• Worüber Thilo Sarrazin nicht schreibt

Um den Gedanken, der im Titel des Buches von Thilo Sarrazin1 enthalten ist, verstehen zu können, muss man sich das Phänomen der Zuwanderung vom Gesichtspunkt der Soziologie anschauen. Dabei muss die Besonderheit der Immigration aus den muslimischen Ländern nach Europa genau betrachtet werden. Das Thema ist umfassend, hat viele Aspekte; ich wage hier eine kurze Analyse ausgewählter Probleme.

Mit seinem Buch Deutschland schafft sich ab hat Sarrazin ein Gewitter beschworen. Vor allem in den Medien und in der Welt der Politik. Im Endeffekt musste der Autor vom Vorstand der Bundesbank zurücktreten; es droht ihm Ausschluss aus der SPD, deren Mitgliedschaft er seit Jahrzehnten besitzt. Sogar heute, ein halbes Jahr nach dem Erscheinen des Buches steht der Autor in heftiger Kritik. Leider werden Sarrazins Thesen selten kritisiert – der Autor um so heftiger. Argumente der Kritiker sind überwiegend unsachlich, was diese disqualifiziert. Die Krone dieser „Kritik“ setzt ein Berliner Rapper auf – sein Streich ist zudem eine Folge der Angriffe auf Sarrazin: Es erscheint ein Video mit dem Song „Ghettolied 2011“. Im Hintergrund brennt ein Plakat mit Sarrazins Konterfei…

Die mediale Kritik konzentriert sich anfangs auf den statistischen Daten, die vom Autor angeführt werden: Die Statistiken werden – mit mehr oder weniger Erfolg – in Frage gestellt. Wesentliche, mit seinen Thesen im Zusammenhang stehende Vorwürfe aber werden nur von wenigen Publizisten geäußert. Sie betreffen allen voran seine riskanten Prophezeiungen über Zukunft des Landes und die Versuche, komplizierte soziale Phänomene mit… Genetik zu erklären. Diesbezügliche Ausführungen des Autors widersprechen fataler Weise jeglicher wissenschaftlichen Korrektheit. Die mediale Kritik vernachlässigt jedoch seine vom Gesichtspunkt der Soziologie und Biologie unwissenschaftliche Art, die Probleme, die im Zusammenhang mit Zufluss der fremden Bevölkerung stehen, zu analysieren. Und Sarrazin, obwohl sehend und beobachtend sieht und versteht nicht, was sich wirklich in der Gesellschaft abspielt. Wesentliche soziologische Untersuchungen, die die Integration der Einwanderer genau untersucht und Gesetzmäßigkeiten entdeckt haben, erwähnt er nicht. Dazu kommt seine Sprache, die die – sicher ungewollte – Verachtung der Menschen, die er zum Objekt seiner pseudowissenschaftlichen Ausführungen gemacht hat, verrät.

Heute, in Zeiten der Globalisierung, kann sich kein europäisches Land vor dem Zustrom der Einwanderer „schützen“. Die Diffusion aus Ländern, in denen Armut und Überbevölkerung herrschen, die von Naturkatastrophen betroffen sind, aus Gegenden, wo Hunger und Krieg wüten, wo Diktatoren herrschen und die Lage zwingt, nach Sicherheit in der Ferne zu suchen und ein besseres Leben und bessere Zukunft anzustreben, ist ein Faktum. Grundsätzlich kann man die Entwicklung nicht aufhalten, fraglich ist sogar, ob man sich davor wehren soll, obschon der Anblick der überlasteten Boote, auf denen die Flüchtlinge nach Europa – dem versprochenen Land – um den Preis des Lebens, immer und immer wieder strömen, Entsetzen hervorruft. Nichts jedoch spricht dafür, dass Probleme in den Heimatländern, die Folgen von Kolonialismus, Neokolonialismus, und gescheiterter Entwicklungshilfe sind, zur Zeit gelöst werden könnten. Massenmigration – eine Völkerwanderung – scheint also aus der Entwicklung der letzten Jahrhunderte zwingend zu resultieren. Ihr Ziel ist seit Jahrzehnten Westeuropa, aber die Art und Weise, wie die Ankunftsstaaten die Ansiedlung der Einwanderer organisieren, zeugt von Gleichgültigkeit gegenüber den Problemen, die auf die Immigration unabwendbar folgen. Zu den Problemen gehören auch Ängste und Phobien der autochthonen Bevölkerung.

Die ersten soziologischen Untersuchungen an Immigranten wurden bereits in den Jahren 1918-20 in Amerika von William I. Thomas und Florian Znaniecki durchgeführt. Da sie in ihrer Pionierarbeit die Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten der Adaptation in einer diametral neuen Umwelt erkannt haben, bleibt sie auch heute aktuell. Die Ergebnisse ihrer Forschung haben sie in dem Buch Der polnische Bauer in Europa und Amerika2 präsentiert. Das fünfbändige Werk hat den Autoren eine internationale Bekanntheit beschert. Ihre Untersuchungen haben Znaniecki und Thomas an mehreren Generationen der hauptsächlich aus dem armen Galizien in die hochindustriellen Städte von Amerika emigrierten polnischen Bauern durchgeführt:

