• Wie frei ist der Wille?

Der Versuch, die Entscheidungsfreiheit und was damit zusammenhängt, die Verantwortung für die Gedanken, Absichten und letztendlich für die Taten der Menschen zu relativieren oder gar zu negieren, wäre ohne den rasanten Fortschritt der Hirnforschung nicht möglich. Obschon anfangs die Fragen zum Verhältnis von Geist und Gehirn selbst von den Forschern als unzulässig betrachtet worden …

Über Jahrhunderte haben die Philosophen und Wissenschaftler das Verhältnis zwischen der Materie und Bewusstsein für ein für alle Zeiten unlösbares Rätsel gehalten: „Ignoramus et ignorabimus“ –  war der Ausdruck der Skepsis. Wie nicht anders zu erwarten, versucht die moderne Wissenschaft mit Hilfe der bildgebenden Untersuchungs- methoden den Prozessen im Gehirn, wo sie den Sitz des Bewusstseins vermutet, auf die Spur zu kommen. Was sind die vermeintlichen Erkenntnisse?

… waren und später die Neurowissenschaft weiter nichts zur Klärung dieser Fragen beitragen konnte, haben in folgenden Jahrzehnten einige Wissenschaftler den kühnen Versuch gewagt, mit den Methoden der Naturwissenschaft die Fragen aus dem Gebiet der Wissenschaft über den menschlichen Geist zu lösen. Die zentralen Fragen in diesem Kontext sind: Verfügt der Mensch über einen freien Willen? Wie sei dieser Begriff zu definieren? Welche theoretischen und praktischen Konsequenzen die von den Neurowissenschaftlern angebotene Antwort für das weit gefasste Zusammenleben der Menschen haben könnte?

Jean-Paul Sartre schreibt: „Freiheit ist jene kleine Bewegung, die aus einem völlig bedingten Wesen, einen Menschen macht, der nicht in allem das darstellt, was von seinem Bedingtsein herrührt. So wird aus Jean Genet ein Dichter, obwohl er ganz dazu bedingt war, ein Dieb zu werden.“

Diese kleine Bewegung wird von einer Gruppe der Neurowissenschaftler negiert. Wolf Singer, einer der führenden Vertreter der modernen Hirnforschung erklärt die Meinung der Forschergruppe mit diesen Worten: „Wir glauben, dass alle Leistungen von Gehirnen, die mentalen Prozesse eingeschlossen, auf neuronalen Vorgängen beruhen. Das heißt, sie gehorchen physiko-chemischen Gesetzen. […] Der vorausgehende Zustand des Gehirns verursacht die Handlung.“ Das heißt, der Mensch hat keinen freien Willen. Die allererste Konsequenz solcher Annahme wäre die Aberkennung jeglicher Verantwortlichkeit der Menschen für ihre Gedanken und Handlungen, die wiederum unvorhersehbare Folgen unter anderem im Rechtsleben hätte! Man muss hier sogleich anmerken, dass die Worte „Gedanken“ und „Handlungen“ an sich nicht geeignet sind zur Beschreibung der von Singer eigentlich gemeinten marionettenhaften Abläufe von Impulsen, Worten, Bewegungen und anderen Äußerungen des Menschen. Auch wird der Mensch von ihnen nicht als Person definiert, sondern als „lebendiger Organismus“.

Die These, Denken und Handeln des Menschen seien auf neuronale Prozesse zu reduzieren, ist für unsere Intuition indiskutabel. Und doch sorgt die provokante Meinung der Forscher, seit im Jahre 2004 „Das Manifest“ veröffentlicht worden ist, noch heute für Debatten. Es war aber der Präkursor der Neurobiologie Benjamin Libet selbst, der, nachdem er mit seinen ersten Untersuchungen der Zeitabfolge einer Entscheidung, die er an den Hirnströmen gemessen hatte, und der Ausführung der Bewegung, die wahrnehmbar war, mit seiner ersten Feststellung, den freien Willen gebe es nicht, eine kleine Revolution zwischen den Grenzgebieten der Natur- und Geisteswissenschaft verursachte und diesen später vor dem eliminativen Materialismus doch in Schutz nahm. Ihm ist klar geworden, dass seine Forschungsergebnisse nicht dazu geeignet sind, diese gewagte These, den freien Willen gebe es nicht, zu stützen. Anders die elf Wissenschaftler: Seit der Veröffentlichung des Manifestes verteidigen sie fortwährend in zahlreichen Zeitungsartikeln und Rundfunk- und Fernsehsendungen ihre Meinung und sorgen damit nach wie vor für Verwirrung der Meinungen und Gefühle. Mit der These, die zwar nicht haltbar, aber auch ganz und gar nicht leicht zu widerlegen ist, mit der sie an die Menschheit herangetreten sind und nachhaltig für erhöhte Aufmerksamkeit auf der einen Seite und für entschiedenen Widerstand auf der anderen Seite sorgt, haben die Forscher vorerst einen großen Erfolg erzielt. Da der Ruhm auch mit Forschungsgeldern verbunden ist, sorgt er nicht nur für breite Bekanntheit, sichert aber auch nachhaltig die eigene Existenz als Wissenschaftler. Ideen muss man haben!

