• Vom Sinn des Leidens – Theodizee

„Das Leben ist ohne den dazwischen scheinenden Gott unlebbar“
Botho Strauss

…Das Thema Leid ist aber für mich plötzlich auf eine unerwartete Weise präsent geworden: Durch die in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschienene Betrachtung des Bildes von Guido Reni »Kreuzigung«, geschrieben von Navid Kermani. Mit wenigen Worten fasst Kermani die meisten Zweifel, die jeder Mensch, nicht nur ein Muslim, aber auch ein Christ, selbstverständlich doch, an Kreuz und dessen Verehrung im eigenen Prozess der Christ-Werdung hat. An der Kritik von Kermani könnte sich, sollte sich im Grunde genommen, eine Debatte, ein interreligiöser Dialog entzünden. Es ist, wie zu erwarten, keine theologische Debatte entstanden, aller Wahrscheinlichkeit nach wird es auch nie eine geben. Schade, denn es gäbe viel zu sagen sowohl zum Kermanis Standpunkt und dessen Verschiebung während der Kontemplation des Bildes als auch zu anderen möglichen Betrachtungsweisen, nicht nur eines Bildes – denn ein Bild der Kreuzigung lenkt die Aufmerksamkeit allen voran auf die materialistische Seite des Geschehenen – sondern durch das Bild hindurch der metaphysischen Ebene des abgebildeten Ereignisses.

Mit diesem kurzen Text möchte ich den interessierten Leser auf eine andere Betrachtungsperspektive aufmerksam machen. Mehr: Ich möchte einen besonderen, einen ungewöhnlichen und in unserer Zeit nicht mehr beachteten Trost vermitteln. Es geht mir also um die Frage: Wie ändert sich die Perspektive beim Anschauen des menschlichen Leides durch den Blickwinkel des Leides des Gott-Menschen und seines Kreuzestodes?

Leid ist ein Thema, dem ich mich nur mit größter Umsicht nähern kann. Ich versuche es doch. Eine Einschränkung möchte ich jedoch vorausschicken: Ich werde hier nicht über das unaussprechliche Leid der Menschen, die in den totalitären Systemen des 20. Jahrhundert ihres Lebens beraubt wurden. Ich werde auch nicht über das Leid der Überlebenden sprechen. Es entzieht sich jeglichem Verstehen. Das Einzige, was bleibt, ist ein Erinnern und in diesem Erinnern ein Mit-Leiden, ein Mit-Gehen. Ich habe dabei die Imagination, das gerade dieses Erinnern und Mit-Leiden die Erlösungskraft besitzt. Einzig, was ich sagen kann, ist, dass das Schrecklichste, der Grund dieses Leides, einen absolut satanischen Charakter hatte – und das verstehe ich hier wortwörtlich.

Das gewöhnliche Leid, tragisch und dramatisch oft, das Leid, was jedem geschehen kann und was fast jedem geschieht, immer und immer wieder, hat in meinen Augen nicht nur eine irdische Dimension. Ich vertrete die Meinung, dass das Leid, „das Kreuz“, das wir zu tragen haben, etwas – im Hinblick auf die nichtirdische Dimension – hier auf Erden geradezu notwendig ist.