Immigranten der ersten Generation integrieren sich grundsätzlich schlecht und eher unwillig. Als Angehörige der unteren, bildungsfernen gesellschaftlichen Schicht ändern sie in ihrem neuen Lebensumfeld das Verhalten nicht, die neue Sprache beherrschen sie nur in einem zum Ausführen der beruflichen Tätigkeit notwendigen Grad. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Sicherung der Existenz. Sie leben in dem neuen Land, sprechen die „alte“ Sprache, ihre Sitten und moralischen Prinzipien stammen aus der weit entfernten Welt. Das Bedürfnis, daran etwas zu ändern, ist grundsätzlich nicht vorhanden. Das soziale Bewusstsein ist nicht entwickelt, so dass die Anpassung an die neue soziale Umwelt, vor allem das Knüpfen sozialer Kontakte mit der autochthonen Bevölkerung kaum stattfindet. Sie arbeiten hart, bauen eine neue Existenz – das ist schwer genug. Ihre Kinder, gleich, ob sie mitgekommen sind oder schon in dem neuen Land geboren, befinden sich in einer diametral anderen Lage: Die Bindung mit dem Ursprungsland der Eltern ist kaum vorhanden, die Sprache der Eltern kennen sie nur aus den fragmentarischen häuslichen Gesprächen ungebildeter Menschen. In der Schule sind sie zwar gezwungen, die neue Sprache zu lernen, die Beherrschung dieser kann aber – das ergibt sich aus der Natur der Sache – nicht ausreichend sein. Die mangelhafte Bildung erlaubt ihnen nicht, weitere Sprossen der sozialen Leiter zu erklimmen, das Knüpfen der sozialen Kontakte ist ebenfalls dadurch wesentlich erschwert, oft finden sie keinen Partner fürs Leben. Mit einem Wort, diesen Menschen gelingt es nicht, Wurzeln zu schlagen. Das Gefühl der Vereinsamung, ein Mangel an Erfolgen, wachsende Aggression – das alles führt dazu, dass die zweite Generation der Immigranten überdurchschnittlich oft in Konflikt mit dem Gesetz gerät. Erst über die dritte – und weitere – Generationen der Zuwanderer lässt sich sagen, sie haben die neue Ordnung akzeptiert und soziale Kontakte geknüpft, ergo – sie haben Wurzeln geschlagen. Bei ihnen unterscheidet sich Kriminalität grundsätzlich nicht von der der autochthonen Bevölkerung.

Eine ähnliche Entwicklung hat man in Deutschland beobachtet, als es in den 90iger Jahren zu einer Immigrationswelle aus der ehemaligen Sowjetunion gekommen ist: Tausende Familien, allen voran Wolga-Deutsche, sind in der Bundesrepublik angekommen. Erwachsene haben eine Beschäftigung gefunden, waren mit der Organisation des Lebens in dem neuen Land beschäftigt und ihre Söhne, denn es betrifft hauptsächlich die männlichen Nachkommen der Immigranten, haben in hohem Tempo die Gefängnisse gefüllt. Man hat viel über dieses Phänomen gesprochen und geschrieben. Jedoch dank der Resozialisationsarbeit und des Drucks, eine berufliche Tätigkeit aufzunehmen, aber auch dank der Unterstützung des Staates bei Bildung und Weiterbildung, ist diese Welle abgeebbt. Heute arbeiten sie, gründen Familien, auch ihr Heiratsverhalten deutet auf stattgefundene Integration. Dies ist mit Genugtuung von Politikern und Soziologen registriert worden.

Die ersten Gastarbeiter sind vor etwa 50 Jahren nach Deutschland gekommen. Ein Teil ist im Land geblieben, ein Teil ist in die Heimatländer zurückgekehrt. Die, die geblieben sind, sind grundsätzlich gut integriert. Ein Teil der Gastarbeiter und anderer Zuwanderer, hauptsächlich türkischer und arabischer Herkunft, Muslime also, die geblieben sind, bilden hier eine Ausnahme. Nicht alle Muslime jedoch: Perser, die nach dem Sturz des Schah-Regimes und der Machtübernahme von den Ayatollahs nach Deutschland gekommen sind, Iraker, Afghanen – alle aus mittleren und höheren Gesellschaftsschichten, aber auch Aleviten, ein liberalerer Teil der Muslime – sie alle sind gut integriert in die Gesellschaft. Nicht gelungen ist die Integration der Muslime, die aus der untersten Gesellschaftsschicht stammen. Aber die im 19. Jahrhundert aus Galizien nach Amerika emigrierende personifizierte Armut stand auch auf der niedrigsten Ebene der sozialen Pyramide und ihre Integration ist erfolgreich verlaufen. Also weder Armut noch Religion sind bestimmend für das Nichtgelingen der Integration.

Die Gesetzmäßigkeiten, die Thomas und Znaniecki entdeckt haben, sind in Deutschland nie diskutiert worden; sie sind weitgehend unbekannt. Grundsätzlich wird erwartet, dass die Anpassung der Zuwanderer linear erfolgt, vor allem aber automatisch. Thilo Sarrazin schreibt:

„Rätsel gibt auch auf, warum die Fortschritte in der zweiten und dritten Generation, soweit sie überhaupt auftreten, bei muslimischen Migranten deutlich geringer sind als bei anderen Gruppen mit Migrationshintergrund.“3

