Um den Gedanken, der im Titel des Buches von Thilo Sarrazin1 enthalten ist, verstehen zu können, muss man sich das Phänomen der Zuwanderung vom Gesichtspunkt der Soziologie anschauen. Dabei muss die Besonderheit der Immigration aus den muslimischen Ländern nach Europa genau betrachtet werden. Das Thema ist umfassend, hat viele Aspekte; ich wage hier eine kurze Analyse ausgewählter Probleme.
Mit seinem Buch Deutschland schafft sich ab hat Sarrazin ein Gewitter beschworen. Vor allem in den Medien und in der Welt der Politik. Im Endeffekt musste der Autor vom Vorstand der Bundesbank zurücktreten; es droht ihm Ausschluss aus der SPD, deren Mitgliedschaft er seit Jahrzehnten besitzt. Sogar heute, ein halbes Jahr nach dem Erscheinen des Buches steht der Autor in heftiger Kritik. Leider werden Sarrazins Thesen selten kritisiert – der Autor um so heftiger. Argumente der Kritiker sind überwiegend unsachlich, was diese disqualifiziert. Die Krone dieser „Kritik“ setzt ein Berliner Rapper auf – sein Streich ist zudem eine Folge der Angriffe auf Sarrazin: Es erscheint ein Video mit dem Song „Ghettolied 2011“. Im Hintergrund brennt ein Plakat mit Sarrazins Konterfei…
Die mediale Kritik konzentriert sich anfangs auf den statistischen Daten, die vom Autor angeführt werden: Die Statistiken werden – mit mehr oder weniger Erfolg – in Frage gestellt. Wesentliche, mit seinen Thesen im Zusammenhang stehende Vorwürfe aber werden nur von wenigen Publizisten geäußert. Sie betreffen allen voran seine riskanten Prophezeiungen über Zukunft des Landes und die Versuche, komplizierte soziale Phänomene mit… Genetik zu erklären. Diesbezügliche Ausführungen des Autors widersprechen fataler Weise jeglicher wissenschaftlichen Korrektheit. Die mediale Kritik vernachlässigt jedoch seine vom Gesichtspunkt der Soziologie und Biologie unwissenschaftliche Art, die Probleme, die im Zusammenhang mit Zufluss der fremden Bevölkerung stehen, zu analysieren. Und Sarrazin, obwohl sehend und beobachtend sieht und versteht nicht, was sich wirklich in der Gesellschaft abspielt. Wesentliche soziologische Untersuchungen, die die Integration der Einwanderer genau untersucht und Gesetzmäßigkeiten entdeckt haben, erwähnt er nicht. Dazu kommt seine Sprache, die die – sicher ungewollte – Verachtung der Menschen, die er zum Objekt seiner pseudowissenschaftlichen Ausführungen gemacht hat, verrät.
Heute, in Zeiten der Globalisierung, kann sich kein europäisches Land vor dem Zustrom der Einwanderer „schützen“. Die Diffusion aus Ländern, in denen Armut und Überbevölkerung herrschen, die von Naturkatastrophen betroffen sind, aus Gegenden, wo Hunger und Krieg wüten, wo Diktatoren herrschen und die Lage zwingt, nach Sicherheit in der Ferne zu suchen und ein besseres Leben und bessere Zukunft anzustreben, ist ein Faktum. Grundsätzlich kann man die Entwicklung nicht aufhalten, fraglich ist sogar, ob man sich davor wehren soll, obschon der Anblick der überlasteten Boote, auf denen die Flüchtlinge nach Europa – dem versprochenen Land – um den Preis des Lebens, immer und immer wieder strömen, Entsetzen hervorruft. Nichts jedoch spricht dafür, dass Probleme in den Heimatländern, die Folgen von Kolonialismus, Neokolonialismus, und gescheiterter Entwicklungshilfe sind, zur Zeit gelöst werden könnten. Massenmigration – eine Völkerwanderung – scheint also aus der Entwicklung der letzten Jahrhunderte zwingend zu resultieren. Ihr Ziel ist seit Jahrzehnten Westeuropa, aber die Art und Weise, wie die Ankunftsstaaten die Ansiedlung der Einwanderer organisieren, zeugt von Gleichgültigkeit gegenüber den Problemen, die auf die Immigration unabwendbar folgen. Zu den Problemen gehören auch Ängste und Phobien der autochthonen Bevölkerung.
