• Wiera, Nadjeschda, Ljubow…

Nach Tschita sind die Dekabristen verbannt worden. Russische Offiziere, Adelige, die Napoleon bis nach Paris verfolgt und besiegt haben. Zurück in Russland, vom Geist der Freiheit angesteckt, verschwören sich diese jungen Männer gegen die Macht des Zaren und wollen die Freiheit, die sie im verfeindeten und doch so bewunderten Frankreich geatmet haben, …

Fragment einer Ikone aus der Stadt Wielikij Nowgorod, einer im Mittelalter sehr modernen Stadt, XIV. Jahrhundert, gemalt wahrscheinlich vom Theophanes von Griechenland, der in Russland den spätbysantinischen Stil der bewegten Komposition einführte und Meister von Andrej Rubljow war

… in die Höfe und Hütten ihres Vaterlandes tragen. Sie scheitern, die wichtigsten Köpfe der Verschwörung fallen, alle anderen Aufständischen werden verbannt. Nach Tschita eben, eine damals kleine Stadt, 6500 Kilometer von Moskau entfernt. Was zu dieser Zeit im Zarenreich üblich ist und was uns heute doch ein wenig verwundert: Die Ehefrauen dürfen ihre Gatten in die Verbannung begleiten.

Obschon ihr Aufstand nicht die geringste Chance auf Erfolg hat, sind sie, bewundert und von Dichtern besungen, in den folgenden Jahrzehnten ein Vorbild für alle, die in das verkrustete Zarenreich neue Ideen tragen wollen. Alexander Puschkin sendet den Freunden in die Verbannung ein Gedicht, das mit diesen Worten beginnt:

Tief in Sibiriens Schächten sollt
Ihr stolz das schwere Schicksal tragen
Denn nicht vergeht, was Ihr gewollt,
Nicht Eures Geistes hohes Wagen.

…und mit diesen Worten endet:

Die Fesseln fallen Stück für Stück,
Die Mauern brechen. Freies Leben
Begrüßt Euch freudig, und es geben
Die Brüder Euch das Schwert zurück.

Heute ist Tschita nicht nur eine Industriestadt nahe der Grenze zu China. Die alte unrühmliche Tradition eines Verbannungsortes lebt in der Stadt fort. In Tschita selbst und in Lagern in der Umgebung leben unter sehr schwierigen Bedingungen nach wie vor tausende Gefangene. Die meisten sind gewöhnliche Kriminelle. Aber auch Menschen, die in Konflikt mit der Zentralmacht geraten sind, werden hier gefangen gehalten.

Damals, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie schon erwähnt, haben die Frauen ihre Männer begleiten dürfen, was diesen Menschen den Anschein einer zwar kargen, aber immerhin einer Normalität verliehen hat. Nicht so heute.

Der bekannteste Gefangene in Tschita heute ist, und das schon seit vielen Jahren, Michail Borissowitsch Chodorkowskij.

Der hochbegabte und später sehr erfolgreiche Geschäftsmann erkennt früh die Zeichen der Zeit und beginnt noch als Student in der zweiten Hälfte der 80er Jahre eine Tätigkeit, die es ihm ermöglicht, Kapital zu sammeln. Das Geld erlaubt ihm, sich in den 90er Jahren an der Privatisierung der Industrie in Russland zu beteiligen. Er kauft vom Staat die hochverschuldete und ineffizient arbeitende Ölfirma Yukos, die dank seinem Management innerhalb weniger Jahre ihren Wert auf 30 Milliarden Dollar steigert. In seinem Konzern führt er eine für russische Verhältnisse ungewöhnliche Transparenz ein, er holt außerdem das moderne know-how der westlichen Firmen in sein Haus. Mehr noch – er lässt seine Firma von westlichen Wirtschaftsprüfern durchleuchten.

