„Der Begriff Toleranz ist abgeleitet vom lateinischen Verb tolerare, was erdulden, ertragen, zulassen bedeutet, wird im sozialen, kulturellen und religiösen Kontext gebraucht“, so die Definition. Weiter: Das, was geduldet werden soll, muss ein Übel sein (Positives kann man nicht tolerieren) und die Hinnahme des Übels muss freiwillig sein.
«Toleranz ist die Tugend eines Menschen ohne Überzeugung»
– Clive Staples Lewis, bekannt vor allem als Autor „Die Chroniken von Narnia“
Gerade in der heutigen Welt, nach den Erfahrungen der verschiedenen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts ist Toleranz, Verständnis für Anderes besonders gefragt, ja, sie wird erwartet, um nicht zu sagen, verlangt.
Ist es wirklich so, dass alles toleriert, geduldet werden soll? Ist tolerant sein immer gut und richtig?
Die Antwort lautet nein, zumindest, wenn wir wollen, dass Toleranz einen hohen Wert in der Gesellschft behält, dass sie als Tugend bezeichnet werden kann.
Was ist eigentlich Toleranz, ein Wort in aller Munde? Vielleicht lohnt es sich, zu überlegen, in welcher Beziehung diese zur Freiheit steht? Freiheit des einen, toleriert von einem anderen. Fangen wir mit der Freiheit an: Jeder Mensch hat absolute Freiheit im Bereich des Denkens, das scheint außer Diskussion zu stehen. Das Fühlen oder anders gesagt, das Gefühlsleben des Menschen ist nicht mehr ganz frei. Eine wesentliche Einschränkung ist hier das menschliche Temperament, wenn wir diesen Begriff im Sinne der griechischen Philosophen verstehen. Es liegt auf der Hand, dass die Gefühle eines Phlegmatikers anders sind als die eines Melancholikers. Das bedeutet, dass das einzige oder zumindest das wichtigste Regulativ der menschlichen Gefühlsregungen im Menschen selbst liegt. Noch anders verhält es sich mit dem bewussten Handeln der Menschen.
Es versteht sich von selbst, dass kein Mensch das tun darf, worauf er gerade Lust hat, wenn dieses Tun andere Menschen stört, schädigt, beeinträchtigt. Das Leben in einer Gemeinschaft limitiert also die Freiheit des Einzelnen. Genau gesagt sind es die Normen oder politische Vorgaben, die das Verhalten in der Gemeinschaft oder Gesellschaft regeln. Ob es der Dekalog ist, ein Gesetzbuch oder ungeschriebene Verhaltensregeln oder Vereinbarungen – sie müssen beachtet und befolgt werden. Die Verstöße gegen sie werden missbilligt oder verfolgt und bestraft.
Es gibt aber einen Übergang, eine Grauzone zwischen dem mit den Vorgaben konformen Verhalten und einem, das sich den gesellschaftlichen Regeln und Vereinbarungen widersetzt. Da ist oft noch lange keine Rede vom strafbaren Verhalten, jedoch der Respekt für die verpflichtenden Normen ist nicht mehr vorhanden, die Normen sind verletzt.
Die Verhaltensweisen, die in diese Grauzone fallen, können toleriert werden – oder auch nicht. Tolerieren bedeutet also gewähren lassen, was man verhindern oder bekämpfen könnte, tolerieren bedeutet, auf einen Teil der Macht, der Zwangsmittel oder des Protestes zu verzichten. Dieses Ertragen, Erdulden ist aber nur insofern tugendhaft, wenn man selbst ein gewisses Opfer trägt: Wenn man das eigene Wohl überwindet. Der Sachverhalt ändert sich, wenn es um das Wohl der Dritten geht, besonders der Schwächeren. Wer hier die Augen abwendet, ob aus Angst, ob aus Bequemlichkeit, der macht sich durch Unterlassung zum Komplizen. Spätestens bei dieser Wortfolge merkt der Leser, wo die Grenzen der Toleranz liegen.
Die Notwendigkeit das Tolerierbare von dem Nichttolerierbaren zu unterscheiden betrifft natürlich nicht nur die Gemeinschaft oder die Gesellschft, sie betrifft insbesondere das politische Leben, den Staat. Wenn eine Demokratie gut funktioniert, ist es sehr wohl möglich, allerlei kontroverse Meinungen, Publikationen, Demonstrationen, Absichtserklärungen, die ohnehin nicht realisiert werden können, zu tolerieren. Sind die Institutionen des Staates geschwächt, drohen Unruhen, dann ist es nötig, die Umstürzler zu verhindern. Vladimir Jankélévitch, der französische Philosoph, Professor der Sorbonne nennt dieses notwendige von-Fall-zu-Fall-Abwägen »die Kasuistik der Toleranz«. Karl Popper schreibt dazu: «So lange wir [ihnen] durch rationale Argumente beikommen können und solange wir sie durch öffentliche Meinung in Schranken halten können, wäre Unterdrückung sicher höchst unvernünftig. Aber wir sollen für uns das Recht in Anspruch nehmen, […] wenn nötig, mit Gewalt zu unterdrücken». Denn Toleranz von Seiten des Staates darf den Staat nicht schwächen, sondern sie muss die Kraft bleiben, die weiteres Bestehen der Toleranz selbst ermöglicht.
Mit Toleranz werden bisweilen Bequemlichkeit oder auch Angst verwechselt. Aus Angst und Bequemlichkeit werden bestimmte Handlungen oder Verhaltensweisen Einzelner oder ganzer Gruppen, die zum Unheil und Leid Anderer führen – ganz besonders in einem totalitären System – durch die Gesellschaft geduldet oder entschuldigt. Ein weiterer Grund für falsche Toleranz ist mangelnde Erkenntnis: «Der ideale Untertan des totalitären Regimes, bemerkt Hannah Arendt, sei weder der überzeugte Nazi noch der überzeugte Kommunist, sondern der Mensch, für den der Unterschied zwischen Tatsache und Fiktion, zwischen Wahr und Falsch verschwunden sei», – diesen Satz zitiere ich nach André Comte-Sponville. Das betrifft natürlich auch Leben in einem demokratischen System. Wenn die Urteilsfähigkeit in diesem Sinne abhanden gekommen ist, oder nie vorhanden gewesen ist, ist der Weg zu einer gleichgültigen Haltung gegenüber Übel in der Gesellschaft offen.
Wie wir sehen, ist der Übergang von Toleranz im Sinne „alles ist relativ“, „alles ist gleich“ zu der Toleranz, die wir noch als Tugend bezeichnen können sehr schmal. Die Unterscheidungsfähigkeit in diesem Fall setzt Wachheit, Bewusstheit und Erkenntnisfähigkeit der Menschen voraus.
Es ist nicht zu übersehen, dass Toleranz, sollte sie überhaupt eine Tugend sein, eine Sekundärtugend ist. Weil sie nur dann in zwischenmenschlichen Beziehungen vorkommt, wo ein widerwilliges Ertragen ist und (noch) keine Liebe. In dem Sinne, auch wenn der Zustand noch lange anhält – ist sie nur eine Zwischenlösung.
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André Comte-Sponville, «Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben, Ein kleines Brevier der Tugenden und Werte», Rowohlt, 1996