In einem bedeutenden Teil der türkischen Bevölkerung in Deutschland beobachten wir ein früher unbekanntes, von niemandem antizipiertes, Phänomen: Junge Frauen, oft noch Mädchen, werden nach dem Willen der Eltern verheiratet, oft mit Verwandten in der alten Heimat. Junge Männer von Natur aus und infolge der Erziehung der Typus „Macho“, heiraten eher nicht die jungen Türkinnen, die in Deutschland groß geworden sind. Diese jungen Frauen sind nicht mehr so sanftmütig und fügsam, wie ihre Mütter, die vor Jahren aus der Türkei gekommen waren. Das ist der Grund, warum sie für die jungen Türken als Partnerinnen nicht interessant sind; die jungen Männer suchen ihre Ehepartnerinnen in der alten Heimat der Eltern. Der Zuzug der Ehefrauen und Ehemänner aus der Türkei, meistens aus den abgelegenen anatolischen Dörfer, Menschen die nicht gebildet sind und der deutschen Sprache nicht mächtig, ist zu einem reellen Problem geworden. Kinder aus diesen Familien, scheinbar schon die nächste Generation, in Wirklichkeit in der Lage der zweiten Generation im Sinne von Znaniecki und Thomas, erleben die typischen Schwierigkeiten der „zweiten Generation“, obwohl sie faktisch die dritte oder vierte Generation sind. Diese „zweite Generation“ perpetuiert sich somit von Generation zu Generation und der Übergang zur dritten Generation im Sinne der Wissenschaft erfolgt nicht.

Das Problem der „Importbräute“ ist alles andere als einfach zu lösen. Selbstverständlich hat der Staat nicht die Möglichkeit das Heiratsverhalten der Menschen zu regeln. Das scheinbar einzig Mögliche – und das wird auch gemacht – sind Sprachkurse für die Neuangekommenen, denn die Beherrschung der Landessprache ist Basis für jegliche Integration. Das ist viel, jedoch absolut nicht ausreichend. Die Kinder kommen in die Schule mit rudimentären Deutschkenntnissen, schulische Misserfolge sind also vorprogrammiert, der zu erwartende Einstieg in das Berufsleben so gut wie unmöglich. Kriminalität oder gar Gangzugehörigkeit ist in dieser Bevölkerungsgruppe, besonders in den großen Städten, ein bekanntes Phänomen. Zu Hause spricht man türkisch, das Fernsehprogramm – dank der Satellitenantennen – empfängt man aus der Türkei. Die immer größer werdende ethnische Gruppe zwingt nicht, Mühe der Integration auf sich zu nehmen – in einem türkischen Viertel fühlt man sich zu Hause. So entsteht eine Minderheit in der Mehrheitsgesellschaft und nicht eine zwar ethnisch differenzierte, jedoch homogene Gemeinschaft. Die Immigration aus den arabischen Länder, aber auch aus Kurdistan, stellt den Staat vor gravierende Probleme: Es ziehen ganze Großfamilien und Klans nach Deutschland, es entstehen Parallelgeselschaften; von der Teilnahme am Produktionsprozess kann wenig die Rede sein, die Existenz muss vom Staat gesichert werden, Kriminalität blüht.

Sowohl in der türkischen, als auch in der arabischen Gesellschaft haben Worte wie „Ehre“ oder „Würde“ eine besonders große Bedeutung. Jedoch weit von der Heimat sind Männer, Familienväter, die für sich Respekt und Gehorsam beanspruchen, in Wirklichkeit nicht in der Lage, ihren Söhnen zu imponieren – weil sie kein eigenes Einkommen haben, weil nicht sie, sondern der Staat die Existenz der Familie sichert. Gehorsam und vermeintliche Autorität basieren auf bloßer körperlicher Gewalt. Auch Gewalt gehört zu den Verhaltensmustern, die ihre Kinder nachahmen.

Thilo Sarrazin rechnet aus, dass sich bei einer tatsächlichen überdurchschnittlichen Fertilität der jungen Türkinnen, Araberinnen und auch der Frauen aus der deutschen Unterschicht und bei der sinkenden relativen Geburtenzahlen in der mittleren und höheren Gesellschaftsschicht in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern, die Mehrheitsverhältnisse in einigen Jahrzehnten umkehren werden. Ob sich seine Prognosen erfüllen werden, weiß heute niemand, diese sind auch wenig wahrscheinlich. Präsentation unsicherer Prognosen führt bekanntlich nirgendwo hin: Nicht wenige Male hat die Geschichte gezeigt, das sich ein demographischer Wandel unerwartet, von niemandem vorgesehen, vollzieht und langfristige Prognosen eher nicht in Erfüllung gehen. Ein Beispiel: Die hohe Geburtenrate in Polen in den 70iger Jahren wird nicht von einem erneuten Babyboom gefolgt; der heutige demographische Wandel in Polen, also das Älterwerden der Gesellschaft und eine niedrige Geburtenrate geben dort genauso wie im Westen Europas Grund zur Sorge.

Sarrazins Prognose, das Intelligenzniveau in der Gesellschaft wird sinken, eine Prognose, der er die Fertilität der Frauen in bestimmten ethnischen und gesellschaftlichen Gruppen, die Schulleistungen ihrer Kinder und auch die Teilnahme (oder Nichtteilnahme) am Arbeitsmarkt zu Grunde legt, ist unverantwortlich. Ihre Treffsicherheit kann gegenwärtig keineswegs verifiziert werden, ihr Verbreiten resultiert allerdings in der Mehrheitsgesellschaft in erster Linie mit dem Gefühl der Bedrohung, mit verschiedenen Ängsten und mit einer sichtbaren mentalen und verbalen Aggression den Menschen gegenüber, um die man sich auf eine rationale Weise kümmern muss, wenn man sie aufgenommen hat. Sarrazin unternimmt den Versuch zu beweisen, dass, wenn der IQ in der Unterschicht, unabhängig von der Nationalität, unterdurchschnittlich ist und die Fertilität überdurchschnittlich im Vergleich zu den höheren Gesellschaftsschichten, die durchschnittliche Intelligenz der Bevölkerung im Vergleich zu dem heutigen Niveau sinken wird. Die Rechnung ist genauso einfach wie einfältig. In den Völkern wirken Kräfte, die zur Erneuerung oder zum Untergang führen – wie schon oft in der Geschichte – Kräfte, die nichts mit dem Intelligenzniveau der Menschen zu tun haben. Ursachen dieser Prozesse bleiben für die Wissenschaft immer noch ein Rätsel. Eins ist aber sicher: Wir leben mitten im einem stattfindenden Bruch der Geschichte; eine neue Epoche, die mit dem Prozess der Globalisierung begonnen hat, kommt, alte Eliten werden untergehen, neue werden zu gegebener Zeit erscheinen.

