• Der Transzendentalismus

Der Geist und die moralische Kraft, die Raum und Zeit überschreiten, machen den Menschen erst zum Menschen.

Es gab einmal Zeit, als sich im fernen Amerika völlig unterschiedliche Persönlichkeiten, mit völlig unterschiedlichen Begabungen und intellektuellen Interessen, unabhängige Geister, Menschen, die mit dem Zeitgeist nicht konform gingen, in einem Zirkel zusammentaten. Es waren Geistliche dabei, Lehrer, Gebildete und Autodidakten, Frauen und Männer. Sie bildeten zusammen eine Bewegung, …

Der Geist und die moralische Kraft, die Raum und Zeit überschreiten, machen den Menschen erst zum Menschen.

…. eine eklektizistische Bewegung. Gemeinsam war ihnen die Verwurzelung in der englischen Romantik und die Empfänglichkeit für die Ideen des deutschen Idealismus. Es spielte sich um 1830 in Boston und Umgebung. Diese Bewegung ging unter dem Namen amerikanischer Transzendentalismus in die Geschichte ein.

Vordergründig richtete sich diese Bewegung gegen den theologischen Konservatismus der amerikanischen Kirche. Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau, Margaret Fuller, Walt Withman waren nur wenige Repräsentanten dieser Gruppierung. Diese Menschen entfalteten eine weit über Boston und über ihre Zeit reichende Wirkung. Diese von Grund auf idealistische Bewegung hatte einen scheinbar eskapistischen Charakter – ihre führenden Mitglieder traten für eine strikt der Natur zugewandte Lebensführung, Verzicht auf Luxus und Anhäufung von Gütern – sie war aber in Wirklichkeit der Welt zugewandt und hatte eine große praktische Bedeutung.

Diese Bewegung, gegründet auf einem religiösen Fundament, speiste sich, wie oben erwähnt, aus dem deutschen Idealismus von Kant, Jacobi, Fichte, Schleiermacher, brachte also eine idealistische Philosophie hervor. Eine Philosophie, die sich sowohl gegen ein ausschließlich materialistisches Konzept des Menschen wandte, als auch gegen ein übertrieben rationalistisches Denken.

Die praktische Bedeutung dieser philosophischen Bewegung lag darin, dass aus ihr heraus mehrere andere Bewegungen entstanden, die alle eine bedeutende Rolle im politischen und gesellschaftlichen Leben Amerikas über Jahrzehnte spielten. Ein außerordentlich starker Impuls, der als Konsequenz der Forderung nach freiheitlicher und selbstverantwortlicher Lebensgestaltung von dem Transzendentalismus ausging, mündete in den Abolitionismus, eine politische Bewegung, die lautstark für die Befreiung der Sklaven in den Südstaaten von USA auftrat und einen entscheidenden Einfluss auf die tatsächliche Befreiung der Sklaven im Jahr 1862 hatte. Aber den Denkern ging es nicht in erster Linie darum, die bloße Befreiung der Sklaven zu erreichen, auch nicht darum, die Rechte der Versklavten zu verteidigen, denn solche Rechte besaßen diese Menschen nicht; es ging um die Verteidigung des einen Rechts, eine Regierung zu haben, die spricht und handelt in deren Namen. Obwohl die abolitionistische Bewegung einen großen Einfluss auf die Geschichte der USA genommen hatte, geschah es nicht im Sinne der Transzendentalisten, denn die schwarze Bevölkerung der Vereinigten Staaten hatte damals nicht und hat wohl bis heute keine Regierung, die ihre Sprache sprechen würde, erkämpft oder bekommen.

Keine geringe Rolle in der Bewegung der Transzendentalisten spielten Frauen. Ihre Teilnahme an den Zusammenkünften und an dem Wirken war von Anfang an eine Selbstverständlichkeit; auch sie war aus der idealistischen Interpretation der Prinzipien abgeleitet. Aus ihr ging nichts geringeres als die Frauenbewegung hervor. In den 1840er Jahren organisierte Margaret Fuller, eine talentierte Frau,  Treffen und Diskussionsrunden für Frauen, in denen über Frauenrechte, über Erziehung, aber auch über Kunst und Literatur diskutiert wurde.

