Sie ist wie Atlantis verschwunden, die Stadt. Auch wenn sie in Wirklichkeit immer noch da ist, ist dieser Vergleich angebracht, denn diese Stadt hat sich nicht durch die Zeitläufte notwendigerweise, wie die anderen Städte der Welt, verwandelt und modernisiert. Sie ist nicht mit der Zeit gegangen, die alte Stadt ist verschwunden.
Einst eine europäische Stadt, seit 1772 in der historischen Landschaft Königreich Galizien und Lodomerien, im Kulturleben und in der Architektur von der Metropole Wien bis in das 20. Jahrhundert hinein stark beeinflusst, ist mit dem Anfang des 2. Weltkrieges ihrer Oberschicht, der Intelligenzja beraubt worden. Die Kultur der Stadt, die von den verschiedenen Nationen und Konfessionen Schicht um Schicht in Laufe der Jahrhunderte erschaffen wurde, ist wie eine Schrift vom Pergament abgetragen, entfernt, beseitigt worden. Und Neues ist entstanden. Nur ist der genius loci dieser Stadt verzogen. Es ist nicht leicht, auf diesem Palimpsest die Spuren der Vergangenheit zu finden: Die Vergangenheit ist verschwunden.
Lemberg – polnisch Lwów, ukrainisch Lwiw, lat. Leopolis – war in der Geschichte vom Zusammenleben verschiedner Völker geprägt. Polen, Juden, Ruthenen, Armenier, Deutsche. Heute leben dort fast ausschliesslich Ukrainer. Lemberg mit seiner 1661 vom König Jan Kazimierz gegründeten Universität war über Jahrhunderte neben Krakau, Warschau und Wilna ein wichtiges Zentrum des polnischen Kultur- und Geisteslebens. So auch zwischen den Weltkriegen. Der September 1939 versetzte der Stadt den Todesstoss. Auch wenn sie im 2. Weltkrieg keine größere Zerstörung ihrer Bausubstanz erleben musste, ist das frühere blühende Geistesleben der Stadt schon in den ersten Monaten des Krieges zum Erliegen gebracht.
Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen war zweifelsohne die interessanteste Zeit im Leben dieser Stadt. Theater, Oper, Literatur – das alles blühte in dieser Stadt. Aber erst die Jan Kazimierz-Universität mit ihren genialen Wissenschaftlern und Gelehrten überstrahlte alles andere. Dort bildete sich die Warschau-Lemberger Philosophische Schule, die später in Warschau allein fortlebte. Allen voran ist hier jedoch die Lemberger Mathematische Schule zu nennen. Das Ende der Wirkung dieser bedeutenden Gruppe kam mit dem Jahr 1939. Ein Teil der Professoren ging auf Einladung von Prof. von Neumann unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges in die Vereinigten Staaten, ein Teil der Gelehrten, die während der Okkupation mit allen möglichen niederen Diensten beschäftigt waren, übersiedelte am Ende des Krieges mit der Jan Kazimierz-Universität nach Breslau, ein Teil wurde während des Krieges ermordet.
Wie einst in der Metropole Wien, waren auch in Krakau oder Lemberg die vielen Cafés die Orte, an denen sich die Künstler, die Literaten, Philosophen und auch – heute unvorstellbar – die Wissenschaftler getroffen und täglich stundenlang aufgehalten hatten. Eine dieser Kneipen erfreut sich bis heute weltweit einer Berühmtheit – freilich nur in Erinnerung: Das »Szkocka«-Café.
