dezember wäre sicher ohne eine aktive und bewusste Erwartung dessen, was da kommen soll, schlecht zu ertragen – oder ohne eine wirkungsvolle Zerstreuung. Im Dezember wird das Sonnenlicht weniger, die Tage kürzer, die Dunkelheit und die langen Nächte scheinen den Raum für finstere Kräfte zu bieten und diese scheinen sich auch darin auszubreiten. Dagegen die Zeit zwischen der Geburt von Jesus in Bethlehem und der Erscheinung Christi am Epiphanias-Fest scheint durch den Kampf des Lichtes gegen die Finsternis geprägt zu sein. Bildlich zeigt sich der Wettstreit in dem Ansinnen des Herodes, der den Drei Weisen aus dem Morgenland bedeutet, diese sollen ihm die Nachricht über das Kind bringen, damit er sich vor ihm verbeugen kann. Was er ganz und gar nicht beabsichtigt, sondern das Kind beseitigen will. Die Kräfte des Lichtes symbolisiert in dieser Geschichte der Engel, der den drei Königen im Schlaf erscheint und „ihnen die Weisung gibt, nicht zum Herodes zurückzukehren“, was sie gleichwohl befolgen. Am Tage der Drei Könige, der zugleich der Tag der Erscheinung Christi ist, ist der Sieg des Lichtes besiegelt. In der sichtbaren Welt äußert er sich dadurch, dass der Tag länger wird und mehr Sonnenlicht die Menschen erreicht. Die Finsternis verliert ihre Macht.

Die Nächte zwischen den zwei Festen, genannt die zwölf heiligen Nächte, sind im Empfinden der meisten Menschen aus dem Jahreslauf herausgehoben. Nicht dass die Zeit zu stehen scheint, vielmehr mutet diese Spanne so an, als ob sich in ihr die nächsten zwölf Monate unseres Lebens spiegeln würden, oder besser gesagt, als ob in diesen Tagen die Keime des Zukünftigen gelegt würden. Ja, das ist eine Zeit voller mystischer und magischer Phänomene, den Menschen schon immer bekannt. Diese Phänomene fanden in früheren Zeiten ihren Niederschlag in Märchen aber auch im Aberglauben.

Hinter dem Märchenhaften können wir jedoch etwas anderes wahrnehmen – wenn wir uns einer anderen Offenbarung öffnen.

Die zwölf besagten Tage und Nächte stehen für die zwölf Monate des Jahres und das bedeutet eigentlich, sie entsprechen den zwölf Tierkreiszeichen, die wiederum eng mit den zwölf Hierarchien zusammenhängen. „In diesem Sinne kann der Weg von Weihnachten bis Epiphanias auch für uns zu einem Aufstieg in das große ‚Land des Universums‘ werden, ‚aus dem der Christus heruntergezogen ist auf die Erde‘, zu einem Weg, der uns im Laufe der zwölf heiligen Nächte durch alle zwölf Regionen der Sternenwelt führt, vom Bereich der Fische, welche den Ursprung des Menschseins bewahren, bis zu der Sphäre des Widder, durch dessen Tor der Christus einst aus der höchsten makrokosmischen, jenseits des Tierkreises liegenden Vatersphäre in unserem Kosmos eintrat, schreibt Sergej Prokofieff* und zitiert selbst dabei Rudolf Steiner.

Die Sternzeichen – jedes mit einer Engelhierarchie verbunden – symbolisieren, unter vielen verschiedenen Gesichtspunkten, jeweils eine menschliche Eigenschaft, besser ausgedrückt eine Entwicklungsstufe, die nicht oder noch nicht den Menschen heutiger Zeit charakterisiert, es aber tun soll und wird, damit er weitere, höhere Stufen der seelischen und geistigen Entwicklung erreichen kann.

Die Frühjahrssonne des Fische-Zeichens kann und wird im Menschen erst dann aufgehen, wenn er seine individuelle Freiheit errungen hat – dies aber geschieht in den Tiefen der Seele in der Zeit der Dunkelheit und in der Begegnung mit deren Kräften, mit dem Bösen also. Wenn man sagt, dass im menschlichen Organismus den Fischen die Füße entsprechen, so hat es einen tiefen Sinn. Die Füße sind das menschliche Körperteil schlechthin. Denn die aufrechte Haltung, charakteristisch für und nur für den Menschen, verdankt er der gewölbten Form des Fusses. Die Füße bestimmen auch das Verhältnis des Menschen zu den Kräften der Erde: Er steht fest auf dem Boden, was von der Schwerkraft ermöglicht wird, seine aufrechte Haltung aber, in Unterscheidung zu den Tieren, lässt ihn sich bildhaft weg von der Erde, hin zum Himmel bewegen. Christus, der sich im menschlichen Körper inkarnieren wird, wird als Menschensohn, als Mensch, auf dieser Erde wandeln. So symbolisieren die Füße die irdische Herkunft des physischen Leibes des Jesus, in den später der Christus einziehen sollte. Das Fischzeichen ist ein bekanntes Symbol der Christen, ein sehr altes Symbol. In diesem Zeichen drückt sich das eigentliche Wesen der Menschen aus.

Das Sternzeichen des Wassermanns symbolisiert den idealen, vergeistigten Menschen. Und das Geheimnis, das der Wassermann in sich birgt, ist die Fähigkeit zu dem erhabenen Geist, der zugleich sein Vorbild ist, hinaufzusehen und somit die Zukunft der Menschheit zu erahnen. Das symbolische Bild des Wassermanns ist das eines Menschen, der Wasser aus einem Krug vergießt. Dieses Wasser, das „Wasser des Lebens“ steht für die lebensspendenden Kräfte, die der Mensch, diese aus der Nähe zu der geistigen Welt schöpfend, weiter gibt.

