• Die Bedeutung des Verzeihens

Kein einfaches Thema, was ich heute aufnehmen möchte: Das Verzeihen und die Vergebung der Schuld im Lichte der fünften Bitte aus dem Vaterunser.

Die ersten drei Bitten: „Geheiligt werde Dein Name“„Dein Reich komme“„Dein Wille geschehe…“ beziehen sich grundsätzlich auf die göttliche Welt, wenn auch eine gewisse Spiegelung dieser Bitten in der Gedankenwelt der Menschen zum Ausdruck kommt.  …

„…und vergib uns unsere Schulden, wie wir vergeben unseren Schuldigern… “ Mt 6,9-13
Das Neue Testament, Übersetzung von Emil Bock, Urachhaus 1980, Stuttgart

Die vierte Bitte „Unser tägliches Brot gib uns heute“ bezieht sich auf das irdische Leben des Menschen, auf das notwendige Gesichertsein der menschlichen Existenz. Diese Bitte bezieht sich ohne Zweifel auch auf die seelische und geistige Nahrung, deren der Mensch in seinem Leben wie Luft zum Atmen bedarf.

Die drei letzten Bitten: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, „Und führe uns nicht in Versuchung“, „Sondern erlöse uns von dem Bösen“ stehen in unmittelbarer Beziehung zum Problem des Bösen in der Welt, was sowohl als „das Böse“ und als auch wesenhaft als „der Böse“ verstanden werden kann.

Einerseits machen die Worte der fünften, sechsten und siebten Bitte dem Menschen bewusst, welche Aufgabe er selbst im Bezug auf das Böse hat, andererseits wird ihm klar, dass er nicht allein, also ohne die göttliche Welt und deren Hilfe es schaffen kann, der Versuchung als solchen zu widerstehen. Allein das „Widerstehen“ aber, also das Böse von sich zu weisen, wenn nicht gar die Menschenkraft übersteigernd, an sich keinen besonderen Wert besäße, denn dieses Widerstehen ist a priori stark mit Egoismus behaftet. Und Egoismus ist das Böse schlechthin.

Es erschließt sich als Konsequenz aus dem Gesagten, dass es eine denkbar wichtige, eigentlich wesentliche Aufgabe ist, das Auflösen oder – sagen wir es gleich – das Erlösen des Bösen. Die Teilnahme des Menschen an der Erlösung des Bösen hat ihren Ausdruck allein in der unaufhörlich geübten Verzeihung und Vergebung. Es ist ein Paradigmenwechsel, der sich hier abzeichnet: Das Böse soll nicht vom Menschen abgewiesen werden und von Gott „bestraft“ werden, sondern wieder zum Guten geführt werden. Und das liegt tatsächlich in der Verantwortung und in der Macht der Menschen! Obschon manchmal zögernd, manchmal an scheinbar wesentliche Bedingungen wie Reue oder Wiedergutmachung geknüpft, geschieht Vergebung unter Menschen unaufhörlich. Jedoch erst unbedingtes Verzeihen hat in sich die erlösende Kraft.

Dem bewussten, unbedingten Verzeihen geht eine Erkenntnis voran, die sich in das Wollen, in das Tun gesenkt hat. Eine Erkenntnis, dass Nachtragen, Rachegefühle, Zorn oder Wut dem Bösen zum Gedeihen verhelfen, dagegen das bedingungslose Verzeihen die Liebe als Gefühl und als objektiv wirkende Kraft zu Folge hat. Es ist wichtig zu unterstreichen, dass die im vorigen Satz erwähnte Willenstat nicht im Rahmen von einer so oder so gearteter Obedienz zustande kommen kann. Es kann sich nur um freie Entscheidung und freie Tat handeln, die jedoch ohne diese Erkenntnis nicht hätten erfolgen können.

Es ist schon so viel angedeutet worden, jetzt ist es an der Zeit zu schauen, was es eigentlich das Verzeihen ist?

Es reicht sicher nicht, einen abstrakten Willen zu dem Akt des Verzeihens zu haben. Was sich vollziehen muss im Menschen, der vergibt, ist die Tilgung der fremden Schuld aus dem eigenen Gedächtnis. Dieses muss errungen werden, vielleicht sogar unter Opfer erreicht werden. Die besondere Bedeutung dieses Vorgangs liegt darin, dass in die unaufhörlich von der Erinnerung an Leid und Kränkung frei werdenden Räume ein ganz anderer geistiger Impuls Eingang finden kann. Es muss hier unterstrichen werden, dass es sich dabei nicht nur um eine Durchdringung des individuellen Bewusstseins mit neuen Impulsen handelt, so, dass die eigenen Wunden heilen können, sondern in weiterer Konsequenz um positive Folgen für die unmittelbare Umgebung und für die Gesellschaft; es entsteht mehr Menschenliebe, mehr Brüderlichkeit, was überraschend ein verstärktes Bewusstsein der Anwesenheit Gottes zu Folge hat, denn ohne den gemeinsamen Vater – keine Brüderlichkeit. Hier kommt der Genius der Sprache deutlich zum Ausdruck: denn „verzeihen“ rührt von dem Verb „verzichten“, in dem Fall verzichten auf die niederen Regungen der Seele, die durch fremde Schuld hervorgerufen worden sind. Und „vergeben“ – verstanden als sich ver-geben – als Hingabe an die Mitmenschen.

Die Verzeihung darf also nicht als Feindesliebe verstanden werden, sie hebt gerade die Feindschaft auf und lässt Brüderlichkeit, Nächstenliebe und Liebe Gottes, die Liebe schlechthin, entstehen. Im Verzeihen ist diese Liebe erfahrbar. Liebe, die unbedingt und absolut das Gute ist.

Die Folgen der Verzeihung sind besonderer Natur. Weil Verzeihen ausschließlich ein Akt des freien Willens sein kann, tritt die Person, der die Schuld vergeben wird, in eine Beziehung zu einem anderen Menschen, dem Vergebenden, die nicht abhängig macht. Im Gegenteil: Der Akt der Verzeihung wirkt auf den Schuldigen befreiend – ein neuer Anfang ist möglich! Befreiend und als ein neuer Anfang wirkt er auch unerwartet auf den Verzeihenden! Auch für ihn ist ein neuer Anfang möglich geworden.

Der Akt der Verzeihung oder Vergebung hat in meinen Augen in seinem Ausdruck weniger den Opfercharakter, vielmehr hat er den Charakter der Gnade. Auch diese wird unverdient und ohne Erwartung einer Gegenleistung gewährt, was die conditio sine qua non sowohl der Gnade, als auch der Verzeihung ist! In diesem Sinne kann das menschliche Handeln als ein schöpferischer Akt im Sinne Nachfolge Christi verstanden werden, als gratia creata.

Ein wichtiges Buch zu diesem Thema:

Sergiej O. Prokofieff,Die okkulte Bedeutung des Verzeihens“ , Verlag Freies Geistesleben, 1991

Nicht mit allen Thesen des Autors könnte ich mich anfreunden, über einige gehe ich hinaus. Trotzdem ist es eins der wichtigsten Bücher überhaupt, die ich gelesen habe.

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