Nach Tschita sind die Dekabristen verbannt worden. Russische Offiziere, Adelige, die Napoleon bis nach Paris verfolgt und besiegt haben. Zurück in Russland, vom Geist der Freiheit angesteckt, verschwören sich diese jungen Männer gegen die Macht des Zaren und wollen die Freiheit, die sie im verfeindeten und doch so bewunderten Frankreich geatmet haben, …
… in die Höfe und Hütten ihres Vaterlandes tragen. Sie scheitern, die wichtigsten Köpfe der Verschwörung fallen, alle anderen Aufständischen werden verbannt. Nach Tschita eben, eine damals kleine Stadt, 6500 Kilometer von Moskau entfernt. Was zu dieser Zeit im Zarenreich üblich ist und was uns heute doch ein wenig verwundert: Die Ehefrauen dürfen ihre Gatten in die Verbannung begleiten.
Obschon ihr Aufstand nicht die geringste Chance auf Erfolg hat, sind sie, bewundert und von Dichtern besungen, in den folgenden Jahrzehnten ein Vorbild für alle, die in das verkrustete Zarenreich neue Ideen tragen wollen. Alexander Puschkin sendet den Freunden in die Verbannung ein Gedicht, das mit diesen Worten beginnt:
Tief in Sibiriens Schächten sollt
Ihr stolz das schwere Schicksal tragen
Denn nicht vergeht, was Ihr gewollt,
Nicht Eures Geistes hohes Wagen.
…und mit diesen Worten endet:
Die Fesseln fallen Stück für Stück,
Die Mauern brechen. Freies Leben
Begrüßt Euch freudig, und es geben
Die Brüder Euch das Schwert zurück.
Heute ist Tschita nicht nur eine Industriestadt nahe der Grenze zu China. Die alte unrühmliche Tradition eines Verbannungsortes lebt in der Stadt fort. In Tschita selbst und in Lagern in der Umgebung leben unter sehr schwierigen Bedingungen nach wie vor tausende Gefangene. Die meisten sind gewöhnliche Kriminelle. Aber auch Menschen, die in Konflikt mit der Zentralmacht geraten sind, werden hier gefangen gehalten.
Damals, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie schon erwähnt, haben die Frauen ihre Männer begleiten dürfen, was diesen Menschen den Anschein einer zwar kargen, aber immerhin einer Normalität verliehen hat. Nicht so heute.
Der bekannteste Gefangene in Tschita heute ist, und das schon seit vielen Jahren, Michail Borissowitsch Chodorkowskij.
Der hochbegabte und später sehr erfolgreiche Geschäftsmann erkennt früh die Zeichen der Zeit und beginnt noch als Student in der zweiten Hälfte der 80er Jahre eine Tätigkeit, die es ihm ermöglicht, Kapital zu sammeln. Das Geld erlaubt ihm, sich in den 90er Jahren an der Privatisierung der Industrie in Russland zu beteiligen. Er kauft vom Staat die hochverschuldete und ineffizient arbeitende Ölfirma Yukos, die dank seinem Management innerhalb weniger Jahre ihren Wert auf 30 Milliarden Dollar steigert. In seinem Konzern führt er eine für russische Verhältnisse ungewöhnliche Transparenz ein, er holt außerdem das moderne know-how der westlichen Firmen in sein Haus. Mehr noch – er lässt seine Firma von westlichen Wirtschaftsprüfern durchleuchten.
Aber Chodorkowskij beschränkt sich nicht darauf, das Geld zu vermehren und es weiter zu investieren. Er entwickelt sich zum modernen Kapitalisten, der sein Vermögen nicht hortet, sondern für gemeinnützige Zwecke ausgibt. Damit nimmt er eine Vorreiterrolle in der russischen Gesellschaft ein. Er unterstützt die liberale Oppositionspartei Jabloko, viele Politikwissenschaftler und Studenten. Er gründet nicht nur die bekannte Stiftung Offenes Russland, auch andere Institutionen wie Schulen und Krankenhäuser. Nicht nur, um sein Image als Oligarch zu verbessern, sondern tatsächlich um einen neuen Arbeits- und Lebensstil unter den Millionären und Milliardären einzuführen und zu etablieren. Bei ihm ist innerhalb weniger Jahre eine Metamorphose vom Oligarchen – ein Wort mit einer ausgesprochen pejorativen Bedeutung – zu einem modernen, gesellschaftlich und sozial überaus interessierten Wirtschaftsführer in einer globalisierten Welt zu beobachten.