Die Sphäre des Steinbocks ist mit der Welt der Erzengel verbunden. Steinbock entspricht auf der Erde der dunkelsten Zeit im Jahreslauf. So wird es verständlich, dass das Licht, auch das geistige Licht, uns dann erreichet, wenn wir das Wirken der Erzengel wahrzunehmen in der Lage sind. In die Steinbock-Zeit fallen zwei der wichtigsten christlichen Feste: Geburt Jesu in Bethlehem und Taufe im Jordan, die anders als das Erscheinen Christi oder die Geburt Christi im menschlichen Leib bezeichnet wird. Das Mysterium der Fleischwerdung wird von einem der Erzengel verkündet, von Gabriel (Lu 1,28). Die Taufe im Jordan untersteht ganz der Einwirkung des Geistes und des Feuers (Mt 3,11), der Domäne der Erzengel.

Die Sphäre des Schützen ist mit der Hierarchie der Archai verbunden. Es sind die Kräfte, die den Kampf zwischen dem Menschlichen und dem Tierischen in uns ausfechten. Bildlich kann man es am besten sehen, wenn man die Versuche eines kleinen Kindes beobachtet, wie es sich aufzurichten müht und dabei immer wieder in die horizontale Lage zurückfällt. Diesem Kampf entspricht auch die Imagination des Kentauren. Dank Archai, auch Geister der Persönlichkeit genannt, führt der Kampf stets zum Sieg der vertikalen Kräfte, was weiterhin die Entwicklung des Denkens, der Persönlichkeit – des Ichs – impliziert.

Der Skorpion-Adler steht in besonderer Verbindung mit den Exusiai (Elohim), den Geistern der Form, deren Aufgabe es ist, allem auf der Erde Bestehenden eine abgeschlossene Form zu geben. „Die Kräfte für diese Tätigkeit empfangen sie aus dem Tierkreisbereich des Skorpion-Adlers, die, wenn sie sich ergießen, das Erstarren und Einhalten aller Bewegung hervorrufen (in der äußeren Natur treten diese Kräfte ganz besonders im November hervor)“, so Sergej Prokofieff* weiter. Das Doppelbild des Skorpion-Adlers findet im Menschen seine Entsprechung durch die Fähigkeit als freies Wesen, außer dem Guten, auch das Böse in sich aufzunehmen, was ein tief menschlicher Wesenszug ist. Der trotzdem die Gefahr in sich birgt, eine gewisse Verdunkelung des menschlichen Ich-Bewusstseins zu bewirken.

Die Hierarchie der Dynamis oder der Geister der Bewegung ist mit dem Bereich der Waage verbunden. Diese Geister haben die Fähigkeit und zugleich die Aufgabe, die mannigfaltigen geschlossenen Sonnensysteme im Universum dauernd im Gleichgewicht zueinander und in Bewegung zu halten. Schon die Pythagoreer wussten, dass diese Bewegung, von der hier die Rede ist, als – die von ihnen so genannte – Sphärenmusik, später auch als Sphärenharmonie bezeichnet, in Erscheinung tritt. Obschon die himmlischen Symphonien für Menschen nicht hörbar sind, finden die kosmischen Proportionen Widerhall sowohl in der Wissenschaft von der Natur wie in der Mathematik, die die Grundlage jedweder Naturwissenschaft ist, als auch in der Kunst, insbesondere in der Musik. „Gott hat die Welt geordnet nach Maß, Zahl und Gewicht“ (Weish 11,20). Diese göttliche Ordnung, dem Universum innewohnend, dient auch der menschlichen Erkenntnis; auf ihr basiert weiter die Hermeneutik – die „Philosophie des Verstehens“.

Mit der Hierarchie der Kyriotetes oder der Geister der Weisheit steht die Region der Jungfrau in Verbindung. Das Ur-Bild, die Imagination dazu sind die göttliche Sophia und ihre christliche Entsprechung, die Jungfrau Maria, die ein Symbol für «schenkende Tugend» wurde. Sie konnte es werden, indem sie das Opfer aus dem Miterleben des irdischen Lebens Christi im höchsten Maße verinnerlicht hat.

Die Sterne, die wir als das Zeichen des Löwen kennen, stehen mit der Hierarchie der Throne oder der Geister des Willens in Verbindung. Aus dem Tierkreis des Löwen, der die königliche Würde symbolisiert, geht die innere Kraft des Mutes hervor, die es ermöglicht, „ein rechtes Verhältnis zu den Prüfungen, die uns das Schicksal auferlegt, das heißt, das rechte Verhältnis zu unserem Karma zu gewinnen, es zu tragen und bewusst an ihm arbeiten zu lernen.“*

Die Kräfte der Cherubim, denen die Sphäre des Krebses untersteht, wirken in jedem Entwicklungszyklus des Kosmos, der Natur und des Menschen, hier allen voran in der zyklischen karmischen Entwicklung der Individualitäten. Innerhalb des menschlichen Lebens mutiert diese Kraft in eine innere Fähigkeit, die Welt zu betrachten und sich selbst zu reflektieren, was das allmähliche Verstehen der Wirkung von Christus auf Erden auf der einen Seite und das Akzeptieren des eigenen Schicksals und der eigenen Aufgaben und Ziele auf der anderen Seite bewirkt.