An einem der Tische hatten die Philosophen der berühmten Philosophen-Schule, die einen beträchtlichen Einfluss auf die europäische Philosophie ausgeübt hat, debattiert: Kazimierz Twardowski, Tadeusz Kotarbiński, Władysław Tatarkiewicz, Kazimierz Ajdukiewicz, Roman Ingarden und viele mehr, sogar begabte Studenten wurden zum Tisch zugelassen, denn trotz feudaler Sitten hatten Talent, Passion und Kollegialität für die Zusammenarbeit den Ausschlag gegeben. An einem anderen Tisch saßen und diskutierten, oft bis zum Morgengrauen, die Mathematiker: Stefan Banach, Hugo Steinhaus, Stanisław Ulam, Stanisław Mazur, Antoni Łomnicki, Wladyslaw Orlicz und andere nicht weniger bedeutende Mathematiker. Stefan Banach war in dieser Mathematikergruppe mehr als ein primus inter pares: Er war unangefochten das größte mathematische Genie dieser Zeit. In der anregenden und angeregten Atmosphäre dieses Ortes sind die Grundlagen der modernen Mathematik geboren. Eine Schlüsselrolle spielte dabei die bahnbrechende Raumtheorie von Banach. Stanisław Ulam, Jahre später an der Entwicklung der amerikanischen Wasserstoffbombe beteiligt, stützte sich auf Theorien, die hier in diesem Café, formuliert wurden, ihrer Zeit jedoch weit voraus waren. Zu unterstreichen ist aber, dass für diese Menschen Mathematik nicht durch die praktische Anwendung, sondern durch ihre immanente Schönheit legitimiert war, Schönheit, die diese Forscher ihr Fach nicht als ein rein deduktives System begreifen ließ, denn Mathematik zersprengt früher oder später den Rahmen des Systems und erschafft neue Prinzipien. Die Schönheit der Mathematik an sich entscheidet über ihr Wert, nicht ihre praktische Bedeutung.
Es waren an dem Café-Tisch keine akademischen Debatten angesagt: Hier zeichneten und rechneten die Genies auf Servietten oder auf dem Marmorblatt der Tische, oft schwiegen sie einfach oder unterhielten sich monosyllabisch, denn sie verstanden gegenseitig ihre Gedankengänge. Wenn sie die Lösung an einem Abend nicht gefunden haben, ging es am nächsten Tag weiter. Oft wurden die Hieroglyphen auf den Tischen bis zum nächsten Tag bewahrt und sie konnten ihre Arbeit an der Lösung fortsetzen. Nicht selten waren aber die Tischplatten doch gesäubert oder die Servietten vernichtet, so das manche Theorie nie das Tageslicht erblicken konnte… Ein großer Verdienst Frau Banach war, es war das Jahr 1935, einen dicken Heft, in dem die gestellten Fragen und Theorien aufgeschrieben werden konnten, zu spenden. In diesem Heft wurden Aufgaben – von harmlosen Rätseln bis zu Fragen von fundamentaler Bedeutung aufgeschrieben. Auf der linken Seite die Fragen, die rechte blieb leer, bis die Lösung gefunden werden konnte. Das „Buch“ wurde im Café aufbewahrt, so dass jeder Mathematiker, der die Vorstellung hatte, wie eine der Aufgaben zu lösen war, es verlangen konnte. Manche der Fragen fanden nicht so schnell ihre Antwort, man hat also Preise ausgelobt für die richtigen Ergebnisse. Die Preise waren so ungewöhnlich und witzig, wie diese Menschen selbst: Sie reichten von einer Tasse Kaffee, Flasche Wein, einer Reise nach Genf, bis zu einer… lebendigen Gans.
Mathematik besteht zum großen Teil aus Fragen; die Lösungen lassen bisweilen hunderte von Jahren auf sich warten. Der Zustand der geistigen Bereitschaft sich mit diesen Problemen zu messen, charakteristisch für diese Forscher, hatte sich durch den ausgerufenen Wettbewerb noch gesteigert. Über viele Jahre hinaus suchen Mathematiker in der Welt nach Lösungen für die damals gestellten Probleme. Auf eine der Fragen, die damals in dem Buch – genannt »Księga Szkocka« – aufgezeichnet waren, hat der schwedischer Mathematiker Per Enflo die Antwort erst Anfang 70ger Jahre gefunden – und die ausgelobte Gans entgegengenommen…
Der letzte Eintrag aus dem Jahr 1941 stammt von Hugo Steinhaus. Es gelang während der deutschen Okkupation das Buch außer Land zu bringen. Die Tradition der »Ksiega Szkocka« wurde eifrig in der Welt fortgeführt und – sie wird weiter fortgeführt. Das Buch, das Einfluss auf den Lauf der Welt nahm und noch nehmen wird, wird an einem unbekannten Ort in den Vereinigten Staaten aufbewahrt und behütet. Es enthält noch viele ungelöste Fragen.