„Allein hätte ich nicht die Welt durch Antizipation bereits in mir getragen, ich wäre mit sehenden Augen blind geblieben, und alle Erforschung und Erfahrung wäre nichts gewesen als ein ganz totes vergebliches Bemühen. Das Licht ist da, und die Farben umgeben uns; allein trügen wir kein Licht und keine Farben im eigenen Auge, so würden wir auch außer uns dergleichen nicht wahrnehmen.“ – Johann Peter Eckerman: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens
„Wär‘ nicht das Auge sonnenhaft,
Wie könnt‘ die Sonne es erblicken?“ –Johann Wolfgang Goethe
Selten gibt es in einem Satz so viel Weisheit über den Menschen und über die Welt, in der er lebt. Diese Erkenntnis erfasst eigentlich alle Lebens- und Wissensgebiete, in der Kunst ist sie jedoch am ehesten nachvollziehbar. Das Wissen davon, dass jeder Mensch die Weisheit von der Welt in seiner Seele trägt, verpflichtet den ambitionierten Betrachter, gezielt Wahrnehmungen mit Reflexionen zu begleiten. Die Summe dieser Reflexionen ergibt in Laufe der Jahre das, was wir Erfahrung nennen. Es ist so, dass kein Mensch alle Erfahrungen der Welt selbst leben kann. Nicht jeder wird vielen Menschen begegnen, nicht jeder wird die Mannigfaltigkeit der Welt mit eigenen Augen betrachten können. Ein extremes Beispiel eines Menschen, der ohne in die weite Welt hinaus zu gehen, sie kennt und versteht: Der Säulenheilige besitzt diese Weisheit von der Welt allein aus sich heraus und von seinem mystischen Erleben der Schöpfung.
Wir, vielfältig in den Alltag eingebunden, befangen in unseren Emotionen, fühlen uns doch die meiste Zeit von der höheren Erkenntnis abgeschnitten. Die Begegnung mit der Kunst, ob Musik, ob Malerei, ob Literatur oder Film versetzt unsere müde Seele in andere Gefilde. Ich wage zu sagen, dass auch die Momente der Begegnung mit der Kunst zu diesen zählen, für die es sich überhaupt lohnt zu leben… Das im Irdischen Verhaftetsein, ob es sich um Erziehung der Kinder, oder Dienst am anderen Menschen, oder bloße Existenzsicherung handelt, ist für normale Sterbliche unabdingbar. Die Voraussetzung für weitere Entwicklungen, die uns die Kunst ermöglicht, müssen wir trotzdem schaffen… Muße gehört dazu… Muße für Begegnung mit der Natur und mit der Kunst. Das Vergessen des Alltags…
Wertvolle Kunst, also weit vom Kitsch entfernt, versetzt uns in die Lage, ohne in die weite Welt zu gehen, unzählige Erfahrungen zu machen. Dank dem Genius des Künstlers ist es uns gegeben. Natürlich wäre es bereichernd, um ein Beispiel zu nehmen, auf hoher See, getragen von starken Wellen den eigenen Emotionen zu begegnen – Angst, Lust… Beim Betrachten eines Bildes, das gerade solche Szene darstellt, mit einem geringem Aufwand an Phantasie erleben wir, wenn nicht ganz das Gleiche wie in der Realität, dann wenigstens einen wertvollen Abglanz solcher Erfahrung.
Wenn wir – nehmen wir als Beispiel – „Die Seerosen“ von Claude Monet betrachten, sehen wir, wie mit wenigen Farbstrichen Licht auf die Leinwand gebannt worden ist. Die Lichtreflexe, die eigentlich Farbreflexe sind, ergeben beim Betrachten eine Form. Das war übrigens das Neue, was uns die impressionistischen Maler gegeben haben. Durch das Prisma dieser Kunst ist unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit mehrdimensional geworden: Wir betrachten nicht nur das Bild selbst, die Wirklichkeit dahinter, wir erleben durch die neue Maltechnik auch das, was sich zwischen dem schauendem Auge und dem Kunstwerk abspielt. Dabei gewinnt das Betrachten eines impressionistischen Bildes an Bedeutung, weil durch das momentane Aussetzen der „Durchsichtigkeit“ des Kunstwerkes die eigene Wahrnehmung reflektiert werden kann.
Die Künstler öffnen uns Welten, die im Alltag unzugänglich sind oder lediglich im Rahmen der Wissenschaft bekannt sind. Wie genial muss ein Künstler sein, der in den Sternen die Sonnen sieht! Die bekannten Nachtbilder von Vincent van Gogh gehören bezeichnenderweise zu den Beliebtesten, wenn man es an der Anzahl der Reproduktionen messen sollte.
Die heute durch die Drucktechnik mögliche Verbreitung der Kunst weckt andererseits auch unsere Sehnsucht nach der Wahrheit, die uns ohne die Vermittlung des Künstlers nicht zugänglich ist.
Zurück zum Goethe: In wenigen Worten erschließt er uns die Erkenntnis, dass die Weisheit von der Welt, von der Natur, Weisheit, die wir in uns tragen aus den Tiefen unserer Seele hervorgehoben werden muss, um in unser Bewusstsein zu gelangen.
Die Kunst ist ein hervorragender Mittler zwischen der Welt, der Natur, der Gesellschaft und dem Menschen.