Der Bereich der Zwillinge steht in Beziehung zu der Hierarchie der Seraphim, der Geister der Allliebe. Paradigmatisch für diese höchste Form der Liebe stehen die Dioskuren-Zwillinge, Kastor und Pollux, der eine sterblich, der andere als Zeus‘ Sohn unsterblich. Als Kastor getötet wird, bittet Pollux Zeus um den Tod. Als Belohnung ihrer Bruderliebe versetzt Zeus beide als Sternbild der Zwillinge an den Himmel. Was das für ein Opfer seitens Pollux war, auf seine Unsterblichkeit zu verzichten, versteht jeder, der weiss, dass das höchste Gut in der griechischen Welt das irdische Leben war: „Lieber ein Bettler sein in der Oberwelt, als ein König im Reich der Schatten“ – so tönt uns aus dem Hades die Klage des gefallenen Achilles entgegen.

In der christlichen Zeit ändert sich das Paradigma grundlegend. Das Wesen der Liebe ist jetzt: In einem sozialen System aus einem inneren Interesse aneinander zu handeln und zu wirken.

Die Stier-Sphäre ist mit dem Prinzip des kosmischen Geistes verbunden. Ein Aspekt des Geistes, der Zeitgeist, charakterisiert sich durch zwei Facetten – die sonnenhafte und die mondhafte – übt seinen Einfluss auf den Menschen auf diese Weise, dass dieser entweder vorwärts strebt oder im Egoismus und ungezügelten Leidenschaften – sozusagen – zurückbleibt.

Die höchste kosmische Sphäre, die des Widders ist mit dem Prinzip des Christus verbunden. Unter diesem Sternenbild trat Christus bei der Taufe im Jordan in die Hüllen des Jesus von Nazareth ein. „An dem zweiten Tag stand Johannes wieder dort und zwei seiner Jünger waren bei ihm. Und als er Jesus vorübergehen sah, sprach er: Siehe, Gottes Lamm“ (Joh 1,35-36). Der Augenblick der Jordantaufe ist der einzige in der Geschichte der Erde, in dem sich die Trinität in den Tiefen des irdischen Seins zu erkennen gibt.

Zum Schluss noch eine Anmerkung: In dem Moment, in dem sich für einen Augenblick die Vatersphäre durch die Worte – „Dies ist mein vielgeliebter Sohn, heute habe ich ihn gezeugt“ – offenbart, bekommen wir eine Ahnung, eine Ankündigung, aber nicht mehr, von weiteren, unserer Imagination unzugänglichen Bereichen.

Als Postskriptum möchte ich kurz die seit langer Zeit nicht mehr anders als nur als Metapher in unserer Sprache existierenden Engelshierarchien ansprechen. Wir wissen von ihnen, wir kennen ihre Namen aus der Bibel, vor allem aus dem Alten Testament. Es war die Kindheit, als uns von diesen geheimnisvollen Geistern erzählt wurde. Mehr mit der Engellehre hat sich kaum jemand in unserer Generation befasst. Heute sind die Namen der Engel leere Hülsen, Worte für die die meisten Menschen keine Konnotation kennen. Gerade deshalb möchte ich an sie erinnern und Euch ermutigen, sich mit diesem Thema zu befassen.

* Sergej O. Prokofieff, „Die zwölf heiligen Nächte und die geistigen Hierarchien“, Philosophisch-Anthroposophischer Verlag am Goetheanum, 1986

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• Wie Platon missbraucht wurde

oder der „pädagogische Eros“ in der deutschen Reformpädagogik

Es ist den letzten Wochen viel über den sexuellen Missbrauch an den Schulen, allen voran an den Internatsschulen, geschrieben. Es ist genug gesagt worden, dennoch vieles ist nicht klar.

Was mich seit Tagen beschäftigt, ist die Art und Weise, auf welche sich die Reformer der Pädagogik und deren Verfechter auf Platons Schriften berufen. Sie tun es in dem Zusammenhang, wenn über zu viel körperliche Nähe zwischen dem Lehrer und seinem Schüler die Rede ist.

Ein Beispiel von vielen: Adolf Muschgschreibt im Tagesspiegel: „Damals brauchte er [der Leiter Gerold Becker] seine Neigungen, die jetzt am Pranger stehen, nicht zu verleugnen. Die Grundlegung des ‚pädagogischen Eros‘ findet sich in den Schriften Platons, die vom Körperlichen der Lehrer-Schüler-Beziehung durchaus nicht absehen.“ So wähnt man sich in guter Gesellschaft. Es hätte allerdings schon kund werden müssen, dass Plato nie von körperlicher Anziehung als notwendigem Bestandteil der Liebe, des Eros, gesprochen hat, daher auch „platonisch“ – „ohne körperliche Anziehung“. Ein Imperativ, wenn es sich um Sympathie zwischen einem Lehrer und seinen Schülern handelt. Denn der pädagogische Eros ist in seinem Wesen die hohe Gefühlslage zwischen dem Schüler und seinem Lehrer, die eine Voraussetzung dafür ist, dass der Schüler lernen mag und es dem Lehrer wichtig ist, dem Schüler das Wissen zu vermitteln. Ohne diese Gefühle, die unmittelbar Einfluss auf die Motivation sowohl des Lehrers als auch des Schülers nehmen, gelingen Erziehung und Didaktik nicht. Der „pädagogische Eros“, jedoch verstanden als „körperliche Anziehung“, ist zu einem Element der deutschen Reformpädagogik – einer Erziehungskunst! – geworden: Überschreiten der Grenze zur Päderastie war geradezu zwangsläufig, und über viele Jahre gängige Praxis. Fatale Fehldeutung des Begriffs Eros!