Aber Chodorkowskij beschränkt sich nicht darauf, das Geld zu vermehren und es weiter zu investieren. Er entwickelt sich zum modernen Kapitalisten, der sein Vermögen nicht hortet, sondern für gemeinnützige Zwecke ausgibt. Damit nimmt er eine Vorreiterrolle in der russischen Gesellschaft ein. Er unterstützt die liberale Oppositionspartei Jabloko, viele Politikwissenschaftler und Studenten. Er gründet nicht nur die bekannte Stiftung Offenes Russland, auch andere Institutionen wie Schulen und Krankenhäuser. Nicht nur, um sein Image als Oligarch zu verbessern, sondern tatsächlich um einen neuen Arbeits- und Lebensstil unter den Millionären und Milliardären einzuführen und zu etablieren. Bei ihm ist innerhalb weniger Jahre eine Metamorphose vom Oligarchen – ein Wort mit einer ausgesprochen pejorativen Bedeutung – zu einem modernen, gesellschaftlich und sozial überaus interessierten Wirtschaftsführer in einer globalisierten Welt zu beobachten.

Die Schule mit Internat – ein Beispiel für sein soziales Engagement – die er 40 km von Moskau entfernt gründet, verbindet eine Erziehung und Bildung für die Zukunft mit dem Schaffen einer häuslichen Atmosphäre für Kinder, von denen die meisten Waisen sind, oft schwer traumatisiert. Da sind Erzieher und Psychologen, Lehrer und der pädagogische Rat, die den Kindern helfen, ihre Traumata zu überwinden und neue Ziele für das Leben zu finden. Die wahre Seele der Schule ist jedoch Marina Chodorkowskaja, Mutter von Michail, die ganz und gar inoffiziell die Rolle einer Babuschka für alle Kinder erfüllt. Zu ihr kommen die Kinder, wenn sie Trost suchen, es fällt ihnen leichter statt den Lehrern oder Psychologen, ihr das Leid zu klagen.

In ihren Gründungsjahren, als das Geld von Michail noch reichlich fließt, hilft die Schule ihren Schützlingen bis über die eigentliche Schulzeit hinaus. Heute, nach der Zerschlagung von Yukos und dem Einfrieren des Vermögens von Chodorkowskij müssen der Schule ausländische Sponsoren helfen, damit sie ihre eigentliche Tätigkeit aufrechterhalten kann. Die Abiturienten sind nach dem Verlassen der Schule jedoch auf sich allein gestellt.

Auch die Moskauer Universität hat von seinen üppigen Spenden profitiert: Der Milliardär hat sie jahrelang mit insgesamt 100 Millionen Dollar unterstützt. Das bekannte Tschechow-Theater und viele Kulturzentren in der Provinz wurden durch ihn finanziert. Dort, wo Yukos unter Chodorkowskijs Führung Ölbohrungen durchführte und wo er unzählige Institutionen unterstützte, hat er bis heute den Status eines Heiligen…

Zum Verhängnis wird Chodorkowskij sein politisches Engagement, Unterstützung der Opposition, vielleicht seine eigenen politischen Ambitionen. Das ist den Moskauer Machthabern endgültig zu viel: Chodorkowskij und einige Mitarbeiter von Yukos werden verhaftet, warten lange auf ihre Prozesse in Untersuchungshaft. Ihm selbst wird massive Steuerhinterziehung zur Last gelegt, wobei das Yukos-Vermögen eingefroren wird und somit die Forderungen des Staates nicht erfüllt werden können. Er wird zu 9 Jahren Lager verurteilt, Yukos wird zerschlagen und wieder verstaatlicht.

Chodorkowskij hat sich geweigert, ins Ausland zu gehen, diesen Weg zu beschreiten, den andere in Ungnade gefallene russische Industrielle vor ihm gegangen sind. Er hat sein geliebtes Russland nicht verlassen wollen, außerdem wäre Emigration in seinen Augen – und in Augen vieler anderen – ein Schuldeingeständnis. Darüber hinaus ist in ihm die Hoffnung auf seine eigene Zukunft in Russland keineswegs gestorben.