Da möchte ich an diesem Punkt weiter ausholen: Die Erzählung von Wladimir Sergejewitsch Solowjew, „Kurze Erzählung vom Antichrist“, zeigt uns deutlich, dass nicht nur ein Leben in völliger Glückseligkeit, ja, sogar das Versprechen der Glückseligkeit, des Wohlergehens und des ewigen Friedens, hier auf Erden, unwahr und unecht ist, ein falsches Versprechen, ein Versprechen, das einer Verführung gleicht und damit – das sagt uns die Intuition – wieder den durch und durch bösen Charakter hat – einen unmenschlichen. Der Schmerz, das Leid sind demnach elementar mit dem menschlichen Leben verbunden, das Leben ist ohne Leid und Schmerz so gut wie undenkbar. Somit stellt sich die Frage: Welchen Sinn hat das Leid der Menschen? Ein simples verneinen dieser Frage würde nichts erklären, würde auch das Leid nicht mindern und vor allem – es nicht verhindern. Kurz gesagt, das Verneinen dieser Frage führt gedanklich auf Abwege. Wenn wir sie jedoch ernsthaft in Gedanken bewegen, sind wir der Anerkennung eines höheren Ziels des menschlichen Lebens und Erlebens und somit auch Leides nahe. Kurzum, wem die teleologische Perspektive verschlossen bleibt, dem bleibt nur eine schmerzliche Frage, die keine Antwort findet.

Wozu ist es also gut, unser Leid?

Sowohl das körperliche Leid als auch das seelische, die sich übrigens oft bedingen, können in sehr vielen Fällen gelindert oder ganz beseitigt werden, was unbedingt angestrebt wird – durch Medizin und durch Unterstützung durch die soziale Umwelt. Dennoch macht die gewesene Erfahrung des Schmerzes, ob körperlich oder seelisch, auch wenn der Schmerz schnell vergessen wird, den Menschen reifer, verständnisvoller, befähigt ihn zum Mitleiden und nicht zuletzt dazu, selbst Hilfe leisten zu wollen und zu können.

Es gibt so gut wie kein menschliches Leben ohne Leid; glücklich können wir uns schätzen, wenn Kinder nicht leiden müssen. Wir Erwachsene gehen immer wieder in unserem Leben durch Phasen des Leides, ob es Schmerz, Trauer, Misserfolg, Verrat oder Krankheit sind. Nach dem überwundenen Schmerz, nach der überwundenen Krankheit oder Trauer empfinden wir eine große Erleichterung und Dankbarkeit – ja, vor allem deshalb, weil wir es hinter uns glauben. Solche Erfahrung prägt sich jedoch in unser Gedächtnis ein, verbindet sich unauflöslich mit unserer Biographie und es mischt sich ein neues, ein anderes Gefühl unter die Erleichterung, oder verstärkt diese sogar: Plötzlich wollen wir dieses vergangene Leid nicht mehr missen.

Die Voraussetzung dafür, dass diese neue Intuition im Bezug auf das Leid entsteht, ist dessen Akzeptanz. Es wird um diese gerungen, denn auch das sagt die Erfahrung, dass ein Leid, was wir akzeptieren, nicht mehr so sehr schmerzt. Ein nichtakzeptiertes Leid führt letztendlich zur Wut, Verbitterung und Neid. Alles Gefühle, die den Schmerz weiter verstärken!

Im Grunde ist es ein Funken Selbstschutz, wenn wir versuchen, dem Leid keinen Widerstand zu leisten, mehr, ihn anerkennen und ihm Sinn geben. Die Erleichterung, die dadurch erfahrene Minderung des Schmerzes ist sofort und deutlich zu spüren, so dass es einen neugierig macht, was sich da in der Psyche eigentlich abspielt, wenn allein das Annehmen des Leides eine so starke Veränderung des Empfindens verursacht.

Ich habe lange über Schmerz und Leid nachgedacht, viele mir zugänglichen Aspekte betrachtet und glaube, einen tragfähigen – weil es gerade darum geht –, einen kraftspendenden und vor allem einen umsetzbaren Modus gefunden. „Das Leben ist ohne den dazwischen scheinenden Gott unlebbar“. Diese Worte, Botho Strauss ist ihr Autor, stellen auf poetische Weise die wichtigste Prämisse meiner Ausführung dar.

Man könnte aber fragen: Wo bleibt Gott, wenn wir leiden müssen, oft so leiden, dass es unsere Kräfte zu übersteigen droht?