„In diese erotischen Mysterien kannst vielleicht auch du, Sokrates, eingeführt werden.“

Schauen wir uns das an, was Platon über Eros sagt. Diesem bedeutenden Begriff ist der Dialog »Symposion« gewidmet. Nach der oberflächlichen Lektüre kann man in der Tat den Eindruck gewinnen, bei der Zusammenkunft der Freunde bei Agathon wird über homosexuelle Liebschaften gesprochen. Bei einer vertieften Lektüre des Dialoges erkennt man jedoch unschwer, dass es da um ganz andere Ebenen des menschlichen Geistes und um die transcendente Welt des Geistes, Welt der Ideen, geht, ganz und gar nicht aber um homosexuelle körperliche Liebe. Das sind aber die heutigen Leser, alles moderne Menschen, die glauben, es handelt sich um Sexualität, wenn vom Eros gesprochen wird.

Eins vorweg: Im alten Griechenland war die Frau nicht am gesellschaftlichen Leben der Männer beteiligt. Frauen waren auch bei philosophischen Debatten niemals dabei. Sie hatten ihr eigenes Bereich im Haus. Es war also nichts Sonderbares, dass erwachsene Männer ausschließlich untereinander diskutierten. Dieses hatte nichts, aber absolut nichts mit der Bevorzugung des männlichen Geschlechts im sexuellen Leben zu tun, auch wenn eine tiefe Sympathie zwischen den Debattierenden entstand, zwischen Debattierenden, die zwangsläufig nur Männer sein konnten! Es war eine tiefe Freundschaft zwischen den Männern – wie gesagt, eine Freundschaft zwischen einem Mann und einer Frau kam nicht in Frage –, wo eine Umarmung ein selbstverständlicher Ausdruck der Zuneigung und des Zaubers war. Auch heute ist solche Freundschaft verständlich. Und auch damals war grobe Päderastie kein Ausdruck der Freundschaft und dem entsprechend sprach man darüber: kritisch, zuweilen mit Hohn.

Und noch etwas: Die Begriffe, über die Männer damals so ausgiebig diskutiert haben, sind in heutige Sprachen nicht so leicht oder gar nicht zu übersetzen, oder sie werden mit mehreren Worten umschrieben. Die meisten sind aber nur im griechischen Original bekannt: Arete, Agathos, Eudaimonia, Logos, Nous, Sophist, Philia, Daimonion, Ethos, Episteme und andere. Nur bei dem Wort Eros glaubt heute jeder, darunter etwas zu verstehen. Ja, jeder darf das verstehen, was er möchte oder kann, nur soll er Platon oder Sokrates nicht für eigene Gedanken in Geiselhaft nehmen.

In dem ersten Teil des Dialogs sprechen, Agathon, Pausanias, Phaidros, Aristophanes, Eryximachos über die Liebe. Im zweiten Teil spricht Sokrates; er spricht für sich, in seinen Worten findet dennoch die platonische Lehre ihren Ausdruck. Zum Schluss des Dialoges – die bekannte Szene mit Alkibiades, der erst nach der Debatte zu der Gesellschaft gestoßen ist. Jeder Redner spricht über sein Verständnis von Eros, über Gefühlsleben, über dionysische Leidenschaft. Nicht alle der Ausführungen sind auf hohem Niveau. Die letzte „vorsokratische“ Betrachtung präsentiert Agathon. Agathon, für den schöne Worte wichtiger sind als der tiefere Sinn. Jetzt beginnt Sokrates zu reden, es ist eigentlich keine Rede, sondern nur Fragen, Sokrates‘ typische, nervige Fragen. Aber seine Freunde hören ihm aufmerksam zu, denn sie wissen, in einem Gespräch mit ihm werden Begriffe kristallklar, sie werden leuchtend und lebendig. Nach einer Weile geht Sokrates von den gnadenlosen Boshaftigkeiten in Richtung Agathon zu den Eigenschaften des abstrakten Begriffs von Eros über. Und erst hier wird die Sache interessant, ja fesselnd: Platon lässt nämlich Sokrates von dessen Gespräch mit Diotima, einer Pristerin aus Mantinea, berichten.

Sie spricht vom Streben nach Unsterblichkeit als einem wesentlichen Merkmal des Eros: „… Denn hier und dort sucht die sterbliche Natur, nach Möglichkeiten ewig und unsterblich zu sein … durch Fortpflanzung, das sie stets ein Junges anstelle des Alten hinterlässt … durch Wissen … durch Gedächtnis.“ „Denn auf diese Weise wird jegliches Sterbliche gerettet, nicht dadurch, dass es schlechthin immer dasselbe ist wie das Göttliche, sondern dadurch, dass das, was entschwindet und alt wird wieder ein Junges von der selben Art hinterlässt, wie es selber war. Durch dieses Mittel“, sagt Diotima, „hat Sterbliches an der Unsterblichkeit teil, der Leib ebenso wie alles andere; …wundere dich also nicht, wenn ein jegliches von Natur aus das wert hält, was von ihm abstammt; denn um der Unsterblichkeits willen steht einem jeden dieser Eifer und diese Liebe zur Seite.“**