Die ersten soziologischen Untersuchungen an Immigranten wurden bereits in den Jahren 1918-20 in Amerika von William I. Thomas und Florian Znaniecki durchgeführt. Da sie in ihrer Pionierarbeit die Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten der Adaptation in einer diametral neuen Umwelt erkannt haben, bleibt sie auch heute aktuell. Die Ergebnisse ihrer Forschung haben sie in dem Buch Der polnische Bauer in Europa und Amerika2 präsentiert. Das fünfbändige Werk hat den Autoren eine internationale Bekanntheit beschert. Ihre Untersuchungen haben Znaniecki und Thomas an mehreren Generationen der hauptsächlich aus dem armen Galizien in die hochindustriellen Städte von Amerika emigrierten polnischen Bauern durchgeführt:
Immigranten der ersten Generation integrieren sich grundsätzlich schlecht und eher unwillig. Als Angehörige der unteren, bildungsfernen gesellschaftlichen Schicht ändern sie in ihrem neuen Lebensumfeld das Verhalten nicht, die neue Sprache beherrschen sie nur in einem zum Ausführen der beruflichen Tätigkeit notwendigen Grad. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Sicherung der Existenz. Sie leben in dem neuen Land, sprechen die „alte“ Sprache, ihre Sitten und moralischen Prinzipien stammen aus der weit entfernten Welt. Das Bedürfnis, daran etwas zu ändern, ist grundsätzlich nicht vorhanden. Das soziale Bewusstsein ist nicht entwickelt, so dass die Anpassung an die neue soziale Umwelt, vor allem das Knüpfen sozialer Kontakte mit der autochthonen Bevölkerung kaum stattfindet. Sie arbeiten hart, bauen eine neue Existenz – das ist schwer genug. Ihre Kinder, gleich, ob sie mitgekommen sind oder schon in dem neuen Land geboren, befinden sich in einer diametral anderen Lage: Die Bindung mit dem Ursprungsland der Eltern ist kaum vorhanden, die Sprache der Eltern kennen sie nur aus den fragmentarischen häuslichen Gesprächen ungebildeter Menschen. In der Schule sind sie zwar gezwungen, die neue Sprache zu lernen, die Beherrschung dieser kann aber – das ergibt sich aus der Natur der Sache – nicht ausreichend sein. Die mangelhafte Bildung erlaubt ihnen nicht, weitere Sprossen der sozialen Leiter zu erklimmen, das Knüpfen der sozialen Kontakte ist ebenfalls dadurch wesentlich erschwert, oft finden sie keinen Partner fürs Leben. Mit einem Wort, diesen Menschen gelingt es nicht, Wurzeln zu schlagen. Das Gefühl der Vereinsamung, ein Mangel an Erfolgen, wachsende Aggression – das alles führt dazu, dass die zweite Generation der Immigranten überdurchschnittlich oft in Konflikt mit dem Gesetz gerät. Erst über die dritte – und weitere – Generationen der Zuwanderer lässt sich sagen, sie haben die neue Ordnung akzeptiert und soziale Kontakte geknüpft, ergo – sie haben Wurzeln geschlagen. Bei ihnen unterscheidet sich Kriminalität grundsätzlich nicht von der der autochthonen Bevölkerung.
Eine ähnliche Entwicklung hat man in Deutschland beobachtet, als es in den 90iger Jahren zu einer Immigrationswelle aus der ehemaligen Sowjetunion gekommen ist: Tausende Familien, allen voran Wolga-Deutsche, sind in der Bundesrepublik angekommen. Erwachsene haben eine Beschäftigung gefunden, waren mit der Organisation des Lebens in dem neuen Land beschäftigt und ihre Söhne, denn es betrifft hauptsächlich die männlichen Nachkommen der Immigranten, haben in hohem Tempo die Gefängnisse gefüllt. Man hat viel über dieses Phänomen gesprochen und geschrieben. Jedoch dank der Resozialisationsarbeit und des Drucks, eine berufliche Tätigkeit aufzunehmen, aber auch dank der Unterstützung des Staates bei Bildung und Weiterbildung, ist diese Welle abgeebbt. Heute arbeiten sie, gründen Familien, auch ihr Heiratsverhalten deutet auf stattgefundene Integration. Dies ist mit Genugtuung von Politikern und Soziologen registriert worden.