Ein Blick vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft gelingt Sarrazin nicht, aber mit den Thesen der Naturwissenschaft geht er geradezu unbedarft um:

„Die Darwinsche Evolutionstheorie, die Mendelschen Gesetze und empirischen Befunde zur Vererbbarkeit geistiger Eigenschaften, darunter auch menschlicher Intelligenz, ergeben zusammen ein empirisch-logisches Gedankengebäude, gegen das man mit Anspruch auf wissenschaftliche Seriosität kaum etwas vorbringen kann.“4

Es ist verwunderlich, dass er so komplexe und komplizierte, immer noch nicht endgültig erkannte Prozesse, wie es die Vererbung, ganz besonders die Vererbung der geistigen Eigenschaften, wie Intelligenz, Talente oder Begabungen sind, in einem Satz erklären will. Mit Hilfe der Mendelschen Gesetze, heute Mendelsche Regeln genannt, kann nicht mal die Vererbung der Erbkrankheiten erklärt werden, geschweige denn die der geistigen Eigenschaften. „Intelligenz ist zu 50-80 Prozent vererbbar“, behauptet Sarrazin. Diese These führt auf geradem Wege zum Widerspruch: Wenn wir annehmen, der Vererbungsfaktor für den IQ liegt bei 50 (Prozent), bedeutet es zugleich, Erziehung und Schule hätten große Aufgaben vor sich. Ein Faktor von 80 Prozent – ließe der Familie und Schule gar keine Chancen. Der Autor sieht diesen Widerspruch nicht.

Langsam und mit großer Verspätung beginnt die Politik zu erkennen, dass der einzig richtige Weg zur Integration durch eine gut organisierte Kinderbetreuung und Schule führt. Überall zugängliche, gut ausgestattete Kinderkrippen, Kindergärten und Ganztagsschulen scheinen ein wirklicher Ausweg aus dieser Situation zu sein. Man wird Geld brauchen und viele Erzieher und Lehrer, die gut ausgebildet sind, auch Lehrer männlichen Geschlechts, denn nur diese werden von den heranwachsenden „Machos“ akzeptiert. Es lässt sich nicht ändern. Der Staat sollte schon längst auf diesem Weg sein. Zu lange dauert die Suche nach den kausalen Zusammenhängen. Indes schreibt Thilo Sarrazin ein Buch, indem er zwar die Dinge oft brutal beim Namen nennt, aber eigentlich sie nicht versteht, was er ja selbst unterstreicht. Seine Lösungsvorschläge sind nicht falsch, aber lange noch nicht zu Ende gedacht.

Beim Betrachten der Probleme, die mit der Integration der muslimischen Einwanderer in einem Zusammenhang stehen, dürfen wir den Aspekt der Religiosität nicht außer acht lassen. Die islamische Religiosität hat in ihrem Wesen nicht den individuellen Charakter, sie ist, besonders in den niedrigen Gesellschaftsschichten, im Grunde ein Element der Identifikation mit der Gruppe, dem Volk, dem Staat. Der Islam erlaubt die Apostasie nicht; sie hat zivilrechtliche Folgen und im schlimmsten Fall wird sie mit der Todesstrafe geahndet. Zudem erklärt der türkische Staat immer wieder seinen Anspruch auf die faktische Führerschaft bei den in der Diaspora lebenden Türken. Der Islam zeigt sich hier als ein geschlossenes System, die Menschen verbleiben darin wie in einem Zauberkreis. Dies erleichtert in keiner Weise die Adaptation an die neue Lebenssituation.

Die Grundhaltung der Muslime zu der westlichen Kultur wird selten zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Analyse. Man kann jedoch vermuten, die Einstellung sei weitgehend nicht ausreichend positiv, um den Willen zur Integration oder Assimilation in die westlichen Gesellschaften stärken zu können. Außerdem ist der Einfluss der muslimischer Autoritäten einer intensiven Integration nicht zuträglich. Der türkische Premierminister, Recep Tayyip Erdogan, hat bei seinem emotional hochgeladen Auftritt im Jahr 2008 in Köln vor 25 000 Türken die Menschen aufgerufen, sich nicht zu assimilieren, denn das sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Erdogan hat auch verlangt, in Deutschland sollen türkischsprachige Gymnasien errichtet werden. Das würde definitiv selbst die Idee der Integration untergraben. Im Jahr 2011 wiederholt Erdogan seinen Auftritt in Deutschland. Und wie soll man von einfachen Menschen erwarten, dass sie die Mühen der Integration auf sich nehmen und dass sie verstehen können, diese liegt in ihrem Interesse? Und dass auch das Interesse des Gastlandes zählt?