Die Schule mit Internat – ein Beispiel für sein soziales Engagement – die er 40 km von Moskau entfernt gründet, verbindet eine Erziehung und Bildung für die Zukunft mit dem Schaffen einer häuslichen Atmosphäre für Kinder, von denen die meisten Waisen sind, oft schwer traumatisiert. Da sind Erzieher und Psychologen, Lehrer und der pädagogische Rat, die den Kindern helfen, ihre Traumata zu überwinden und neue Ziele für das Leben zu finden. Die wahre Seele der Schule ist jedoch Marina Chodorkowskaja, Mutter von Michail, die ganz und gar inoffiziell die Rolle einer Babuschka für alle Kinder erfüllt. Zu ihr kommen die Kinder, wenn sie Trost suchen, es fällt ihnen leichter statt den Lehrern oder Psychologen, ihr das Leid zu klagen.
In ihren Gründungsjahren, als das Geld von Michail noch reichlich fließt, hilft die Schule ihren Schützlingen bis über die eigentliche Schulzeit hinaus. Heute, nach der Zerschlagung von Yukos und dem Einfrieren des Vermögens von Chodorkowskij müssen der Schule ausländische Sponsoren helfen, damit sie ihre eigentliche Tätigkeit aufrechterhalten kann. Die Abiturienten sind nach dem Verlassen der Schule jedoch auf sich allein gestellt.
Auch die Moskauer Universität hat von seinen üppigen Spenden profitiert: Der Milliardär hat sie jahrelang mit insgesamt 100 Millionen Dollar unterstützt. Das bekannte Tschechow-Theater und viele Kulturzentren in der Provinz wurden durch ihn finanziert. Dort, wo Yukos unter Chodorkowskijs Führung Ölbohrungen durchführte und wo er unzählige Institutionen unterstützte, hat er bis heute den Status eines Heiligen…
Zum Verhängnis wird Chodorkowskij sein politisches Engagement, Unterstützung der Opposition, vielleicht seine eigenen politischen Ambitionen. Das ist den Moskauer Machthabern endgültig zu viel: Chodorkowskij und einige Mitarbeiter von Yukos werden verhaftet, warten lange auf ihre Prozesse in Untersuchungshaft. Ihm selbst wird massive Steuerhinterziehung zur Last gelegt, wobei das Yukos-Vermögen eingefroren wird und somit die Forderungen des Staates nicht erfüllt werden können. Er wird zu 9 Jahren Lager verurteilt, Yukos wird zerschlagen und wieder verstaatlicht.
Chodorkowskij hat sich geweigert, ins Ausland zu gehen, diesen Weg zu beschreiten, den andere in Ungnade gefallene russische Industrielle vor ihm gegangen sind. Er hat sein geliebtes Russland nicht verlassen wollen, außerdem wäre Emigration in seinen Augen – und in Augen vieler anderen – ein Schuldeingeständnis. Darüber hinaus ist in ihm die Hoffnung auf seine eigene Zukunft in Russland keineswegs gestorben.
Die Frage ist nur, was seine Gegner mit ihm vorhaben. Wollen sie ihn vernichten, psychisch und physisch? Oder wollen sie nur andere, die sich für eine Modernisierung des Landes einsetzten, warnen? Er sitzt hinter Gittern, früh gealtert, nicht zuletzt durch den Hungerstreik, in den er getreten ist, um eine Behandlung seines sterbenskranken Freundes und ehemaligen Mitarbeiters zu erzwingen, der in einem Moskauer Gefängnis sitzt. Wassilij Aleksanjan, so sein Name, lehnt es ab, gegen Chodorkowskij auszusagen, deshalb wird ihm die medizinische Behandlung verwehrt. Nein, ich glaube nicht, dass man diese Menschen mit solchen Maßnahmen brechen kann.
