• Kairos

In Kroatien, in der Stadt Trogir, in dem kleinen Museum des Nonnenklosters St. Nikolaus findet sich eine Darstellung des Gottes der günstigen Gelegenheit, des Kairos. Es ist die einzige Darstellung aus der Antike, die erhalten geblieben ist. Das Relief zeigt den Wagenlenker eines leichten, schnell fahrenden Pferdewagens. Nicht nur das schnelle Pferd, auch die Flügel an Kairos’ Füßen …

Kairos-Relief, römische Kopie des Originals von Lysippos (Hofbildhauer von Alexander dem Großen)

CHRONOS ist Gott der vergehenden Zeit, der Zeitenfolge, KAIROS – der günstigen Gelegenheit, der besonderen Chance

Kairos von Francesco Salviati

… bedeuten uns, dass er unterwegs ist und nicht lange bei uns verweilen wird. Mit seiner seltsamen, üppigen und in die Stirn fallenden Haarmähne sowie dem kahlen Hinterkopf hat es seine Bewandtnis: Der Haarschopf ist es, an dem wir, Erdenmenschen, die schnell vorbeieilende Gottheit packen können und müssen, um die einmalige Chance nicht zu verpassen, die sich uns in dem gleichmässigen Zeitverlauf, der Domäne des Chronos, in den Weg stellt. An dem kahlen Hinterkopf lässt sich Kairos nicht packen: Er ist vorbei! Sie ist vorbei, die Chance… Wir waren nicht schnell genug, nicht wach, wir ließen den flügelfüssigen Gott entkommen… Er kommt nicht zurück, er kommt nicht noch einmal… Eine zweite Chance gibt es nicht.

Poseidippos (3. Jahrhundert v. Chr.) hat ein Epigramm auf Kairos verfasst, übersetzt von J. Gründel:
„Wer bist du?
Ich bin Kairos, der alles bezwingt!
Warum läufst du auf Zehenspitzen?
Ich, der Kairos, laufe unablässig.
Warum hast du Flügel am Fuß?
Ich fliege wie der Wind.
Warum trägst du in deiner Hand ein spitzes Messer?
Um die Menschen daran zu erinnern, dass ich spitzer bin als ein Messer.
Warum fällt dir eine Haarlocke in die Stirn?
Damit mich ergreifen kann, wer mir begegnet.
Warum bist du am Hinterkopf kahl?
Wenn ich mit fliegendem Fuß erst einmal vorbeigeglitten bin,
wird mich auch keiner von hinten erwischen
so sehr er sich auch bemüht.
Und wozu schuf Euch der Künstler?
Euch Wanderern zur Belehrung.“

Chronos, die Personifizierung der Zeitenfolge, des Zeitabschnitts, des Zeitverlaufs nimmt sich selbst dann zurück, hält inne, wenn Kairos, die Inkarnation des Augenblicks, des Zeitpunktes in der Erfüllung des Schicksals an den Menschen herantritt: Um eine Wende oder eine neue Qualität in das Leben zu bringen. Eine horizontale Perspektive, die durch eine Vertikale geschnitten wird. In den Zeitenlauf der Menschheit im Allgemeinen und in den Lebenslauf des Individuums im Besondern stellt sich blitzartig ein fremder Wille, das Los. Kairos, ein Gott. Oder ist es für uns ein Engel, ein Schutzpatron? Der ganz und gar irdisch erscheint – in der Gestalt eines Menschen?

Das Bemerkenswerte jedoch an dieser Situation – die jeder Mensch kennt – ist das, dass ohne unser Zutun, also ohne das Bewusstsein und ohne unseren eigenen Willen, der mit dem Willen des Schicksals mitgeht, ohne eine schnelle Entscheidung dafür, ohne die Wachsamkeit, diese Gelegenheit nicht am Schopf gepackt werden wird: Schon ist der Gott des Augenblicks an uns vorbei geeilt! Die Chance ist verpasst, die helfende Hand nicht ergriffen…

Kairos erscheint aber in unserem Leben nicht nur als eine Chance, glücklicher Zufall, besondere Gelegenheit. Er stellt sich auch als Krise dar und da ist er nicht mehr so schnellfüßig, da wird er sich bei uns ausruhen, bis die Krise ausgestanden ist, bis wir die Lektion gelernt haben, bis die Krise uns gezwungen hat, eine Wahl, eine Entscheidung zu treffen, neue Wege zu gehen. In einer Krise bleibt er  beharrlich bei uns… Eine Krise ist aber dank Kairos nicht als Pech zu sehen, eher als notwendiger Knotenpunkt in unserem Leben.

Das Erscheinen des Gottes der besondern Chance in unserem Leben betrifft nicht immer unmittelbar unser eigenes Schicksal: Es kann als Auftrag verstanden werden, den wir für andere zu erfüllen haben. Auch hier gilt die Forderung nach besonderer Aufmerksamkeit, denn durch Unterlassen einer Handlung berauben wir eine andere Person der besonderen Chance und wir selbst verbinden uns durch das Nicht-Vergessen-Können der eigenen „Unterlassungssünde“ auf eine unglückliche Weise mit diesem Menschen, dem wir unsere Hilfe vorenthalten haben.

Kairos ist auch ein Begriff aus der Theologie. Die Worte aus dem Matthäus-Evangelium: „Seid wachsam, denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt! […] Haltet euch bereit, denn zur unvorhergesehener Stunde kommt der Menschensohn!“ (Mt 24, 37-44) sind trotz der ihnen innewohnenden Herausforderung, ein Ausdruck der Hoffnung für uns Menschen und der Liebe der göttlichen Welt zu uns Menschen.

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