„Schattenlinie“*, das weltberühmte Werk von Joseph Conrad* ist voller Symbolik. Selbst der Titel ist ein Zeichen. Längst lebt das Wort, immer als Allusion auf Conrads Werk, sein eigenes Leben. Schattenlinie steht demnach nicht nur, wie biografisch bei Conrad, für das verlassen der unbeschwerten Jugend, …
„Ich glaubte, es wäre ein Abenteuer, aber in Wirklichkeit war es das Leben.“ – Joseph Conrad
… was an sich, wenn auch schmerzhaft, optimistisch stimmen muss. Denn sogar durch eine Erfahrung, die manchmal den Menschen an die Todesgrenze bringt, manchmal auf eine andere Weise existenziell bedrohlich ist, geht er in eine neue Lebensphase über. Scharfes Bewusstsein und gestärkte Reflexion, so positiv sie auch für die seelische und geistige Entwicklung sind, offenbaren sie die Schwere der irdischen Existenz. Für Illusionen ist kein Platz mehr. Jedoch durch die pejorative Färbung des Wortes Schatten, steht Schattenlinie auch für jene erfahrungsbedingten Übergänge im Leben, die einen Menschen aus dem sonnenhaften Zentrum des Geschehens, des Lebens, in eine – dunkle, schattige – Peripherie versetzt. Nachdenkliche, ihr Leben reflektierende Menschen, auf ihr Leben zurückblickend stellen eines Tages fest, die Schattenlinie ist überschritten: Wieder eine Lebensphase ist vorbei, die Perspektive hat sich verkürzt…
Wenn man jedoch das menschliche Leben von der Kindheit an bis zum hohen Alter betrachtet, sind solche dunklen, wenn oft auch kurzen Phasen die Voraussetzung dafür, reifer Mensch zu werden. Wenn sich auch diese Reifeprozesse höchst individuell gestalten, kommt kein Mensch an ihnen vorbei. Die erste entwicklungspsychologisch notwendige Zäsur im Leben eines Kindes stellt sich in sein Leben um das neunte Lebensjahr herum. Die Waldorf-Pädagogik nennt sie Rubikon, in Anspielung auf Cäsar, der den Fluss überschritt, wohlwissend, dass es kein Zurück gibt. So ist es auch für das heranreifende Kind – die Tür zur Kindheit bleibt von nun an für immer verschlossen. Erfahrungsgemäß kommen just in dieser Lebensphase einschneidende Erlebnisse, oft mit einem Verlust verbunden, gleichgültig wie dieser geartet ist. Damit ist wohl die erste Kindheit verlassen, das Kind wird reifer, bereit für neue Herausforderungen.
Die zweite wichtige Lebensstufe, das Erlangen der körperlicher Reife – an sich ein freudiges Ereignis – steht für die allermeisten jungen Menschen für mannigfaltige und lange andauernden Krisen, die wiederum ihr Schatten vorausschicken können auf das weitere Leben…
Der sozialen und geistigen Reife, die sich viel später als die körperliche einstellt, gehen Erfahrungen voraus, die zwingend den Charakter einer schweren Krise haben. Diese werden nicht gleich als Knotenpunkte des Lebens erkannt und begriffen. Es ist auch nicht gesagt, dass diese Erfahrungen durchgehend negativer Art sein müssen. Nein! Nichts ist so wunderbar wie – nehmen wir ein Beispiel aus dem Leben einer Frau – die Geburt eines Kindes. Aber die Erfahrung der Geburt, mit ihren unbezwingbaren Schmerzen, ist für die meisten Frauen ein so bedeutender Einschnitt, dass sie nie mehr so sind, nicht so sein können, wie sie früher waren. Der nächste große Einschnitt im Leben einer Mutter ist, wenn das Kind das Nest verlässt. Für die junge Generation ein freudiger Umstand, für die Eltern stets mit einem immensen Schmerz verbunden.
Mit der fortschreitenden Zeit – auch wenn das Leben uns noch mit vielen glücklichen Momenten beschenkt – nach und nach zeigen sich am Horizont die wahren Schatten, dicht beieinander: Krankheiten, bisweilen ein Zerfall der Familie, der Tod der Lieben und – das Alter.
Ja, dann wird es uns endgültig bewusst: Die Schattenlinie ist überschritten, es gibt kein zurück und zugleich keine neue Entwicklung im Leben. Stopp: Es gibt sie. Das ist jedoch etwas ganz anderes – nämlich die Vorbereitung auf das Überschreiten der Horizontlinie…
Die »Schattenlinie« ist ein Topos, der das Dasein nicht nur der Individuen beschreibt, sondern auch kleiner und großer Menschengruppen oder Völker. Nicht unerwähnt sollen also jene Erfahrungen bleiben, die gleichsam einer oder mehreren Generationen gemeinsam sind: Kriege, Aufstände, Revolutionen. Für diese ist nicht charakteristisch, dass sie zwangsläufig Reifeprozesse vorantreiben. Sie stehen für Zerstörung – physische und seelische – für irreparable Schäden. Doch auch in solchen Zeiten sind wichtige Entwicklungen möglich. Für welche inneren Prozesse die Menschen die aufgezwungene Starre genutzt haben, wird sich in dem zeigen, welche Spielräume sie für sich erschließen und was das sein wird, das Neue, was sie anstossen werden, wenn sie aus dem Schatten ausgetreten sind.
Doch zurück zum individuellen Leben. Und zurück zum Conrad. „Schattenlinie“ ist ein autobiografisches Buch. „Nichts wird so leicht für Übertreibung gehalten wie die Schilderung der reinen Wahrheit“, sagt Conrad. Das, was der junge Schiffskapitän erfahren hat, kann man übrigens schlecht phantasieren. Conrad selbst hat das alles erlebt. Seine Darstellung entspricht den Gegebenheiten und ist, wie dieses Beispiel zeigt, voller Symbolik:
„… die Insel Kho Rin. Ein mächtiger, schwarzer, wie emporgeschleuderter Felsen! Zwischen den unzähligen Inselchen lag er wie ein Leviathan unter Elritzen auf dem spiegelglattem Wasser. Kho Rin schien den Mittelpunkt unseres verhängnisvollen Kreises zu bilden. … Mehr als einmal nahm ich bei günstiger Brise und in schnell abnehmendem Abendlicht ihre Peilung in der Hoffnung vor, dass es das letzte Mal sein sollte. Umsonst! Eine Nacht wechselnder Winde beraubte uns wieder des Gewinns und im Licht der aufgehenden Sonne erhob sich dann die schwarze Silhouette von Kho Rin, kahler, ungastlicher, grimmiger denn je. …“
Wer hatte nicht Zeiten erlebt, da der Kho Rin – gleichgültig in welcher Gestalt – nicht weichen wollte? Oder scheinbar die Kraft fehlte, sich von ihm abzusetzen? Wer hatte nicht Zeiten erlebt, in denen nichts voran ging, nichts gelang, nichts konnte zum Abschluss gebracht werden? Zeiten, in denen das Warten auf den günstigen Wind ein Höchstmaß an Geduld und Vertrauen erforderte? Wer hatte dabei nicht geglaubt, zusehen zu müssen, wie kostbare Lebenszeit verstreicht, wenn zur gleichen Zeit das Leben der Anderen sich im Fluss befindet? Sich selbst aber wie im Windschatten des Lebens empfunden hatte – immer noch den unheilvollen Kho Rin, was auch immer das sein kann, vor den Augen?
Bis er verschwand… … Stirb und werde! …
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* Joseph Conrad, „Schattenlinie“, Insel Verlag 1999, übersetzt von Heinz Piontek