Die ersten Gastarbeiter sind vor etwa 50 Jahren nach Deutschland gekommen. Ein Teil ist im Land geblieben, ein Teil ist in die Heimatländer zurückgekehrt. Die, die geblieben sind, sind grundsätzlich gut integriert. Ein Teil der Gastarbeiter und anderer Zuwanderer, hauptsächlich türkischer und arabischer Herkunft, Muslime also, die geblieben sind, bilden hier eine Ausnahme. Nicht alle Muslime jedoch: Perser, die nach dem Sturz des Schah-Regimes und der Machtübernahme von den Ayatollahs nach Deutschland gekommen sind, Iraker, Afghanen – alle aus mittleren und höheren Gesellschaftsschichten, aber auch Aleviten, ein liberalerer Teil der Muslime – sie alle sind gut integriert in die Gesellschaft. Nicht gelungen ist die Integration der Muslime, die aus der untersten Gesellschaftsschicht stammen. Aber die im 19. Jahrhundert aus Galizien nach Amerika emigrierende personifizierte Armut stand auch auf der niedrigsten Ebene der sozialen Pyramide und ihre Integration ist erfolgreich verlaufen. Also weder Armut noch Religion sind bestimmend für das Nichtgelingen der Integration.
Die Gesetzmäßigkeiten, die Thomas und Znaniecki entdeckt haben, sind in Deutschland nie diskutiert worden; sie sind weitgehend unbekannt. Grundsätzlich wird erwartet, dass die Anpassung der Zuwanderer linear erfolgt, vor allem aber automatisch. Thilo Sarrazin schreibt:
„Rätsel gibt auch auf, warum die Fortschritte in der zweiten und dritten Generation, soweit sie überhaupt auftreten, bei muslimischen Migranten deutlich geringer sind als bei anderen Gruppen mit Migrationshintergrund.“3
In einem bedeutenden Teil der türkischen Bevölkerung in Deutschland beobachten wir ein früher unbekanntes, von niemandem antizipiertes, Phänomen: Junge Frauen, oft noch Mädchen, werden nach dem Willen der Eltern verheiratet, oft mit Verwandten in der alten Heimat. Junge Männer von Natur aus und infolge der Erziehung der Typus „Macho“, heiraten eher nicht die jungen Türkinnen, die in Deutschland groß geworden sind. Diese jungen Frauen sind nicht mehr so sanftmütig und fügsam, wie ihre Mütter, die vor Jahren aus der Türkei gekommen waren. Das ist der Grund, warum sie für die jungen Türken als Partnerinnen nicht interessant sind; die jungen Männer suchen ihre Ehepartnerinnen in der alten Heimat der Eltern. Der Zuzug der Ehefrauen und Ehemänner aus der Türkei, meistens aus den abgelegenen anatolischen Dörfer, Menschen die nicht gebildet sind und der deutschen Sprache nicht mächtig, ist zu einem reellen Problem geworden. Kinder aus diesen Familien, scheinbar schon die nächste Generation, in Wirklichkeit in der Lage der zweiten Generation im Sinne von Znaniecki und Thomas, erleben die typischen Schwierigkeiten der „zweiten Generation“, obwohl sie faktisch die dritte oder vierte Generation sind. Diese „zweite Generation“ perpetuiert sich somit von Generation zu Generation und der Übergang zur dritten Generation im Sinne der Wissenschaft erfolgt nicht.