Diese Aufruhr hat jedoch ihre positiven Seiten. Die Philosophen, die sich zuständig für die Fragen des menschlichen Geistes fühlen, sind ihrerseits sogleich auf den Plan getreten. Vielleicht hat sich also der Joke für die Menschheit gelohnt, denn diese Philosophen, Theologen, Schriftsteller, Journalisten und andere Humanisten fühlen sich berufen und verpflichtet, gezielt zu diesem medialen Feldzug der Naturforscher Stellung zu nehmen. Es sind seitdem erschienen und erscheinen immer noch geistvolle und fundierte Repliken, die es sich allemal lohnt zu lesen.

Es sind die Philosophen – Julian Nida-Rümelin, Jürgen Habermas, Martin Seel, der Theologe Christian Hoppe und viele andere, die gute Argumente gegen die unhaltbaren Behauptungen der Hirnforschung entgegenhalten. In mancher Debatte fehlt es nicht an Humor, denn ohne Humor ist die Begegnung mit der Vorstellung, der Mensch ist ein absolut unfreies Wesen und die graue Masse des Gehirns erledigt für ihn alles, schwer zu ertragen. (Hier zur Erheiterung ein Gespräch zwischen Julian Nida-Rümelin und Wolf Singer, geführt in der Redaktion der Frankfurter RundschauSinger und Nida-Rümelin)

Es ist in der Tat so, dass sich im Gehirn, genau gesagt in den Verbindungen der einzelnen Nervenzellen, also in den Synapsen, die auch Verschaltungen genannt werden, der Geist – der menschliche Geist – auf die Materie trifft und seine mehr oder weniger dauerhafte Spuren hinterlässt. Das Phänomen des Gedächtnises macht es sichtbar: Die Wahrnehmungen, Gefühlsregungen und Ideen sind wie dieses nicht materiell aber das Erleben der Gefühle, das Abwägen von Ideen, das Erinnern – das Denken also, hinterlässt neue Verschaltungen im Gehirn, die als physische Phänomene darstellbar und messbar sind. Ich bin der Überzeugung, dass im Trennen der res cogitans und res extensa sowohl im sozialen Leben als auch im individuellen Bewegen der Gedanken, also im Erwägen, Einschätzen, Gegenüberstellen, Vergleichen, Beurteilen und Urteilen, die Weisheit vom Menschen liegt und nicht in der oberflächigen Gleichsetzung der geistigen Prozesse im Menschen mit dem Funken und Knistern zwischen den Nervenzellen im Gehirn. Das Verständnis des subjektiven Erlebnisgehaltes der mentalen Zustände ist eine zentrale Kategorie der Philosophie des Geistes und ist absolut nicht mit den Mitteln der Neuro- und Kognitionswissenschaften zu erklären. Die neuronalen Korrelate von Erlebnissen sind natürlich nicht uninteressant als Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung. Sie können aber nur eine Seite dieser Phänomene bleiben und so müssen sie auch erkannt und definiert werden, sonst führte diese einschränkende pseudowissenschaftliche Annahme, die neuronalen Korrelate sind alles, zur Trivialisierung der Begriffe und der Erklärungen, die nicht annähernd die Natur des Bewusstseins beleuchten könnten.

Wenn tatsächlich eine einzelne Entscheidung, etwa die Hand zu bewegen, doch noch irgendwie messbar und das zeitliche Verhältnis zur Ausführung des Befehls feststellbar ist, verhält es sich anders mit komplizierten und komplexen Entscheidungsprozessen, die sich über Jahre hinziehen können und bei dem Zustandekommen des Ergebnisses verschiedene Erkenntnisse und Überlegungen – frei – berücksichtigen werden möchten. Auch das, was wir moralische Entscheidungen nennen, wird grundsätzlich frei getroffen. Der Grund für die freien Entscheidungen wird jedoch früher gelegt: Die Verschaltungen, die Synapsen – sie müssen sich gebildet haben. Wie kommen diese zustande?