Ich suche keine billigen Vergleiche zwischen Chodorkowskij und den Dekabristen, genauso unsinnig ist es, ihn etwa mit Sacharow zu vergleichen, was – für mich sehr enttäuschend – ein Kenner dieser komplizierten Problematik, der Zeit-Journalist, Johannes Voswinkel, tut. Besonders missfällt mir Voswinkels falsche und herabsetzende Einschätzung, Chodorkowskij sei nicht die moralische Größe wie Sacharow es gewesen. Ich sehe es so: Jede Epoche der russischen Geschichte kennt Menschen, die sich der Zentralmacht zu entziehen suchen: Im 17. Jahrhundert die Novgoroder Bojaren, die von der Opritschnina dezimiert worden sind, die Dekabristen sind es im 19. Jahrhundert, die Revolutionäre – im 20. Jahrhundert, die intellektuellen Dissidenten in der kommunistischen Zeit. Heute sind es, und können es nur sein, das muss man unterstreichen, Industrielle, Politiker oder Journalisten. Leider liegt es in der Natur der Sache, dass weder den Kapitalisten noch den Politikern handeln aus moralischen Beweggründen unterstellt wird, daher die Einschätzung Voswinkels. Versuchen wir es, unser Denken in dieser Hinsicht zu ändern!
Der damalige Ort der Verbannung von Dekabristen und der heute von Chodorkowskij, Tschita, lässt einen Vergleich zwischen diesen Ereignissen ziehen. Auffallend ist, dass in der Sache der Gefangenenbehandlung ein krasser Kontrast, eine Verschlechterung, zwischen früher und heute zu beobachten ist: Wie schon erwähnt, sind die damaligen Revolutionäre in Tschita nicht allein auf sich gestellt: Ihre Ehefrauen hatten ihnen folgen dürfen und sie alle hatten ein unter diesen besondern Umständen mehr oder weniger normales Leben führen können. Nicht so Chodorkowskij. Er lebt in einer Zelle, wie ein gewöhnlicher Krimineller – so soll er auch wahrgenommen werden! – und nur ein Mal im Monat darf seine Familie ihn besuchen. Seine Mutter und die Ehefrau besuchen ihn abwechselnd für die Dauer von drei Stunden – nach acht Stunden Flug. Von diesen drei Stunden geht eine dafür verloren, den Passierschein mit allen verlangten Unterschriften zu bekommen und für den Weg vom Eingangstor bis zu dem Raum, in dem sie sprechen können. Frei sprechen können sie ohnehin nicht, denn immer sitzt ein Wächter mit am Tisch. Nicht einmal die Hand darf die Mutter ihrem Sohn geben…
Sie halten diese Situation aus. Wie die Dekabristen erduldet auch Chodorkowskij standhaft die Verbannung, nicht Strafe, denn die Vorwürfe sind fadenscheinig, sein Prozess und seine Isolation sollen dem Einschüchtern aller anderen Menschen mit politischen Ambitionen dienen. Wie die Dekabristen, die seit zwei Jahrhunderten unzähligen Menschen als Vorbild dienen, ebenso sucht dieser politische Gefangene sein unglaublich tapfer ertragenes Leid in den Dienst für Russland zu stellen. Aus einem Wirtschaftsboss ist erzwungenermaßen jetzt ein Wirtschaftstheoretiker geworden, der seine Analysen der wirtschaftlichen und politischen Lage in Russland verfasst. Und er zweifelt dabei nicht an der Sinnhaftigkeit seines früheren und derzeitigen Tuns.
Wiera, nadjeschda, ljubow…
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März 2010: ich habe etwas sehr Interessantes gefunden: Briefwechsel, Ljudmila Ulickaja und Michail Chodorkowskij: Briefe aus dem Gefängnis – „Am wichtigsten ist die Selbstdisziplin“