Dieser Eifer und diese Liebe, die Unsterblichkeit zu Folge haben, äußern sich weiter durch mannigfaltige Werke der Menschen, durch gesellschaftliche Einrichtungen und Gesetze, durch Wissenschaft, durch Weisheit. Und zum Schluss durch Liebe zu dem ewig Seienden: „… dass man, mit diesen schönen Dingen hier beginnend, um jenes Schönen willen weiter hinaufsteigt, wie auf Stufen: … von den schönen Leibern zu den schönen Einrichtungen und von den Einrichtungen zu den schönen Wissenschaften, bis man von den Wissenschaften aus zu jener Wissenschaft gelangt, die die Wissenschaft von nichts anderem als von jenem Schönen selbst ist, und er schließlich erkennt, was das Schöne selbst ist.“** „Es ist ein immer Seiendes, das weder entsteht noch vergeht, weder zunimmt, noch abnimmt.“** „An dieser Stelle im Leben, mein lieber Sokrates“, sagte die fremde Frau aus Mantinea, „wenn überhaupt irgendwo, ist das Leben für den Menschen lebenswert: wenn er das Schöne selbst schaut.“** „… Wenn es einem zuteil würde, das Schöne selbst lauter, rein und unvermischt zu sehen, nicht voll von menschlichen Fleisch und von Farben und von all dem sterblichen Flitter, sondern wenn er das göttliche Schöne selbst in seiner Eingestaltigkeit zu sehen vermöchte, … er nicht nur Schattenbilder der Tüchtigkeit zeugt, da er auch nicht ein Schattenbild berührt, sondern das Wahre, weil er das Wahre berührt. Und wenn er die wahre Tüchtigkeit zeugt, und aufgezogen hat, ist ihm vergönnt, gottgeliebt zu werden, und dann kann, wenn überhaupt ein Mensch, auch er unsterblich sein.“**

Es liegt auf der Hand, dass Sokrates, die Weisheit von der göttlichen Liebe den Menschen gebend, auf sich selbst den Zorn der Einflussreichen gezogen hat. Denn er spricht von einem anderen Gott, er spricht von den wahren erotischen Mysterien, die der Grieche in der Antike hat noch nicht erkennen sollen. Solcher Art Vergehen – Mysterien-Verrat – das in unseren Augen kein Vergehen ist, wurde einst mit dem Tode bestraft. Das und nicht etwa der in jener Zeit übliche gesellschaftliche Verkehr der Männer mit- und untereinander, das „Verderben der Jugend“, wie die Anklage gegen Sokrates damals lautete.

* * *

Adolf Muschg* schreibt in dem oben zitierten Artikel: „Erotik ist immer Grenzüberschreitung“, es wäre „nur die Frage, ob sie uns willkommen ist oder nicht.“ Ich frage mich, warum so viele Menschen das Wesen der platonischen Liebe, des Eros’, nicht begreifen wollen und trotzig bleiben bei den anfänglichen Ausführungen der anderen Teilnehmer des Gastmahles zu der Liebe zu ihren Freunden, die im Grunde durch das von Sokrates und Plato Gesagte aufgehoben sind. Und darüber hinaus: Warum sehen so viele Menschen in diesen von Plato lächerlich gemachten Einsichten die Bestätigung für gleichgeschlechtliche Liebe im heutigen Sinne oder gar für Päderastie, die heute in keiner Form akzeptiert wird?

Und zum Schluss: Hartmut von Hentig*** sagt in seinem Interview im spiegel.de Folgendes: „ … an vielen humanistischen Gymnasien huldigte man dem Ideal der Kalokagathie der alten Griechen.“ Dies „könnte sexuelle Verführung begünstigen, … muss das nicht und hat das nicht, jedenfalls wird dergleichen derzeit nicht behauptet.“ Ja, das würde noch fehlen! Kalokagathia, das Erziehungsideal der alten Griechen, ist auch einer jener schwer übersetzbaren Begriffe. Dieser ist jedoch später in viele pädagogische Systeme eingeflossen, als Erziehungsideal eben. Kalokagathia, kalós kai agathós, zusammengesetzt aus kalós – schön und agathós – gut, war schon immer – und ist es bis heute – der Ausdruck für moralische, körperliche und geistige Vollkommenheit, die in der Erziehung und Bildung der Kinder und Jugend erreicht werden wolle. Herr von Hentig, wo ist hier Platz für die „Begünstigung der sexuellen Verführung“? Und wer soll wen zu sexuellen Handlungen verführen: Der schöne und gute Schüler den Lehrer oder der Lehrer, der die Ideale von kalós und agathós in seiner Arbeit verwirklichen will, das Kind?

* Adolf Muschg, Der Tagesspiegel, 15, März 2010

** Platon, Symposion, Patmos Verlag GmbH, Artemis & Winkler Verlag, 2002, Seiten 113-119

*** Hartmut von Hentig, spiegel.de , 14. März 2010

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• Kairos

In Kroatien, in der Stadt Trogir, in dem kleinen Museum des Nonnenklosters St. Nikolaus findet sich eine Darstellung des Gottes der günstigen Gelegenheit, des Kairos. Es ist die einzige Darstellung aus der Antike, die erhalten geblieben ist. Das Relief zeigt den Wagenlenker eines leichten, schnell fahrenden Pferdewagens. Nicht nur das schnelle Pferd, auch die Flügel an Kairos’ Füßen …

Kairos-Relief, römische Kopie des Originals von Lysippos (Hofbildhauer von Alexander dem Großen)

CHRONOS ist Gott der vergehenden Zeit, der Zeitenfolge, KAIROS – der günstigen Gelegenheit, der besonderen Chance