Das Problem der „Importbräute“ ist alles andere als einfach zu lösen. Selbstverständlich hat der Staat nicht die Möglichkeit das Heiratsverhalten der Menschen zu regeln. Das scheinbar einzig Mögliche – und das wird auch gemacht – sind Sprachkurse für die Neuangekommenen, denn die Beherrschung der Landessprache ist Basis für jegliche Integration. Das ist viel, jedoch absolut nicht ausreichend. Die Kinder kommen in die Schule mit rudimentären Deutschkenntnissen, schulische Misserfolge sind also vorprogrammiert, der zu erwartende Einstieg in das Berufsleben so gut wie unmöglich. Kriminalität oder gar Gangzugehörigkeit ist in dieser Bevölkerungsgruppe, besonders in den großen Städten, ein bekanntes Phänomen. Zu Hause spricht man türkisch, das Fernsehprogramm – dank der Satellitenantennen – empfängt man aus der Türkei. Die immer größer werdende ethnische Gruppe zwingt nicht, Mühe der Integration auf sich zu nehmen – in einem türkischen Viertel fühlt man sich zu Hause. So entsteht eine Minderheit in der Mehrheitsgesellschaft und nicht eine zwar ethnisch differenzierte, jedoch homogene Gemeinschaft. Die Immigration aus den arabischen Länder, aber auch aus Kurdistan, stellt den Staat vor gravierende Probleme: Es ziehen ganze Großfamilien und Klans nach Deutschland, es entstehen Parallelgeselschaften; von der Teilnahme am Produktionsprozess kann wenig die Rede sein, die Existenz muss vom Staat gesichert werden, Kriminalität blüht.
Sowohl in der türkischen, als auch in der arabischen Gesellschaft haben Worte wie „Ehre“ oder „Würde“ eine besonders große Bedeutung. Jedoch weit von der Heimat sind Männer, Familienväter, die für sich Respekt und Gehorsam beanspruchen, in Wirklichkeit nicht in der Lage, ihren Söhnen zu imponieren – weil sie kein eigenes Einkommen haben, weil nicht sie, sondern der Staat die Existenz der Familie sichert. Gehorsam und vermeintliche Autorität basieren auf bloßer körperlicher Gewalt. Auch Gewalt gehört zu den Verhaltensmustern, die ihre Kinder nachahmen.
Thilo Sarrazin rechnet aus, dass sich bei einer tatsächlichen überdurchschnittlichen Fertilität der jungen Türkinnen, Araberinnen und auch der Frauen aus der deutschen Unterschicht und bei der sinkenden relativen Geburtenzahlen in der mittleren und höheren Gesellschaftsschicht in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern, die Mehrheitsverhältnisse in einigen Jahrzehnten umkehren werden. Ob sich seine Prognosen erfüllen werden, weiß heute niemand, diese sind auch wenig wahrscheinlich. Präsentation unsicherer Prognosen führt bekanntlich nirgendwo hin: Nicht wenige Male hat die Geschichte gezeigt, das sich ein demographischer Wandel unerwartet, von niemandem vorgesehen, vollzieht und langfristige Prognosen eher nicht in Erfüllung gehen. Ein Beispiel: Die hohe Geburtenrate in Polen in den 70iger Jahren wird nicht von einem erneuten Babyboom gefolgt; der heutige demographische Wandel in Polen, also das Älterwerden der Gesellschaft und eine niedrige Geburtenrate geben dort genauso wie im Westen Europas Grund zur Sorge.
Sarrazins Prognose, das Intelligenzniveau in der Gesellschaft wird sinken, eine Prognose, der er die Fertilität der Frauen in bestimmten ethnischen und gesellschaftlichen Gruppen, die Schulleistungen ihrer Kinder und auch die Teilnahme (oder Nichtteilnahme) am Arbeitsmarkt zu Grunde legt, ist unverantwortlich. Ihre Treffsicherheit kann gegenwärtig keineswegs verifiziert werden, ihr Verbreiten resultiert allerdings in der Mehrheitsgesellschaft in erster Linie mit dem Gefühl der Bedrohung, mit verschiedenen Ängsten und mit einer sichtbaren mentalen und verbalen Aggression den Menschen gegenüber, um die man sich auf eine rationale Weise kümmern muss, wenn man sie aufgenommen hat. Sarrazin unternimmt den Versuch zu beweisen, dass, wenn der IQ in der Unterschicht, unabhängig von der Nationalität, unterdurchschnittlich ist und die Fertilität überdurchschnittlich im Vergleich zu den höheren Gesellschaftsschichten, die durchschnittliche Intelligenz der Bevölkerung im Vergleich zu dem heutigen Niveau sinken wird. Die Rechnung ist genauso einfach wie einfältig. In den Völkern wirken Kräfte, die zur Erneuerung oder zum Untergang führen – wie schon oft in der Geschichte – Kräfte, die nichts mit dem Intelligenzniveau der Menschen zu tun haben. Ursachen dieser Prozesse bleiben für die Wissenschaft immer noch ein Rätsel. Eins ist aber sicher: Wir leben mitten im einem stattfindenden Bruch der Geschichte; eine neue Epoche, die mit dem Prozess der Globalisierung begonnen hat, kommt, alte Eliten werden untergehen, neue werden zu gegebener Zeit erscheinen.