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tendierten die Gesellschaften des Fern- und Nahosten, wie Japan, Indien, Sowjetrussland, muslimische Staaten, diese zum Teil bis heute, angesichts der gewaltigen industriellen und zivilisatorischen Entwicklung des Westens zur Übernahme einer in Deutschland geborener, in den Jahren 1871-1945 lebendiger antiaufklärerischer Verachtung der Ideen der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit –, der Liberalität, des Kapitalismus, zur Übernahme des Hasses gegen die großen Städte, weil sie in diesen Orte der Verderbnis und Sittenverfalls sahen und zum großen Teil noch heute sehen. Ob und wie dieser Okzidentalismus5, dieses Dämonisieren des Westens, Einfluss hat auf die mehr oder weniger bewussten Einstellungen der heutigen Einwanderer aus den muslimischen Ländern? Und im welchen Grade ist er als hemmender Faktor bei der Integration zu sehen? Sarrazin knüpft kurz an das Problem an, seine Folgerungen stehen jedoch nicht im historischen Kontext, erklären also nichts.

Welche Folgen Sarrazins Buch auf die deutsche Politik, aber vor allem auf die hier lebenden Türken haben wird, bleibt noch offen. Sein Verdienst ist das Aufgreifen des Themas, das bis dahin in der Politik und besonders in den Medien ein absolutes Tabu gewesen ist. Diese Diskussion wird zurückkehren. Wichtig ist, dass das Thema nicht von außen rechts besetzt wird, dass die liberalen Medien inhomogener berichten und die Probleme der Immigration und Integration rational und nicht emotional behandelt werden. Dass von den sich aus der Diskussion ergebenden Schlussfolgerungen zum Handeln übergegangen wird. Denn Apathie und eine Unfähigkeit zu handeln scheinen zur Zeit die größten Probleme der westlichen Staaten zu sein.

Nicht weniger wichtig und außerdem historiosophisch überaus interessant ist das Verhältnis des europäischen Selbstverständnisses als christliche Welt zu dem in Europa heimisch werdenden Islam. Welche Richtung die Entwicklung nehmen wird, ist heute ungewiss. Erwünscht wäre in meinen Augen das Entstehen eines Euro-Islams; das würde beide Seiten des Prozesses bereichern: die Christen und die Muslime.

* * *

1 Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, Deutsche Verlags-Anstalt, Monachium 2010

2 William Isaac Thomas i Florian Znaniecki, The Polish Peasant in Europe and America, 1918-20.

3 Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, s. 287

4 ibidem, s. 351

5 Ian Buruma i Avishai Margalit, Occidentalism. The West in the Eyes of Its Enemies, Copyright by Ian Buruma and Avishai Margalit; (Okcydentalizm, Zachód w oczach wrogów, przełożył Adam Lipszyc, Towarzystwo Autorów i Wydawców Prac Naukowych UNIVERSITAS, Kraków, 2005)

Okzidentalismus: In Anlehnung an und als Replik auf den von Edward Said geprägten Begriff Orientalismus bezeichnet man als Okzidentalismus eine Ideologie des Hasses gegen den Okzident, gegen westliche Gesellschaftsstrukturen und Werte. In dieser Bedeutung wurde der Begriff von Ian Buruma und Avishai Margalit geprägt. Sie finden dieses Phänomen u.a. in der deutschen Romantik, der westlichen konservativen Kulturkritik, bei Islamisten und bei antiimperialistischen Linken. http://de.wikipedia.org/wiki/Okzidentalismus

Nach oben

• „The Shadow-Line“

„Schattenlinie“*, das weltberühmte Werk von Joseph Conrad* ist voller Symbolik. Selbst der Titel ist ein Zeichen. Längst lebt das Wort, immer als Allusion auf Conrads Werk, sein eigenes Leben. Schattenlinie steht demnach nicht nur, wie biografisch bei Conrad, für das verlassen der unbeschwerten Jugend, …

„Ich glaubte, es wäre ein Abenteuer, aber in Wirklichkeit war es das Leben.“ – Joseph Conrad

… was an sich, wenn auch schmerzhaft, optimistisch stimmen muss. Denn sogar durch eine Erfahrung, die manchmal den Menschen an die Todesgrenze bringt, manchmal auf eine andere Weise existenziell  bedrohlich ist, geht er in eine neue Lebensphase über. Scharfes Bewusstsein und gestärkte Reflexion, so positiv sie auch für die seelische und geistige Entwicklung sind, offenbaren sie die Schwere der irdischen Existenz. Für Illusionen ist kein Platz mehr. Jedoch durch die pejorative Färbung des Wortes Schatten, steht Schattenlinie auch für jene erfahrungsbedingten Übergänge im Leben, die einen Menschen aus dem sonnenhaften Zentrum des Geschehens, des Lebens, in eine – dunkle, schattige – Peripherie versetzt. Nachdenkliche, ihr Leben reflektierende Menschen, auf ihr Leben zurückblickend stellen eines Tages fest, die Schattenlinie ist überschritten: Wieder eine Lebensphase ist vorbei, die Perspektive hat sich verkürzt…

Wenn man jedoch das menschliche Leben von der Kindheit an bis zum hohen Alter betrachtet, sind solche dunklen, wenn oft auch kurzen Phasen die Voraussetzung dafür, reifer Mensch zu werden. Wenn sich auch diese Reifeprozesse höchst individuell gestalten, kommt kein Mensch an ihnen vorbei. Die erste entwicklungspsychologisch notwendige Zäsur im Leben eines Kindes stellt sich in sein Leben um das neunte Lebensjahr herum. Die Waldorf-Pädagogik nennt sie Rubikon, in Anspielung auf Cäsar, der den Fluss überschritt, wohlwissend, dass es kein Zurück gibt. So ist es auch für das heranreifende Kind – die Tür zur Kindheit bleibt von nun an für immer verschlossen. Erfahrungsgemäß kommen just in dieser Lebensphase einschneidende Erlebnisse, oft mit einem Verlust verbunden, gleichgültig wie dieser geartet ist. Damit ist wohl die erste Kindheit verlassen, das Kind wird reifer, bereit für neue Herausforderungen.