Kairos von Francesco Salviati

… bedeuten uns, dass er unterwegs ist und nicht lange bei uns verweilen wird. Mit seiner seltsamen, üppigen und in die Stirn fallenden Haarmähne sowie dem kahlen Hinterkopf hat es seine Bewandtnis: Der Haarschopf ist es, an dem wir, Erdenmenschen, die schnell vorbeieilende Gottheit packen können und müssen, um die einmalige Chance nicht zu verpassen, die sich uns in dem gleichmässigen Zeitverlauf, der Domäne des Chronos, in den Weg stellt. An dem kahlen Hinterkopf lässt sich Kairos nicht packen: Er ist vorbei! Sie ist vorbei, die Chance… Wir waren nicht schnell genug, nicht wach, wir ließen den flügelfüssigen Gott entkommen… Er kommt nicht zurück, er kommt nicht noch einmal… Eine zweite Chance gibt es nicht.

Poseidippos (3. Jahrhundert v. Chr.) hat ein Epigramm auf Kairos verfasst, übersetzt von J. Gründel:
„Wer bist du?
Ich bin Kairos, der alles bezwingt!
Warum läufst du auf Zehenspitzen?
Ich, der Kairos, laufe unablässig.
Warum hast du Flügel am Fuß?
Ich fliege wie der Wind.
Warum trägst du in deiner Hand ein spitzes Messer?
Um die Menschen daran zu erinnern, dass ich spitzer bin als ein Messer.
Warum fällt dir eine Haarlocke in die Stirn?
Damit mich ergreifen kann, wer mir begegnet.
Warum bist du am Hinterkopf kahl?
Wenn ich mit fliegendem Fuß erst einmal vorbeigeglitten bin,
wird mich auch keiner von hinten erwischen
so sehr er sich auch bemüht.
Und wozu schuf Euch der Künstler?
Euch Wanderern zur Belehrung.“

Chronos, die Personifizierung der Zeitenfolge, des Zeitabschnitts, des Zeitverlaufs nimmt sich selbst dann zurück, hält inne, wenn Kairos, die Inkarnation des Augenblicks, des Zeitpunktes in der Erfüllung des Schicksals an den Menschen herantritt: Um eine Wende oder eine neue Qualität in das Leben zu bringen. Eine horizontale Perspektive, die durch eine Vertikale geschnitten wird. In den Zeitenlauf der Menschheit im Allgemeinen und in den Lebenslauf des Individuums im Besondern stellt sich blitzartig ein fremder Wille, das Los. Kairos, ein Gott. Oder ist es für uns ein Engel, ein Schutzpatron? Der ganz und gar irdisch erscheint – in der Gestalt eines Menschen?

Das Bemerkenswerte jedoch an dieser Situation – die jeder Mensch kennt – ist das, dass ohne unser Zutun, also ohne das Bewusstsein und ohne unseren eigenen Willen, der mit dem Willen des Schicksals mitgeht, ohne eine schnelle Entscheidung dafür, ohne die Wachsamkeit, diese Gelegenheit nicht am Schopf gepackt werden wird: Schon ist der Gott des Augenblicks an uns vorbei geeilt! Die Chance ist verpasst, die helfende Hand nicht ergriffen…

Kairos erscheint aber in unserem Leben nicht nur als eine Chance, glücklicher Zufall, besondere Gelegenheit. Er stellt sich auch als Krise dar und da ist er nicht mehr so schnellfüßig, da wird er sich bei uns ausruhen, bis die Krise ausgestanden ist, bis wir die Lektion gelernt haben, bis die Krise uns gezwungen hat, eine Wahl, eine Entscheidung zu treffen, neue Wege zu gehen. In einer Krise bleibt er  beharrlich bei uns… Eine Krise ist aber dank Kairos nicht als Pech zu sehen, eher als notwendiger Knotenpunkt in unserem Leben.

Das Erscheinen des Gottes der besondern Chance in unserem Leben betrifft nicht immer unmittelbar unser eigenes Schicksal: Es kann als Auftrag verstanden werden, den wir für andere zu erfüllen haben. Auch hier gilt die Forderung nach besonderer Aufmerksamkeit, denn durch Unterlassen einer Handlung berauben wir eine andere Person der besonderen Chance und wir selbst verbinden uns durch das Nicht-Vergessen-Können der eigenen „Unterlassungssünde“ auf eine unglückliche Weise mit diesem Menschen, dem wir unsere Hilfe vorenthalten haben.

Kairos ist auch ein Begriff aus der Theologie. Die Worte aus dem Matthäus-Evangelium: „Seid wachsam, denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt! […] Haltet euch bereit, denn zur unvorhergesehener Stunde kommt der Menschensohn!“ (Mt 24, 37-44) sind trotz der ihnen innewohnenden Herausforderung, ein Ausdruck der Hoffnung für uns Menschen und der Liebe der göttlichen Welt zu uns Menschen.

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• Der Transzendentalismus

Der Geist und die moralische Kraft, die Raum und Zeit überschreiten, machen den Menschen erst zum Menschen.

Es gab einmal Zeit, als sich im fernen Amerika völlig unterschiedliche Persönlichkeiten, mit völlig unterschiedlichen Begabungen und intellektuellen Interessen, unabhängige Geister, Menschen, die mit dem Zeitgeist nicht konform gingen, in einem Zirkel zusammentaten. Es waren Geistliche dabei, Lehrer, Gebildete und Autodidakten, Frauen und Männer. Sie bildeten zusammen eine Bewegung, …

Der Geist und die moralische Kraft, die Raum und Zeit überschreiten, machen den Menschen erst zum Menschen.