Ein Blick vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft gelingt Sarrazin nicht, aber mit den Thesen der Naturwissenschaft geht er geradezu unbedarft um:
„Die Darwinsche Evolutionstheorie, die Mendelschen Gesetze und empirischen Befunde zur Vererbbarkeit geistiger Eigenschaften, darunter auch menschlicher Intelligenz, ergeben zusammen ein empirisch-logisches Gedankengebäude, gegen das man mit Anspruch auf wissenschaftliche Seriosität kaum etwas vorbringen kann.“4
Es ist verwunderlich, dass er so komplexe und komplizierte, immer noch nicht endgültig erkannte Prozesse, wie es die Vererbung, ganz besonders die Vererbung der geistigen Eigenschaften, wie Intelligenz, Talente oder Begabungen sind, in einem Satz erklären will. Mit Hilfe der Mendelschen Gesetze, heute Mendelsche Regeln genannt, kann nicht mal die Vererbung der Erbkrankheiten erklärt werden, geschweige denn die der geistigen Eigenschaften. „Intelligenz ist zu 50-80 Prozent vererbbar“, behauptet Sarrazin. Diese These führt auf geradem Wege zum Widerspruch: Wenn wir annehmen, der Vererbungsfaktor für den IQ liegt bei 50 (Prozent), bedeutet es zugleich, Erziehung und Schule hätten große Aufgaben vor sich. Ein Faktor von 80 Prozent – ließe der Familie und Schule gar keine Chancen. Der Autor sieht diesen Widerspruch nicht.
Langsam und mit großer Verspätung beginnt die Politik zu erkennen, dass der einzig richtige Weg zur Integration durch eine gut organisierte Kinderbetreuung und Schule führt. Überall zugängliche, gut ausgestattete Kinderkrippen, Kindergärten und Ganztagsschulen scheinen ein wirklicher Ausweg aus dieser Situation zu sein. Man wird Geld brauchen und viele Erzieher und Lehrer, die gut ausgebildet sind, auch Lehrer männlichen Geschlechts, denn nur diese werden von den heranwachsenden „Machos“ akzeptiert. Es lässt sich nicht ändern. Der Staat sollte schon längst auf diesem Weg sein. Zu lange dauert die Suche nach den kausalen Zusammenhängen. Indes schreibt Thilo Sarrazin ein Buch, indem er zwar die Dinge oft brutal beim Namen nennt, aber eigentlich sie nicht versteht, was er ja selbst unterstreicht. Seine Lösungsvorschläge sind nicht falsch, aber lange noch nicht zu Ende gedacht.
Beim Betrachten der Probleme, die mit der Integration der muslimischen Einwanderer in einem Zusammenhang stehen, dürfen wir den Aspekt der Religiosität nicht außer acht lassen. Die islamische Religiosität hat in ihrem Wesen nicht den individuellen Charakter, sie ist, besonders in den niedrigen Gesellschaftsschichten, im Grunde ein Element der Identifikation mit der Gruppe, dem Volk, dem Staat. Der Islam erlaubt die Apostasie nicht; sie hat zivilrechtliche Folgen und im schlimmsten Fall wird sie mit der Todesstrafe geahndet. Zudem erklärt der türkische Staat immer wieder seinen Anspruch auf die faktische Führerschaft bei den in der Diaspora lebenden Türken. Der Islam zeigt sich hier als ein geschlossenes System, die Menschen verbleiben darin wie in einem Zauberkreis. Dies erleichtert in keiner Weise die Adaptation an die neue Lebenssituation.