Es ist eine uralte philosophische und theologische Frage, die nach Gottes Gerechtigkeit und nach der Notwendigkeit des Leides: Wie ist mit Gottes Existenz die gleichzeitliche Existenz des Übels, des Unglücks, des Schmerzes vereinbar? Dieses Theodizeenproblem ist so alt wie die ihr Leben reflektierende Menschheit. Das Wort Theodizee ist erst im 18. Jahrhundert entstanden, die Frage nach Gott im Bezug auf das Leid hatte schon Hiob und seine Gefährten vor tausenden von Jahren gestellt.

Wenn ich annehme, dass die Erschaffung der Welt kein müssiges Spiel Gottes ist, muss ich zugleich feststellen, dass das Böse – sowohl Leid als auch Schuld – konsequenterweise notwendig ist, dass es im Gottes Plan enthalten ist. Es ist keine gedanklich bequeme Prämisse, sie hat aber den Anschein des Wahrhaftigen, denn das Ur-menschliche und in dieser Welt das Ziel an sich, ist die Freiheit: In weiter Perspektive die Freiheit der Wahl zwischen Gut und Gut. Allein um zur dieser Freiheit zu gelangen, muss die Menschheit den Weg der Erkenntnis, der Verstrickung in das Böse, dessen Begleiter Leid und Schmerz sind, gehen. Es ist zugleich der Weg zum Überwinden des Übels: Darin sehe ich das Ziel der irdischen Entwicklung. Es wird wohl noch Äonen dauern, bis dieser Zustand erreicht werden kann. Sicher ist aber, dass wir uns auf dem Weg bis dahin befinden.

Die Verstrickung in das Böse ist jedoch so stark, das Böse so mächtig, dass wir Menschen – auch das ist intuitiv erfassbar – uns davon selbst nie befreien könnten. Im Lichte dieser Feststellung ist es konsequent, dass die Menschheit der göttlichen Hilfe bedarf. So glaubt also der Christ, der Menschheit ist tatsächlich vor 2000 Jahren solche Hilfe zuteil geworden. Als grundfalsch sehe ich es aber an, wenn Christi Leid und sein Kreuzestod als Tilgung irgendwelcher individuellen menschlichen Schuld verstanden wird! Wegen solch einer vereinfachten Deutung wird übrigens die Tat von Golgatha missverstanden oder gar abgelehnt.

Das Leid Christi ist ein Thema der Kreuzestheologie, die an sich ein sehr wichtiges Thesenkomplex darstellt. Hier möchte ich nur kurz erwähnen, dass Christi Kreuzestod und dessen Notwendigkeit uns zeigen, wie unendlich schwer für uns Menschen die Absage an das Böse ist. Die erlösende Wirkung der Golgatha-Tat, einmal geschehen, kann uns aber nicht mehr genommen werden. Sie wirkt in alle Zukunft hinein und für alle Menschen, die je geboren wurden und werden – trotz der wiederkehrenden Eruptionen des Bösen.

Ein Ausdruck aus der christlichen Theologie und Religion – »Nachfolge Christi« – bezieht sich ganz konkret auf die Nachfolge im Leid und auf die Leidensfähigkeit des Menschen und in der Konsequenz auf die Tatsache, dass er dem Leid nicht entrinnen kann. Auf diese Weise verstandene Nachfolge haben in den ersten Jahrhunderten des Christentums unzählige Märtyrer gelebt. Nicht aus einer, wie auch immer verstandenen, Liebe zu Christus. Sie haben verstanden, dass der Mensch durch sein Leid die Macht besitzt, das Böse zu erlösen: Den Menschen vom Bösen erlösen und zugleich das Böse erlösen.

Somit steht unser Leid eigentlich im Dienste der Menschheit und der weit verstandenen Schöpfung. Es ist also nicht sinnlos. Das Erkennen seiner Bedeutung und Wirkung lindert, wie von unzähligen Menschen erfahren, den individuellen Schmerz. Das ist gerade das Geheimnis des Leides.

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