…. eine eklektizistische Bewegung. Gemeinsam war ihnen die Verwurzelung in der englischen Romantik und die Empfänglichkeit für die Ideen des deutschen Idealismus. Es spielte sich um 1830 in Boston und Umgebung. Diese Bewegung ging unter dem Namen amerikanischer Transzendentalismus in die Geschichte ein.

Vordergründig richtete sich diese Bewegung gegen den theologischen Konservatismus der amerikanischen Kirche. Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau, Margaret Fuller, Walt Withman waren nur wenige Repräsentanten dieser Gruppierung. Diese Menschen entfalteten eine weit über Boston und über ihre Zeit reichende Wirkung. Diese von Grund auf idealistische Bewegung hatte einen scheinbar eskapistischen Charakter – ihre führenden Mitglieder traten für eine strikt der Natur zugewandte Lebensführung, Verzicht auf Luxus und Anhäufung von Gütern – sie war aber in Wirklichkeit der Welt zugewandt und hatte eine große praktische Bedeutung.

Diese Bewegung, gegründet auf einem religiösen Fundament, speiste sich, wie oben erwähnt, aus dem deutschen Idealismus von Kant, Jacobi, Fichte, Schleiermacher, brachte also eine idealistische Philosophie hervor. Eine Philosophie, die sich sowohl gegen ein ausschließlich materialistisches Konzept des Menschen wandte, als auch gegen ein übertrieben rationalistisches Denken.

Die praktische Bedeutung dieser philosophischen Bewegung lag darin, dass aus ihr heraus mehrere andere Bewegungen entstanden, die alle eine bedeutende Rolle im politischen und gesellschaftlichen Leben Amerikas über Jahrzehnte spielten. Ein außerordentlich starker Impuls, der als Konsequenz der Forderung nach freiheitlicher und selbstverantwortlicher Lebensgestaltung von dem Transzendentalismus ausging, mündete in den Abolitionismus, eine politische Bewegung, die lautstark für die Befreiung der Sklaven in den Südstaaten von USA auftrat und einen entscheidenden Einfluss auf die tatsächliche Befreiung der Sklaven im Jahr 1862 hatte. Aber den Denkern ging es nicht in erster Linie darum, die bloße Befreiung der Sklaven zu erreichen, auch nicht darum, die Rechte der Versklavten zu verteidigen, denn solche Rechte besaßen diese Menschen nicht; es ging um die Verteidigung des einen Rechts, eine Regierung zu haben, die spricht und handelt in deren Namen. Obwohl die abolitionistische Bewegung einen großen Einfluss auf die Geschichte der USA genommen hatte, geschah es nicht im Sinne der Transzendentalisten, denn die schwarze Bevölkerung der Vereinigten Staaten hatte damals nicht und hat wohl bis heute keine Regierung, die ihre Sprache sprechen würde, erkämpft oder bekommen.

Keine geringe Rolle in der Bewegung der Transzendentalisten spielten Frauen. Ihre Teilnahme an den Zusammenkünften und an dem Wirken war von Anfang an eine Selbstverständlichkeit; auch sie war aus der idealistischen Interpretation der Prinzipien abgeleitet. Aus ihr ging nichts geringeres als die Frauenbewegung hervor. In den 1840er Jahren organisierte Margaret Fuller, eine talentierte Frau,  Treffen und Diskussionsrunden für Frauen, in denen über Frauenrechte, über Erziehung, aber auch über Kunst und Literatur diskutiert wurde.

Aus der Idee der naturnahen Lebensführung war des Weiteren die erste Naturschutzbewegung der modernen Welt geboren.

„ … In den 1830er und 1840er Jahren wimmelt es in den Vereinigten Staaten von Reformern und Sozialutopisten. Da gibt es kaum einen Gebildeten –  schreibt Emerson 1840 in einem Brief an Carlyle –, der nicht mit dem Entwurf einer neuen Gesellschaft in der Westentasche herumliefe. Vielerorts werden Kommunen gegründet, von denen einige – insbesondere Fruitlands und Brook Farm – dem Transzendentalismus verpflichtet sind.“ Ich zitiere nach Prof. Dr. Dieter Schulz, einem Historiker, der wohl als einziger im deutschen Sprachraum diese Bewegung erforscht.

Nicht zu verachten ist der Einfluss dieser Denkschule auf die Entwicklung einer eigenständigen amerikanischen Nationalliteratur. Seine wichtigsten Vertreter sind die schon erwähnten Ralph Waldo Emerson, Margaret Fuller und Henry David Thoreau, aber auch die Schriftsteller der AmericanRenaissance wie Walt Whitman, Emily Dickinson, Nathaniel Hawthorne und Herman Melville.

Ralph Waldo Emerson:

Tage

Kinder der Zeit, die heuchlerischen Tage

Tanzen vermummt, barfüßig mir vorbei

Gleich stummen Derwischen in langer Reih.

Sie halten Diademe, halten Ruten in der Hand

Und reichen jedem, was er sich gewünscht,

Brot, Sterne, Königreiche, Himmel gar und Erd.

Aus meiner Gartenwildnis schaut` dem Pomp ich zu,

Vergaß der Morgenwünsche, langte hastig nur

Nach Kräutern, Äpfeln. Schweigend ging der Tag

Vor mir und schwand. Zu spät erst traf mich

Aus feierlichem Mummenschanz sein Hohn.