Die Frage ist nur, was seine Gegner mit ihm vorhaben. Wollen sie ihn vernichten, psychisch und physisch? Oder wollen sie nur andere, die sich für eine Modernisierung des Landes einsetzten, warnen? Er sitzt hinter Gittern, früh gealtert, nicht zuletzt durch den Hungerstreik, in den er getreten ist, um eine Behandlung seines sterbenskranken Freundes und ehemaligen Mitarbeiters zu erzwingen, der in einem Moskauer Gefängnis sitzt. Wassilij Aleksanjan, so sein Name, lehnt es ab, gegen Chodorkowskij auszusagen, deshalb wird ihm die medizinische Behandlung verwehrt. Nein, ich glaube nicht, dass man diese Menschen mit solchen Maßnahmen brechen kann.

Ich suche keine billigen Vergleiche zwischen Chodorkowskij und den Dekabristen, genauso unsinnig ist es, ihn etwa mit Sacharow zu vergleichen, was – für mich sehr enttäuschend – ein Kenner dieser komplizierten Problematik, der Zeit-Journalist, Johannes Voswinkel, tut. Besonders missfällt mir Voswinkels falsche und herabsetzende Einschätzung, Chodorkowskij sei nicht die moralische Größe wie Sacharow es gewesen. Ich sehe es so: Jede Epoche der russischen Geschichte kennt Menschen, die sich der Zentralmacht zu entziehen suchen: Im 17. Jahrhundert die Novgoroder Bojaren, die von der Opritschnina dezimiert worden sind, die Dekabristen sind es im 19. Jahrhundert, die Revolutionäre – im 20. Jahrhundert, die intellektuellen Dissidenten in der kommunistischen Zeit. Heute sind es, und können es nur sein, das muss man unterstreichen, Industrielle, Politiker oder Journalisten. Leider liegt es in der Natur der Sache, dass weder den Kapitalisten noch den Politikern handeln aus moralischen Beweggründen unterstellt wird, daher die Einschätzung Voswinkels. Versuchen wir es, unser Denken in dieser Hinsicht zu ändern!

Der damalige Ort der Verbannung von Dekabristen und der heute von Chodorkowskij, Tschita, lässt einen Vergleich zwischen diesen Ereignissen ziehen. Auffallend ist, dass in der Sache der Gefangenenbehandlung ein krasser Kontrast, eine Verschlechterung,  zwischen früher und heute zu beobachten ist: Wie schon erwähnt, sind die damaligen Revolutionäre in Tschita nicht allein auf sich gestellt: Ihre Ehefrauen hatten ihnen folgen dürfen und sie alle hatten ein unter diesen besondern Umständen mehr oder weniger normales Leben führen können. Nicht so Chodorkowskij. Er lebt in einer Zelle, wie ein gewöhnlicher Krimineller – so soll er auch wahrgenommen werden! – und nur ein Mal im Monat darf seine Familie ihn besuchen. Seine Mutter und die Ehefrau besuchen ihn abwechselnd für die Dauer von drei Stunden – nach acht Stunden Flug. Von diesen drei Stunden geht eine dafür verloren, den Passierschein mit allen verlangten Unterschriften zu bekommen und für den Weg vom Eingangstor bis zu dem Raum, in dem sie sprechen können. Frei sprechen können sie ohnehin nicht, denn immer sitzt ein Wächter mit am Tisch. Nicht einmal die Hand darf die Mutter ihrem Sohn geben…

Sie halten diese Situation aus. Wie die Dekabristen erduldet auch Chodorkowskij standhaft die Verbannung, nicht Strafe, denn die Vorwürfe sind fadenscheinig, sein Prozess und seine Isolation sollen dem Einschüchtern aller anderen Menschen mit politischen Ambitionen dienen. Wie die Dekabristen, die seit zwei Jahrhunderten unzähligen Menschen als Vorbild dienen, ebenso sucht dieser politische Gefangene sein unglaublich tapfer ertragenes Leid in den Dienst für Russland zu stellen. Aus einem Wirtschaftsboss ist erzwungenermaßen jetzt ein Wirtschaftstheoretiker geworden, der seine Analysen der wirtschaftlichen und politischen Lage in Russland verfasst. Und er zweifelt dabei nicht an der Sinnhaftigkeit seines früheren und derzeitigen Tuns.