Aus der Idee der naturnahen Lebensführung war des Weiteren die erste Naturschutzbewegung der modernen Welt geboren.

„ … In den 1830er und 1840er Jahren wimmelt es in den Vereinigten Staaten von Reformern und Sozialutopisten. Da gibt es kaum einen Gebildeten –  schreibt Emerson 1840 in einem Brief an Carlyle –, der nicht mit dem Entwurf einer neuen Gesellschaft in der Westentasche herumliefe. Vielerorts werden Kommunen gegründet, von denen einige – insbesondere Fruitlands und Brook Farm – dem Transzendentalismus verpflichtet sind.“ Ich zitiere nach Prof. Dr. Dieter Schulz, einem Historiker, der wohl als einziger im deutschen Sprachraum diese Bewegung erforscht.

Nicht zu verachten ist der Einfluss dieser Denkschule auf die Entwicklung einer eigenständigen amerikanischen Nationalliteratur. Seine wichtigsten Vertreter sind die schon erwähnten Ralph Waldo Emerson, Margaret Fuller und Henry David Thoreau, aber auch die Schriftsteller der AmericanRenaissance wie Walt Whitman, Emily Dickinson, Nathaniel Hawthorne und Herman Melville.

Ralph Waldo Emerson:

Tage

Kinder der Zeit, die heuchlerischen Tage

Tanzen vermummt, barfüßig mir vorbei

Gleich stummen Derwischen in langer Reih.

Sie halten Diademe, halten Ruten in der Hand

Und reichen jedem, was er sich gewünscht,

Brot, Sterne, Königreiche, Himmel gar und Erd.

Aus meiner Gartenwildnis schaut` dem Pomp ich zu,

Vergaß der Morgenwünsche, langte hastig nur

Nach Kräutern, Äpfeln. Schweigend ging der Tag

Vor mir und schwand. Zu spät erst traf mich

Aus feierlichem Mummenschanz sein Hohn.


Der Philosoph und Dichter, brachte in diesem kurzen Gedicht seine ganze Abneigung und Verachtung dem Zeitgeist – oder dem Geist der Zeit – gegenüber meisterhaft zum Ausdruck. Emerson war der Überzeugung, dass das Wahre Menschliche, das Individualistische ist: „Der da ein Mann sein will, der muss Nonkonformist sein.“ Im menschlichen Wesen walten genug Kräfte, die es erlauben, aus sich heraus, aus der individuellen moralischen Stärke Entscheidungen zu treffen und danach zu handeln. Diese Vorstellung enthält den Postulat des Vorrangs der Reflexion über der Norm gerade im gesellschaftlichen und politischen Diskurs. Das Höherstellen der individuellen moralischen Phantasie (self-reliance) über die aktuell herrschende Norm ist der Ausdruck des geforderten Nonkonformismus.

In einem kleinen Ort in Massachusetts, in Concord trafen sich diese Philosophen und Revolutionäre des geistigen Lebens in unregelmäßigen Zeitabständen, um die für sie wichtigen Probleme zu diskutieren. Es waren Individualisten, Exzentriker, Utopisten, deren Einfluss auf die Gesellschaft jedoch groß war. Diese Denker verfassten vorwiegend Predigten, Reden, Vorträge, Streitschriften, Essays, Tagebücher, in denen sie sowohl die ethischen, ästhetischen, pädagogischen als auch religions- und kulturkritischen Themen erörterten. Die Vierteljahreszeitschrift The Dial, die von Margaret Fuller und später von Emerson herausgegeben worden war, war das wichtigste Publikationsorgan der Transzendentalisten. Concord, eine Provinzstadt, war nur eine von vielen kleinen Ortschaften mit einem regen geistigen Leben. Solche Aktivitäten waren charakteristisch für Amerika der langen Vor-TV-Ära.