Ich habe schon erwähnt, was zu Entstehung und Vermehrung der Verschaltungen führt: Das Denken und Erleben. Konkret geht es hier um die vielen Vorgänge und Prozesse wie z. B. Erziehung und Selbsterziehung, Beschäftigung mit der bildenden Kunst, mit Literatur und Musik, das Zusammenleben mit den anderen Menschen. In den Prozessen der Erziehung, der Selbsterziehung, im Erfahren der Welt, im Austausch mit Anderen, durch das Lernen und Nachdenken, durch geistige Prozesse also, entstehen Verschaltungen im Gehirn. Deren Inhalte bleiben erhalten, sie bleiben zum Teil auf der Oberfläche, also im Bewusstsein, zum Teil werden in das Unterbewusstsein verschoben. Mit der Zeit werden sie zur „zweiten Natur“ einer Person. Im Falle einer Entscheidung greift das menschliche Ich auf die fertigen, mühsam vorbereiteten Vorgaben oder aber das Unterbewusstsein meldet sich von selbst. Ich kann es mir sehr gut vorstellen, dass es im Gehirn regelrecht blitzt und knistert, wenn wir uns anschicken, eine Entscheidung zu treffen und das „Gelernte“ zu erinnern. Dieses „Blitzen“ und „Knistern“ – das ist eventuell (und sehr wahrscheinlich) das, was im Hirn-Scanner sichtbar und darstellbar wird.

Das Erarbeiten des Wissens- und Erfahrungsnetzes, was oft vom Leben aufgezwungen wird, also in dem Sinne nicht gewollt initiiert, ist gerade das, was der Mensch frei gestallten kann. Bin ich bereit großzügig zu vergeben? Oder verharre ich auf der Forderung einer Genugtuung? Oder meine ich sogar, dass ich Rache nehmen darf und sogar muss? Das gerade kann jeder Mensch frei entscheiden! Er muss es nur wollen. Er muss verstehen, warum es wichtig ist, an sich selbst zu arbeiten und zwar ein Leben lang. Aber dann, wenn die Zeit der Prüfung kommt, greift er auf diese fest verankerten Überzeugungen und Einstellungen. Der Mensch handelt also frei und unfrei zugleich. Seine Arbeit an sich selbst ist frei. Jedoch die frei erarbeiteten Ansichten und Einstellungen determinieren im hohen Maße sein späteres Handeln.

Bei dieser inneren Arbeit muss man sich frei machen vom Einfluss der Anderen, der Politiker, verschiedener Verführer, aber auch Menschen, die von uns geschätzt und geliebt werden. Es ist wichtig, sich beraten zu lassen, fremde Meinung zu hören, dies abzuwägen und zu überlegen; die Schlussfolgerung muss jedoch eindeutig eine eigene sein. Nur in Diesem und in Solchem ist der Subjekt wirklich frei.

Ohne die Mühe, echte, eigene Überzeugungen zu schaffen, kann der Mensch nicht frei sein. Entweder handelt er nach „Vorgaben“ seines Temperaments, seiner Gelüste, Wünsche und Begehren oder er orientiert sich daran, wie die Umgebung sich verhält. Weder die eigene angeborene Natur noch die Umgebung lassen uns frei entscheiden.

Nur die eigene Bemühung schafft es. Der Mensch kann frei wählen, ob er ethisch handeln will oder nicht. Um frei entscheiden zu können, muss er sich um die Erkenntnis von ethischen und unethischen Meinungen und Handlungen, also vom Gut und Böse bemühen. Wenn er Gut und Böse nicht unterscheiden kann, entscheidet er auch nicht frei, auch wenn er das im Moment der Entscheidung glaubt!… Zu oft ist es alles andere als einfach…

Wenn auch viele physiko-chemischen Prozesse im Gehirn darstellbar sind, so ist  weder die Qualität dieser Prozesse noch die Qualität der entstehenden körperlichen Korrelate in ihrer Natur im Rahmen der Neurobiologie erkennbar und erklärbar. Die elf kühnen Wissenschaftler spielen darauf in ihrem Manifest an: „Aller Fortschritt wird aber nicht in einem Triumph des neuronalen Reduktionismus enden. Selbst wenn wir irgendwann einmal sämtliche neuronalen Vorgänge aufgeklärt haben sollten, die dem Mitgefühl beim Menschen, seinem Verliebtsein oder seiner moralischen Verantwortung zu Grunde liegen, so bleibt die Eigenständigkeit dieser ‚Innenperspektive‘ dennoch erhalten.“ Ja, man braucht unbedingt ein Türchen bei so viel Nonsens, sonst könnte jemand den Autoren die Fuge von Bach oder die „Divina Commedia“ um die Ohren hauen…

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