Wiera, nadjeschda, ljubow…

* * *

März 2010: ich habe etwas sehr Interessantes gefunden: Briefwechsel, Ljudmila Ulickaja und Michail Chodorkowskij: Briefe aus dem Gefängnis – „Am wichtigsten ist die Selbstdisziplin“

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• Causa Steinbach – Anmerkungen

Es geht hier um ein Problem, das ich eigentlich nie zum Thema eines meiner Aufsätze machen wollte. Da ich jedoch die Empfindlichkeiten beider Seiten in dem Konflikt um Erika Steinbach nicht nur gut verstehe, sondern auch lebhaft nachempfinden kann, will ich zu dem in letzter Zeit viel diskutierten Phänomen Erika Steinbach Stellung nehmen.

Ich muss hier vorausschicken, dass ich das schwere Schicksal des überfallenen und okkupierten Polens und der später aus Schlesien, Sudetenland, Pommern und Ostpreußen vertriebenen Deutschen in unmittelbarer historischer Nähe erlebt habe. Ich bin zwar schon nach dem Krieg geboren, die Kriegsereignisse und -erlebnisse waren aber allen noch frisch im Gedächtnis und die Erzählungen darüber ein ständiger Begleiter meiner Kindheit und Jugend sowohl in der Familie als auch in der Schule. Wenn man auch in den Staaten der sowjetischen Einflusszone über die Vertreibungen offiziell nicht viel gesprochen hatte, waren sie sicher ein Thema in den Familien, die mit diesen Ereignissen in Berührung kamen. Auch in meiner Familie, die vom Krieg und der Okkupation schwer betroffen war, ist eine Urgroßtante, eine österreichische Dichterin, eine alte Dame, im Zuge der Vertreibungen aus dem Sudetenland in einem Racheakt, ohne persönliche Schuld, brutal ermordet worden.

Es waren nicht nur zerstörte Biografien, nicht nur der individuelle und kollektive Verlust der materiellen und geistigen Güter: Eine der schlimmsten Folgen des von Hitler entfachten Krieges ist die Vernichtung der deutschsprachigen Kultur im Osten Europas. Kein Stein ist auf dem anderen geblieben… Was ist aus Czernowitz geworden? Wo sind die neuen Kafkas und Roths? Entweder nie geboren oder sie bereichern heute die amerikanische Kultur…

Gerade das historische Gedächtnis ist für mich Grund genug, durch Erika Steinbachs Treiben beunruhigt zu sein, denn sie tut mit ihren Aktivitäten keiner Seite einen Gefallen, den Deutschen aber am wenigsten.

Erika Steinbach ist eines gelungen: Sie hat den bösen Geist der Vergangenheit aus der Flasche befreit. Und keiner vermag ihn wieder in die Flasche zu zwingen. Dieser Geist steht für die Bereitschaft, für die Neigung sowohl in der Generation der Täter als auch in der unmittelbar nachfolgenden, schreckliche, beschämende, peinliche, den eigenen Wert und Wertgefühl mindernde Taten der Mitglieder der eigener Nation zu verdrängen, zu banalisieren, zu vergessen und im schlimmsten Fall der ehemaligen Gegenseite zuzuschieben, was aber bei der Gegenseite auf entschiedenen Widerstand stößt.

So ist es auch geschehen. Die dritte Generation der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg charakterisiert sich in Bezug auf die Verbrechen des Krieges durch eine illusionäre Vorstellung, die eigenen Großeltern waren entschiedene Nazigegner und haben die Verfluchten dieser Zeit geschützt und unterstützt. Diese Feststellung, sie ist keine bloße Behauptung, sie ist vor einigen Jahren in einer Rede vor dem geladenen Publikum im Hessischen Landtag von Salomon Korn, dem Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, gemacht worden. Er konnte sie mit statistischen Daten aus Befragungen und anderen Erhebungen stützen. Ein überaus interessantes Phänomen, diese Umdeutung! Und es verdient, dass energisch gegengesteuert wird.

