Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt, denn jeder Mensch ist wie das ganze Universum – diese Überzeugung lebt in jüdischer Tradition, festgehalten ist sie im Talmud.
Irena Sendler, von der ich heute erzähle, wird die ganze Welt retten. Sie hatte etwa 2500 Kinder, vor allem aus dem Warschauer Ghetto vor dem sicheren Tod gerettet. Sie brachte Kinder außer Gefahr und dachte an das Überleben des ganzen Volkes. …
„Die Gerechten aus den Völkern haben einen Platz in der kommenden Welt.“ – Talmud
… Sie wusste wie alle anderen, dass unter der Naziherrschaft die Juden zum Tode verurteilt waren; die Kinder hatte man der Vernichtung entreißen wollen, damit das Volk weiter leben kann. Es sollte den Deutschen nicht gelingen, alles Jüdische zu vernichten; die Kinder sollten die Keimzelle des neuen jüdischen Lebens werden.
Sie kam 1910 in Otwock zur Welt. Vor dem Krieg studierte sie Polonistik, ihr politisches Interesse galt der PPS, der Polnischen Sozialistischen Partei. Während der Okkupation arbeitete sie im Sozialdienst der Stadt, wo sie für Arme und Notleidende tätig war. Zusammen mit anderen Eingeweihten hatte sie die Namen der hilfsbedürftigen Juden geändert, so dass sie weiter Unterstützung bekommen konnten, Unterstützung, die den Juden seit dem Anfang der Okkupation nicht mehr gewährt wurde.
Frau Sendler spielte eine wichtige Rolle in einer Hilfsorganisation, die im Jahr 1942 ins Leben gerufen wurde: Żegota. Diese Organisation entstand einige Zeit nach der Wannseekonferenz, als es für alle unmissverständlich klar geworden war, was für ein Schicksal endgültig für die Juden von den Deutschen zugedacht wurde. Damals hatten polnische Intellektuelle, unter anderen die Schriftstellerin Zofia Kossak-Szczucka, als eine selbstverständliche christliche Verpflichtung angesehen, konkrete Hilfe für das zum Tode verurteilte Volk zu gewährleisten. Diese so notwendige Hilfe war im Rahmen des polnischen Untergrundstaates möglich. Eine hochkonspirative Arbeit war damals von einem ganzen Netz aus polnischen und jüdischen Gruppierungen aufgenommen und über lange Zeit geführt worden. Irena Sendler wurde mit der Leitung des Kinderreferats von Zegota betraut: Sie war ein herausragendes Organisationstalent.
Als die Liquidierung des Warschauer Ghettos ihren Anfang nahm, war bei Zegota endgültig die Entscheidung gefallen, Kinder aus dem Ghetto herauszuschleusen. Diesen Auftrag bekam Irena Sendler. Ohne ihr organisatorisches Talent wäre es vielleicht doch nicht möglich, diese überaus schwere und gefährliche Aufgabe zu bewältigen.
Sie hatte als Sozialarbeiterin – sie trat in der Tracht einer Krankenschwester auf – einen freien Zugang hinter die Mauern gehabt. Bei ihrer offiziellen Tätigkeit als Sanitäterin war sie von Familie zu Familie gegangen, mit dem Angebot, die Kinder in Sicherheit zu bringen, also für sie in polnischen Familien, in Klöstern oder in den Waisenhäusern Unterkunft zu finden. Klöster und Waisenhäuser hatten schon seit Anfang des Krieges verwaiste oder von Eltern getrennte Kinder, polnische und jüdische, in Schutz genommen. Dort waren sie verhältnismäßig sicher. Auch wenn es keine Garantie für das Übeleben der Kinder gab, hatten ihr die meisten Eltern ihre Kinder anvertraut. Obwohl es nicht leicht für die Eltern war, ihre Kinder wegzugeben, zumal sie immer noch geglaubt, gehofft hatten, sie werden dem Tode entgehen oder sie waren emotional nicht in der Lage, sich von ihren Kindern zu trennen.
Es war keine einfache Aufgabe, kleine Kinder aus dem Ghetto zu schmuggeln. Man musste die Kleinen betäuben, damit sie sich nicht verraten, man hat sie in Säcken oder Kisten verpackt und in den Ambulanzen oder Transportwagen versteckt und so nach außen gebracht. Bei Kontrollen hatte man den Gestapo-Männern erklärt, diese Kinder seien tot, an Typhus gestorben. Typhus hatte zu damaliger Zeit eine starke, fast magische Abschreckungskraft gehabt, so wurde also nicht weiter insistiert.
Das Zielort für die Kinder war schon organisiert und vorbereitet. Kein Kind konnte seinen jüdischen Namen behalten, neue Daten hatte man erschaffen, die Kinder mussten in kürzester Zeit akzentfrei Polnisch sprechen lernen. Die echten Namen der Kinder waren jedoch peinlich genau festgehalten worden, damit dann, wenn der Vernichtungswahn aufhört, seine Netze auszuwerfen, diese Kinder ihre wahre Identität erfahren können. Die Namen der Kinder hatte Frau Sendler auf Zigarettenpapier chiffriert aufgeschrieben, in Gläser verpackt und im Garten vergraben. Auch wenn das Haus während des Warschauer Aufstandes zerstört wurde, diese besondere Dokumentation ist erhalten geblieben.
Obschon bestens organisiert und getarnt, konnte solche Massenaktion nicht über lange Zeit unbemerkt weitergeführt werden. Es gab auch genug Verräter und Denunzianten. Eines Tages also standen elf Soldaten vor Frau Sendlers Wohnung. In zwei Stunden hatten sie alle Räume auf den Kopf gestellt. Sie wussten genau, was sie suchen: die Namenslisten der Kinder. Diese aber waren bestens versteckt. Irena Sendler war verhaftet worden, verhört, gefoltert, man brach ihr Beine und Füße – alles um die Informationen aus ihr herauszupressen. Ohne Erfolg. Sie kam ins Gefängnis, war bald zum Tode verurteilt worden.
Für den Untergrund war sie eine nicht zu ersetzende Person! Zegota hatte einem SS-Mann Lösegeld bezahlt, er hatte Frau Sendler auf dem Weg zur Vollstreckung des Todesurteils bewusstlos geschlagen und am Wegesrand liegen lassen. Von dort war sie von ihren Verbündeten abgeholt worden. Nach der Genesung war weiteres Leben nur in tiefer Konspiration möglich, da die Gestapo eine Jagd auf sie aufgenommen hatte. Sie musste ihren Namen ändern und nahm von diesem Zeitpunkt an andere Aufgaben bei Zegota auf, die sie bis zur Liquidierung des Warschauer Ghettos und zum Teil bis zum Warschauer Aufstand weiterführte.
Wie das Leben so spielt, zeigte es sich nach dem Krieg, dass es nicht ratsam war, über Rettung von Juden zu sprechen… Marcel Reich-Ranicki bringt das Problem in seiner Autobiographie auf den Punkt: Der Mann, der Reich-Ranicki und seine Frau versteckt hatte, bat sie, es niemandem zu sagen: „Ich kenne das Volk. Niemals würden sie mir verzeihen, dass ich zwei Juden gerettet habe.“
So versteht man besser, warum Irena Sendler jahrzehntelang vergessen worden ist.
Erst im Jahr 1965 war sie von der Gedenkstätte Yad Vashem mit dem Titel „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet worden. Vom polnischen Staat bekam sie aber eine Auszeichnung für ihre Tapferkeit und Mut fast 40 Jahre später, im Jahre 2003…
Sie starb 98jährig im Mai 2008.