• „Der Klang der Zeit“

„Der Klang der Zeit“ von Richard Powers,
Fischer-Verlag

Menschen, die unbeirrbar durch ihr Leben gehen, den Mut haben, sich den schwierigsten Aufgaben und Prüfungen zu stellen, schöpfen bezeichnenderweise ihre nichtversiegende Kraft aus einer Grenzerfahrung.

„Deine Mutter und ich, wir kannten die Zukunft. Eure Zukunft hat zu uns gesprochen. Hatte uns überhaupt erst Mut gemacht!“, so spricht der Sterbende Vater zu seinem Sohn…

„Deine Mutter und ich, wir kannten die Zukunft. Eure Zukunft hat zu uns gesprochen. Hatte uns ja überhaupt erst Mut gemacht!“, so spricht der sterbende David zu seinem Sohn. „Wir kannten die Zukunft, die Zukunft hat zu uns gesprochen“ – diese Worte sind wie ein roter Faden, der sich durch die Biografie der Romanhelden zieht. Das Buch erzählt vom Leben einer ganz untypischen amerikanischen Familie: Der Vater, David, ein deutscher Jude, emigriert 1933 nach Amerika, die Mutter, Delia, ist eine Afroamerikanerin, eine hoch begabte Sängerin, der die Ausbildung auf einer Musikschule der Hautfarbe wegen verweigert wird.

Bei einem Konzert der begnadeten Sängerin, Marian Anderson, begegnen sich Delia und David. Sie stehen nebeneinander, Delia singt begeistert mit Anderson mit, David nimmt den Gesang wahr, hört aufmerksam zu, spricht die junge Frau an, fragt, ob sie Sängerin sei. Bei diesem kurzen Gespräch fühlt sich Delia zum ersten Mal in ihrem Leben von einem Weißen als Person angesprochen und nicht als Schwarze – eine absolut neue Erfahrung für sie! Sie fühlt sich augenblicklich von diesem Menschen angezogen. Auch David empfindet ähnlich – auch er ist musisch begabt und gebildet. Das Konzert geht zu Ende, die 750000 Zuhörer gehen auseinander, plötzlich sucht ein Junge seine Familie. Indem die Beiden dem Jungen zu helfen versuchen, erleben Delia und David, beide zugleich, etwas, was sie nicht so sehr zu verwundern scheint: Wie in einer Zeitschleife bekommen sie den Einblick in die Zukunft, die ihre gemeinsame Zukunft ist.

In diesem Moment wird ihre unsterbliche Liebe geboren.

Dieses gemeinsame Erlebnis, diese Vision, verbindet die zwei Menschen augenblicklich und für immer. Aus dem Erlebnis schöpfen sie die Kraft, jegliche Widerstände zu überwinden. Sie empfinden ihr Bündnis – sie heiraten bald – als etwas so natürliches, dass sie nicht von Zweifeln befallen werden, ob eine solche Verbindung in Amerika der nahenden 40ger Jahre Zukunft haben kann. Die Sicherheit, die sie aus dem gemeinsamen übersinnlichen Erlebnis schöpfen, verleiht ihnen einen unbegrenzten Optimismus. Bezeichnend: Sie glauben, Delia spricht es aus, sich über die Rasse erheben zu können, damit Neues entstehen kann… Wenigstens für ihre Kinder, die sich bald zu ihnen gesellen werden.

Für Menschen, die in den wichtigsten Lebensknotenpunkten in die Zeitschleife – die ich nicht als eine rhetorische Figur verstehe – geraten und so in ihre Zukunft schauen können, ist dieses Erlebnis ein mystisches, denn sie erleben zugleich die Welt hinter der sichtbaren, der sinnlichen Welt. Das verleiht ihnen das Wissen – nicht den Glauben – von der anderen Welt, von Gott.

Dieses Wissen weckt in Delia eine unstillbare Sehnsucht nach Gott. Jahre nach ihrem Tod – sie ist in einem ungeklärten Hausbrand umgekommen – spricht David über diese Sehnsucht zu seinem jüngeren Sohn. Delia ist jung gestorben, aber ihr Leben scheint vollendet zu sein.

Die tiefe, erfüllte Liebe Davids zu Delia lebt weiter – über ihren Tod hinaus.

Jonah, der ältere Sohn, der ein berühmter Sänger geworden ist, kommt nach Jahren aus Europa nach Amerika zurück. Er besucht seine Geschwister Josef und Ruth in der Schule, die Ruth führt und in der Josef schwarze Kinder Musik lehrt. Kurz nach einem Konzert, in dem beide Brüder mit den Schülern singen, einem Konzert, das plötzlich als das Apogäum des Lebens der Geschwister erscheint, kommt der begnadete Sänger wie zufällig während der Rassenunruhen in Los Angeles um. Ausgerechnet dann, wenn er sich für einen Moment zu seinen schwarzen Wurzeln begibt.

Auch sein Leben scheint vollendet zu sein.

* * *

Es kann angenommen werden, dass das Geraten in eine Zeitschleife und dessen Bewusstwerden, kein seltenes Phänomen ist. Was für ein Trost, diese Geschichte von Delia und David, für Menschen, die Gleiches erleben und ihr Leben lang darüber schweigen!

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