Der Philosoph und Dichter, brachte in diesem kurzen Gedicht seine ganze Abneigung und Verachtung dem Zeitgeist – oder dem Geist der Zeit – gegenüber meisterhaft zum Ausdruck. Emerson war der Überzeugung, dass das Wahre Menschliche, das Individualistische ist: „Der da ein Mann sein will, der muss Nonkonformist sein.“ Im menschlichen Wesen walten genug Kräfte, die es erlauben, aus sich heraus, aus der individuellen moralischen Stärke Entscheidungen zu treffen und danach zu handeln. Diese Vorstellung enthält den Postulat des Vorrangs der Reflexion über der Norm gerade im gesellschaftlichen und politischen Diskurs. Das Höherstellen der individuellen moralischen Phantasie (self-reliance) über die aktuell herrschende Norm ist der Ausdruck des geforderten Nonkonformismus.

In einem kleinen Ort in Massachusetts, in Concord trafen sich diese Philosophen und Revolutionäre des geistigen Lebens in unregelmäßigen Zeitabständen, um die für sie wichtigen Probleme zu diskutieren. Es waren Individualisten, Exzentriker, Utopisten, deren Einfluss auf die Gesellschaft jedoch groß war. Diese Denker verfassten vorwiegend Predigten, Reden, Vorträge, Streitschriften, Essays, Tagebücher, in denen sie sowohl die ethischen, ästhetischen, pädagogischen als auch religions- und kulturkritischen Themen erörterten. Die Vierteljahreszeitschrift The Dial, die von Margaret Fuller und später von Emerson herausgegeben worden war, war das wichtigste Publikationsorgan der Transzendentalisten. Concord, eine Provinzstadt, war nur eine von vielen kleinen Ortschaften mit einem regen geistigen Leben. Solche Aktivitäten waren charakteristisch für Amerika der langen Vor-TV-Ära.

Der originellste Geist in dieser Gruppe war zweifellos Henry David Thoreau, der in einem Werk „Walden, or Life in the Woods“ seine Erfahrungen beschrieb, die er in einer Klause am Rand des Waldensees, in der Nähe von Concord, machte. Er lebte etwa zwei Jahre lang im besonders engen Kontakt mit der Natur, was einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung seiner Individualität und seines geistigen Horizonts hatte. Durch diese scheinbare (weil er den Kontakt zur Familie und Freunden nicht unterbrochen hat) Weltflucht bewies Thoreau, dass der Mensch mit lebensnotwendigem Minimum auskommen kann und in der freien von überflüssigem Gelderwerb Zeit sich der Geist nützliche Dinge aneignen kann: Fremdsprachen, Literaturkenntnisse, Kenntnisse der umgebenden Natur, weiter kann der Mensch selbst schöpferisch wirken, indem er seine Gedanken aufschreibt und andere an seiner geistigen Arbeit teilhaben lässt. Was Thoreau auch tat. In seinem Blickfeld standen der Mensch, die Gesellschaft und die Natur. Thoreau bezeichnete sich selbst als einen Mystiker, Transzendentalisten und Naturphilosophen.

In der Hütte am Walden Pond, wo er sich länger aufhielt, entstand Thoreau`s wichtigstes gesellschaftskritisches Essay über den zivilen Ungehorsam: »Civil disobedience«. Diese Disobedienz lebte er übrigens selbst, auf sie haben sich 100 Jahre später seine Nachfolger berufen: Mahatma Ghandi und Martin Luther King.

Heute scheinen die Transzendentalisten, ihr Wirken und ihre Ideen weitgehend vergessen zu sein. In Europa sind es hauptsächlich Wissenschaftler, die sich noch mit dem Werk dieser Denker befassen. Dagegen in dem politischen Diskurs in den USA sind Thoreau`s Idee des zivilen Ungehorsam und Emersons Fragen: Wer spricht in meinem Namen, wem soll ich meine Stimme geben? nach wie vor lebendig. Diese Fragen kreisen seit eh und je um den Themenkomplex der Wechselbeziehung zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft.

Sowohl Emerson als auch Thoreau ging es um die Natur der Zugehörigkeit des Individuums zur Gemeinschaft und vor allem um die Zustimmung gegenüber der Gemeinschaft oder Gesellschaft: Erst die Gesellschaft gibt dem Individuum die politische Stimme; diese Gesellschaft kann jedoch die Vereinbarung verraten, so, dass das Individuum sich verpflichtet sieht, mit der Gesellschaft – im Bezug auf aktuelle Fragen – zu brechen: Der Mensch fühlt sich der Gesellschaft nicht mehr verpflichtet. Die Zustimmung gegenüber der Gemeinschaft, die durch Eliten repräsentiert ist, ist und bleibt Gegenstand einer permanenten Diskussion. Es geht also darum, dass das Individuum sich dessen bewusst wird, wann wesentliche Prinzipien, die Gegenstand der Vereinbarung sind, verletzt werden.

Wir sehen, wie aktuell die Thesen von Emerson und Thoreau sind. Sie bleiben in einem republikanischen System noch über lange Zeit aktuell, sie sind dieser Staatsform immanent. Sicher werden sie in Amerika diskutiert, sie verdienen es aber, auch in den europäischen Ländern thematisiert zu werden.

In meiner kurzen Zusammenfassung wollte ich an diese „engagierten Philosophen“, Amerikaner par excellence und ihr Werk, der an Aktualität gewinnt und nicht verliert, erinnern.

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