Die zweite wichtige Lebensstufe, das Erlangen der körperlicher Reife – an sich ein freudiges Ereignis – steht für die allermeisten jungen Menschen für mannigfaltige und lange andauernden Krisen, die wiederum ihr Schatten vorausschicken können auf das weitere Leben…

Der sozialen und geistigen Reife, die sich viel später als die körperliche einstellt, gehen Erfahrungen voraus, die zwingend den Charakter einer schweren Krise haben. Diese werden nicht gleich als Knotenpunkte des Lebens erkannt und begriffen. Es ist auch nicht gesagt, dass diese Erfahrungen durchgehend negativer Art sein müssen. Nein! Nichts ist so wunderbar wie – nehmen wir ein Beispiel aus dem Leben einer Frau – die Geburt eines Kindes. Aber die Erfahrung der Geburt, mit ihren unbezwingbaren Schmerzen, ist für die meisten Frauen ein so bedeutender Einschnitt, dass sie nie mehr so sind, nicht so sein können, wie sie früher waren. Der nächste große Einschnitt im Leben einer Mutter ist, wenn das Kind das Nest verlässt. Für die junge Generation ein freudiger Umstand, für die Eltern stets mit einem immensen Schmerz verbunden.

Mit der fortschreitenden Zeit – auch wenn das Leben uns noch mit vielen glücklichen Momenten beschenkt – nach und nach zeigen sich am Horizont die wahren Schatten, dicht beieinander: Krankheiten, bisweilen ein Zerfall der Familie, der Tod der Lieben und – das Alter.

Ja, dann wird es uns endgültig bewusst: Die Schattenlinie ist überschritten, es gibt kein zurück und zugleich keine neue Entwicklung im Leben. Stopp: Es gibt sie. Das ist jedoch etwas ganz anderes – nämlich die Vorbereitung auf das Überschreiten der Horizontlinie…

Die »Schattenlinie« ist ein Topos, der das Dasein nicht nur der Individuen beschreibt, sondern auch kleiner und großer Menschengruppen oder Völker. Nicht unerwähnt sollen also jene Erfahrungen bleiben, die gleichsam einer oder mehreren Generationen gemeinsam sind: Kriege, Aufstände, Revolutionen. Für diese ist nicht charakteristisch, dass sie zwangsläufig Reifeprozesse vorantreiben. Sie stehen für Zerstörung – physische und seelische – für irreparable Schäden. Doch auch in solchen Zeiten sind wichtige Entwicklungen möglich. Für welche inneren Prozesse die Menschen die aufgezwungene Starre genutzt haben, wird sich in dem zeigen, welche Spielräume sie für sich erschließen und was das sein wird, das Neue, was sie anstossen werden, wenn sie aus dem Schatten ausgetreten sind.

Doch zurück zum individuellen Leben. Und zurück zum Conrad. „Schattenlinie“ ist ein autobiografisches Buch. „Nichts wird so leicht für Übertreibung gehalten wie die Schilderung der reinen Wahrheit“, sagt Conrad. Das, was der junge Schiffskapitän erfahren hat, kann man übrigens schlecht phantasieren. Conrad selbst hat das alles erlebt. Seine Darstellung entspricht den Gegebenheiten und ist, wie dieses Beispiel zeigt, voller Symbolik:

„… die Insel Kho Rin. Ein mächtiger, schwarzer, wie emporgeschleuderter Felsen! Zwischen den unzähligen Inselchen lag er wie ein Leviathan unter Elritzen auf dem spiegelglattem Wasser. Kho Rin schien den Mittelpunkt unseres verhängnisvollen Kreises zu bilden. … Mehr als einmal nahm ich bei günstiger Brise und in schnell abnehmendem Abendlicht ihre Peilung in der Hoffnung vor, dass es das letzte Mal sein sollte. Umsonst! Eine Nacht wechselnder Winde beraubte uns wieder des Gewinns und im Licht der aufgehenden Sonne erhob sich dann die schwarze Silhouette von Kho Rin, kahler, ungastlicher, grimmiger denn je. …“

Wer hatte nicht Zeiten erlebt, da der Kho Rin – gleichgültig in welcher Gestalt – nicht weichen wollte? Oder scheinbar die Kraft fehlte, sich von ihm abzusetzen? Wer hatte nicht Zeiten erlebt, in denen nichts voran ging, nichts gelang, nichts konnte zum Abschluss gebracht werden? Zeiten, in denen das Warten auf den günstigen Wind ein Höchstmaß an Geduld und Vertrauen erforderte? Wer hatte dabei nicht geglaubt, zusehen zu müssen, wie kostbare Lebenszeit verstreicht, wenn zur gleichen Zeit das Leben der Anderen sich im Fluss befindet? Sich selbst aber wie im Windschatten des Lebens empfunden hatte – immer noch den unheilvollen Kho Rin, was auch immer das sein kann, vor den Augen?

Bis er verschwand… … Stirb und werde! …

***

* Joseph Conrad, „Schattenlinie“, Insel Verlag 1999, übersetzt von Heinz Piontek

Nach oben

• „Der Klang der Zeit“

„Der Klang der Zeit“ von Richard Powers,
Fischer-Verlag

Menschen, die unbeirrbar durch ihr Leben gehen, den Mut haben, sich den schwierigsten Aufgaben und Prüfungen zu stellen, schöpfen bezeichnenderweise ihre nichtversiegende Kraft aus einer Grenzerfahrung.