Der originellste Geist in dieser Gruppe war zweifellos Henry David Thoreau, der in einem Werk „Walden, or Life in the Woods“ seine Erfahrungen beschrieb, die er in einer Klause am Rand des Waldensees, in der Nähe von Concord, machte. Er lebte etwa zwei Jahre lang im besonders engen Kontakt mit der Natur, was einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung seiner Individualität und seines geistigen Horizonts hatte. Durch diese scheinbare (weil er den Kontakt zur Familie und Freunden nicht unterbrochen hat) Weltflucht bewies Thoreau, dass der Mensch mit lebensnotwendigem Minimum auskommen kann und in der freien von überflüssigem Gelderwerb Zeit sich der Geist nützliche Dinge aneignen kann: Fremdsprachen, Literaturkenntnisse, Kenntnisse der umgebenden Natur, weiter kann der Mensch selbst schöpferisch wirken, indem er seine Gedanken aufschreibt und andere an seiner geistigen Arbeit teilhaben lässt. Was Thoreau auch tat. In seinem Blickfeld standen der Mensch, die Gesellschaft und die Natur. Thoreau bezeichnete sich selbst als einen Mystiker, Transzendentalisten und Naturphilosophen.

In der Hütte am Walden Pond, wo er sich länger aufhielt, entstand Thoreau`s wichtigstes gesellschaftskritisches Essay über den zivilen Ungehorsam: »Civil disobedience«. Diese Disobedienz lebte er übrigens selbst, auf sie haben sich 100 Jahre später seine Nachfolger berufen: Mahatma Ghandi und Martin Luther King.

Heute scheinen die Transzendentalisten, ihr Wirken und ihre Ideen weitgehend vergessen zu sein. In Europa sind es hauptsächlich Wissenschaftler, die sich noch mit dem Werk dieser Denker befassen. Dagegen in dem politischen Diskurs in den USA sind Thoreau`s Idee des zivilen Ungehorsam und Emersons Fragen: Wer spricht in meinem Namen, wem soll ich meine Stimme geben? nach wie vor lebendig. Diese Fragen kreisen seit eh und je um den Themenkomplex der Wechselbeziehung zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft.

Sowohl Emerson als auch Thoreau ging es um die Natur der Zugehörigkeit des Individuums zur Gemeinschaft und vor allem um die Zustimmung gegenüber der Gemeinschaft oder Gesellschaft: Erst die Gesellschaft gibt dem Individuum die politische Stimme; diese Gesellschaft kann jedoch die Vereinbarung verraten, so, dass das Individuum sich verpflichtet sieht, mit der Gesellschaft – im Bezug auf aktuelle Fragen – zu brechen: Der Mensch fühlt sich der Gesellschaft nicht mehr verpflichtet. Die Zustimmung gegenüber der Gemeinschaft, die durch Eliten repräsentiert ist, ist und bleibt Gegenstand einer permanenten Diskussion. Es geht also darum, dass das Individuum sich dessen bewusst wird, wann wesentliche Prinzipien, die Gegenstand der Vereinbarung sind, verletzt werden.

Wir sehen, wie aktuell die Thesen von Emerson und Thoreau sind. Sie bleiben in einem republikanischen System noch über lange Zeit aktuell, sie sind dieser Staatsform immanent. Sicher werden sie in Amerika diskutiert, sie verdienen es aber, auch in den europäischen Ländern thematisiert zu werden.

In meiner kurzen Zusammenfassung wollte ich an diese „engagierten Philosophen“, Amerikaner par excellence und ihr Werk, der an Aktualität gewinnt und nicht verliert, erinnern.

Nach oben

Therese

Autor: Therese

Ich wohne in Wiesbaden.