Die Grundhaltung der Muslime zu der westlichen Kultur wird selten zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Analyse. Man kann jedoch vermuten, die Einstellung sei weitgehend nicht ausreichend positiv, um den Willen zur Integration oder Assimilation in die westlichen Gesellschaften stärken zu können. Außerdem ist der Einfluss der muslimischer Autoritäten einer intensiven Integration nicht zuträglich. Der türkische Premierminister, Recep Tayyip Erdogan, hat bei seinem emotional hochgeladen Auftritt im Jahr 2008 in Köln vor 25 000 Türken die Menschen aufgerufen, sich nicht zu assimilieren, denn das sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Erdogan hat auch verlangt, in Deutschland sollen türkischsprachige Gymnasien errichtet werden. Das würde definitiv selbst die Idee der Integration untergraben. Im Jahr 2011 wiederholt Erdogan seinen Auftritt in Deutschland. Und wie soll man von einfachen Menschen erwarten, dass sie die Mühen der Integration auf sich nehmen und dass sie verstehen können, diese liegt in ihrem Interesse? Und dass auch das Interesse des Gastlandes zählt?
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tendierten die Gesellschaften des Fern- und Nahosten, wie Japan, Indien, Sowjetrussland, muslimische Staaten, diese zum Teil bis heute, angesichts der gewaltigen industriellen und zivilisatorischen Entwicklung des Westens zur Übernahme einer in Deutschland geborener, in den Jahren 1871-1945 lebendiger antiaufklärerischer Verachtung der Ideen der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit –, der Liberalität, des Kapitalismus, zur Übernahme des Hasses gegen die großen Städte, weil sie in diesen Orte der Verderbnis und Sittenverfalls sahen und zum großen Teil noch heute sehen. Ob und wie dieser Okzidentalismus5, dieses Dämonisieren des Westens, Einfluss hat auf die mehr oder weniger bewussten Einstellungen der heutigen Einwanderer aus den muslimischen Ländern? Und im welchen Grade ist er als hemmender Faktor bei der Integration zu sehen? Sarrazin knüpft kurz an das Problem an, seine Folgerungen stehen jedoch nicht im historischen Kontext, erklären also nichts.
Welche Folgen Sarrazins Buch auf die deutsche Politik, aber vor allem auf die hier lebenden Türken haben wird, bleibt noch offen. Sein Verdienst ist das Aufgreifen des Themas, das bis dahin in der Politik und besonders in den Medien ein absolutes Tabu gewesen ist. Diese Diskussion wird zurückkehren. Wichtig ist, dass das Thema nicht von außen rechts besetzt wird, dass die liberalen Medien inhomogener berichten und die Probleme der Immigration und Integration rational und nicht emotional behandelt werden. Dass von den sich aus der Diskussion ergebenden Schlussfolgerungen zum Handeln übergegangen wird. Denn Apathie und eine Unfähigkeit zu handeln scheinen zur Zeit die größten Probleme der westlichen Staaten zu sein.
Nicht weniger wichtig und außerdem historiosophisch überaus interessant ist das Verhältnis des europäischen Selbstverständnisses als christliche Welt zu dem in Europa heimisch werdenden Islam. Welche Richtung die Entwicklung nehmen wird, ist heute ungewiss. Erwünscht wäre in meinen Augen das Entstehen eines Euro-Islams; das würde beide Seiten des Prozesses bereichern: die Christen und die Muslime.
* * *
1 Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, Deutsche Verlags-Anstalt, Monachium 2010
2 William Isaac Thomas i Florian Znaniecki, The Polish Peasant in Europe and America, 1918-20.
3 Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, s. 287
4 ibidem, s. 351
5 Ian Buruma i Avishai Margalit, Occidentalism. The West in the Eyes of Its Enemies, Copyright by Ian Buruma and Avishai Margalit; (Okcydentalizm, Zachód w oczach wrogów, przełożył Adam Lipszyc, Towarzystwo Autorów i Wydawców Prac Naukowych UNIVERSITAS, Kraków, 2005)
Okzidentalismus: In Anlehnung an und als Replik auf den von Edward Said geprägten Begriff Orientalismus bezeichnet man als Okzidentalismus eine Ideologie des Hasses gegen den Okzident, gegen westliche Gesellschaftsstrukturen und Werte. In dieser Bedeutung wurde der Begriff von Ian Buruma und Avishai Margalit geprägt. Sie finden dieses Phänomen u.a. in der deutschen Romantik, der westlichen konservativen Kulturkritik, bei Islamisten und bei antiimperialistischen Linken. http://de.wikipedia.org/wiki/Okzidentalismus