„Deine Mutter und ich, wir kannten die Zukunft. Eure Zukunft hat zu uns gesprochen. Hatte uns überhaupt erst Mut gemacht!“, so spricht der Sterbende Vater zu seinem Sohn…

„Deine Mutter und ich, wir kannten die Zukunft. Eure Zukunft hat zu uns gesprochen. Hatte uns ja überhaupt erst Mut gemacht!“, so spricht der sterbende David zu seinem Sohn. „Wir kannten die Zukunft, die Zukunft hat zu uns gesprochen“ – diese Worte sind wie ein roter Faden, der sich durch die Biografie der Romanhelden zieht. Das Buch erzählt vom Leben einer ganz untypischen amerikanischen Familie: Der Vater, David, ein deutscher Jude, emigriert 1933 nach Amerika, die Mutter, Delia, ist eine Afroamerikanerin, eine hoch begabte Sängerin, der die Ausbildung auf einer Musikschule der Hautfarbe wegen verweigert wird.

Bei einem Konzert der begnadeten Sängerin, Marian Anderson, begegnen sich Delia und David. Sie stehen nebeneinander, Delia singt begeistert mit Anderson mit, David nimmt den Gesang wahr, hört aufmerksam zu, spricht die junge Frau an, fragt, ob sie Sängerin sei. Bei diesem kurzen Gespräch fühlt sich Delia zum ersten Mal in ihrem Leben von einem Weißen als Person angesprochen und nicht als Schwarze – eine absolut neue Erfahrung für sie! Sie fühlt sich augenblicklich von diesem Menschen angezogen. Auch David empfindet ähnlich – auch er ist musisch begabt und gebildet. Das Konzert geht zu Ende, die 750000 Zuhörer gehen auseinander, plötzlich sucht ein Junge seine Familie. Indem die Beiden dem Jungen zu helfen versuchen, erleben Delia und David, beide zugleich, etwas, was sie nicht so sehr zu verwundern scheint: Wie in einer Zeitschleife bekommen sie den Einblick in die Zukunft, die ihre gemeinsame Zukunft ist.

In diesem Moment wird ihre unsterbliche Liebe geboren.

Dieses gemeinsame Erlebnis, diese Vision, verbindet die zwei Menschen augenblicklich und für immer. Aus dem Erlebnis schöpfen sie die Kraft, jegliche Widerstände zu überwinden. Sie empfinden ihr Bündnis – sie heiraten bald – als etwas so natürliches, dass sie nicht von Zweifeln befallen werden, ob eine solche Verbindung in Amerika der nahenden 40ger Jahre Zukunft haben kann. Die Sicherheit, die sie aus dem gemeinsamen übersinnlichen Erlebnis schöpfen, verleiht ihnen einen unbegrenzten Optimismus. Bezeichnend: Sie glauben, Delia spricht es aus, sich über die Rasse erheben zu können, damit Neues entstehen kann… Wenigstens für ihre Kinder, die sich bald zu ihnen gesellen werden.

Für Menschen, die in den wichtigsten Lebensknotenpunkten in die Zeitschleife – die ich nicht als eine rhetorische Figur verstehe – geraten und so in ihre Zukunft schauen können, ist dieses Erlebnis ein mystisches, denn sie erleben zugleich die Welt hinter der sichtbaren, der sinnlichen Welt. Das verleiht ihnen das Wissen – nicht den Glauben – von der anderen Welt, von Gott.

Dieses Wissen weckt in Delia eine unstillbare Sehnsucht nach Gott. Jahre nach ihrem Tod – sie ist in einem ungeklärten Hausbrand umgekommen – spricht David über diese Sehnsucht zu seinem jüngeren Sohn. Delia ist jung gestorben, aber ihr Leben scheint vollendet zu sein.

Die tiefe, erfüllte Liebe Davids zu Delia lebt weiter – über ihren Tod hinaus.

Jonah, der ältere Sohn, der ein berühmter Sänger geworden ist, kommt nach Jahren aus Europa nach Amerika zurück. Er besucht seine Geschwister Josef und Ruth in der Schule, die Ruth führt und in der Josef schwarze Kinder Musik lehrt. Kurz nach einem Konzert, in dem beide Brüder mit den Schülern singen, einem Konzert, das plötzlich als das Apogäum des Lebens der Geschwister erscheint, kommt der begnadete Sänger wie zufällig während der Rassenunruhen in Los Angeles um. Ausgerechnet dann, wenn er sich für einen Moment zu seinen schwarzen Wurzeln begibt.

Auch sein Leben scheint vollendet zu sein.

* * *

Es kann angenommen werden, dass das Geraten in eine Zeitschleife und dessen Bewusstwerden, kein seltenes Phänomen ist. Was für ein Trost, diese Geschichte von Delia und David, für Menschen, die Gleiches erleben und ihr Leben lang darüber schweigen!

Nach oben

• Von welchem Planeten bist du?

„…Der gestirnte Himmel über mir…“

„Ich wusste ja, dass es außer den großen Planeten wie die Erde, dem Jupiter, dem Mars, der Venus, denen man Namen gegeben hat, noch hunderte von anderen gibt, die manchmal so klein sind, dass man Mühe hat, sie im Fernrohr zu sehen. Wenn ein Astronom einen von ihnen entdeckt, gibt er ihm statt des Namens eine Nummer.“

Es ist ein alter Traum, im Universum Leben zu vermuten, ja, sogar Leben zu finden. Die Menschen beschäftigt die Frage, ob es andere Zivilisationen im All gibt, so sehr, dass nichts unterlassen wird, in der Suche nach extraterrestrischer Intelligenz die Chancen auf Erfolg zu maximieren. Wenn nicht gleich der kühne Traum von einer Parallelwelt in Erfüllung gehen sollte, dann vielleicht lässt es sich irgendwo Spuren des Lebens orten? Mit ständig weiter entwickelten Empfangstechniken hofft man tatsächlich, wenn nicht heute, dann vielleicht morgen, Signale von einer weit entfernten Zivilisation zu empfangen. Seit vielen Jahren gibt es in der kleinen Hafenstadt Arecibo auf Puerto Rico das größte Radioteleskop der Erde, dessen Aufgabe es ist, die Signale aus dem Weltall zu empfangen. Die aus den Tiefen des Weltraums kommenden Radiowellen werden im Brennpunkt von dem Reflektor des Arecibo-Radioteleskops gebündelt und von der sich dort befindlichen Antenne in den Kontrollraum weitergeleitet.

Umgekehrt kann die Antenne aber auch ein Signal in die Schüssel strahlen, die es dann ins All reflektiert. Somit kann das Radioteleskop auch als Sender genutzt werden, in der Hoffnung, dass die heute gesendeten Signale in weiter Zukunft von intelligenten Wesen empfangen werden können. Eine solche Botschaft von der Menschheit ist am 16. November 1974 um 1.00 Uhr der Atlantischen Standard Zeit von diesem weltweit größtem Radioteleskop in das All gesendet worden, eine Botschaft in 0-1-Sprache verschlüsselt, die so genannte Arecibo-Botschaft

Da gibt es die Voyager-Raumsonden, die in die Ewigkeit unterwegs sind, ausgestattet mit verschiedenen Informationsträgern, damit die zukünftigen Zivilisationen auf fremden Planeten doch noch erfahren können, dass es uns gab… 

Die ersten Planeten außerhalb des Sonnensystems werden entdeckt. Auch heute, nicht anders als als zur Zeit des Kleinen Prinzen, bekommen die Planeten als Namen eine Zahlenkombination… 

Nicht weniger als der Makrokosmos beschäftigt den Forscher der Mikrokosmos. Seit die bildgebenden Untersuchungsmethoden interessante Bilder vom Gehirn des Menschen liefern, werden die Emotionen, die Gedankenwelt, die Phantasie verstärkt Gegenstand der Forschung. Der Neurobiologe, Gerald Hüther, Professor an der Universität Göttingen, schrieb 2004 seine Überlegungen zu diesem Thema. Es ist ein scheinbar leicht zu lesendes Buch, unter dem provokativen Titel „Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn“. 

Als ich das Buch in die Hand nahm, war dieser Titel für mich genauso abweisend, wie die Zahlen- und Buchstabenkombination als Namen der Sterne und Planeten. „Ich bin Hirnforscher geworden“, schreibt Hüther, „weil sich hier naturwissenschaftliches und geisteswissenschaftliches Denken vereinigen. Wir wissen heute, dass unser Verhalten ein neurobiologisches Substrat hat, Verschaltungen, die unser Fühlen, Denken und Handeln lenken. Dass diese Verschaltungen selbst wieder beeinflusst werden von psychischen und psychosozialen Erfahrungen, ist unglaublich spannend.“ Diese Worte haben mich neugierig gemacht. 

Das sind wahrhaftig neue Töne in der Wissenschaft! Es wurde also erkannt, dass die Anzahl und das Funktionieren der Synapsen von physischen, psychischen und sozialen Erfahrungen beeinflusst, sogar bestimmt wird. Nicht umgekehrt! 

„Die Natur macht aus dem Menschen bloß ein Naturwesen; die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes; ein freies Wesen kann er nur selbst  aus sich machen. Die Natur lässt den Menschen in einem gewissen Stadium seiner Entwicklung aus ihren Fesseln los, die Gesellschaft führt die Entwicklung bis zu einem weiteren Punkt. Den letzten Schliff kann nur der Mensch selbst sich geben.“

„….und das moralische Gesetz in mir…“

* * *

FAZ vom 19. November 2020:

57 Jahre revolutionäre Sternenforschung

„(…) Das Radioteleskop in Puerto Rico war bis 2016, als in China ein noch größeres in Betrieb ging, mit 305 Metern Durchmesser das größte der Welt. Es nahm im Jahr 1963 den Betrieb auf und war zuletzt noch immer eines der empfindlichsten Teleskope der Welt. 1974 entdeckten die amerikanischen Astronomen Russell Hulse und Joseph Taylor mit ihm den Doppelpulsar PSR 1913+16 – zwei einander umkreisenden Neutronensterne – und beobachteten damit indirekt Gravitationswellen. (…)“

„ (…) Alle Möglichkeiten, das Teleskop zu retten, seien untersucht worden. Letztlich zeigten die Daten aber, dass Reparaturen nicht auf sicherem Wege möglich seien. Nun würden Vorbereitungen getroffen, das Teleskop auseinanderzunehmen, hieß es. Ziel sei es, für künftige Recherche- und Bildungszwecke so viel der übrigen Infrastruktur des Observatoriums wie möglich zu erhalten. (…)“

* * *

Zitate aus:

„Der Kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry

„Philosophie der Freiheit“ von Rudolf Steiner

„Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn“ von Gerald Hüther

FAZ vom 19. November 2020: „Riesiges Radioteleskop in Puerto Rico wird demontiert“

Nach oben