Wer ist eigentlich Erika Steinbach als Politikerin? Sie ist erst verhältnismäßig spät politisch aktiv geworden; es war gar nicht ihr Wunsch, sich auf diesem Gebiet zu betätigen. Sie, musisch hochbegabt, sollte Geigerin werden. Eine Erkrankung verhinderte die Karriere…

Erst im Jahre 1998 hatte Frau Steinbach mit dem „Berliner Appell“ auf sich aufmerksam gemacht. Sie nannte für Polen und Tschechien bestimmte Voraussetzungen, deren Erfüllen sie als Bedingung für den Beitritt in die Europäischen Union verstand. Entschuldigung, Entschädigung der Vertriebenen und Rückkehrrecht, auch für die Nachkommen, in die einstige Heimat – das waren schon damals die Stichworte.

Bezeichnenderweise in der Zeit nach dem Kosovo-Krieg, als es im Südeuropa massenweise zu Vertreibungen kam, hatte Erika Steinbach das Thema aufgegriffen und in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 26. August 1999 die Regierungen der europäischen Staaten dazu aufgefordert, die Aufnahme Polens und Tschechiens davon abhängig zu machen, dass diese zuerst zur Heilung der Wunden, die durch das Verbrechen der Vertreibung geschlagen worden seien, einen Beitrag leisteten. Oft zitiert ist in diesem Kontext ihre Aussage, es liege im Interesse der Europäer die hohe Wertschätzung der Menschenrechte nicht durch Länder wie Polen und Tschechien entwerten zu lassen. „Es bedarf keiner Flugzeuge“, schrieb sie damals wörtlich, „ein schlichtes ‚Veto‘ zur Aufnahme der Uneinsichtigen ist ausreichend.“ 

Frau Steinbachs Äußerungen, die so mutig sind wie sie selbst ist und die sie in die Welt sendet, sind von der Art der „medialen Fakten“, die in der Lage sind, das Bewusstsein der Empfänger so zu beeinflussen wie die Tatsachen selbst. Diese so genannten medialen Fakten erfordern scharfe Aufmerksamkeit, denn es würde nicht lange dauern und diese Worte, dadurch dass sie sich ins Bewusstsein der Menschen festgraben, eine neue vergangene Realität schaffen würden. Es gilt, dies abzuwehren. Eine schwierige Sache, denn Frau Steinbach ist einerseits darauf bedacht, politisch korrekt zu sprechen, anderseits können ihre offenen Provokationen immer als ihre eigene Meinung gelten. Es lohnt sich, hier einige von ihren Äußerungen zu zitieren und auf gewisse Handlungen aufmerksam zu machen:

– „Polen fürchtet nicht die Umdeutung der Geschichte. Polen fürchtet die Wahrheit.“

– „Ein Opferverband hat nicht die Aufgabe, diplomatisch zu sein.“

– Auf die Anmerkung, dass das, was in Deutschland „Vertreibungen“ heißt, in Polen „Umsiedlungen“ heißt, antwortet sie am 5. September 2006 im DLF:  „Sie müssen davon sprechen, was ihr Wortschatz hergibt. (…) Wie die Polen es bezeichnen, ist letztlich unerheblich. Bei uns in Deutschland nennen wir es ‚Vertreibung‘ und unsere Sprache hat einen großen Wortschatz und ist sehr reichhaltig.“ Wie nennt man so etwas? Kulturrassismus?

– Polen sei ein „Vertreiberstaat“. Als solcher müsste es sich für die Vertreibungen entschuldigen, den Vertriebenen Rückkehrrecht  garantieren und/oder das im Osten verlorene Vermögen entschädigen. „Sie sollen sich ihrer Verantwortung stellen.“ Steinbach votiert im Jahr 1990 im Bundestag gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze.

– 2003 verklagt Steinbach exemplarisch Gabriele Lesser, eine freie Journalistin, wegen eines kritischen Kommentars, zu dem von Steinbach geplanten „Zentrum gegen Vertreibungen“ („Kieler Nachrichten“, 19. September 2003). Es waren viele deutsche Korrespondenten und auch einige Publizisten in Deutschland, die kritische Kommentare dazu schrieben, dennoch wurde nur Lesser mit einer durch Erika Steinbach angestrengten Klage konfrontiert. Den Streitwert hatten Steinbach und ihr Anwalt auf 60 000,- Euro beziffert! Man versuchte damit eine freie Journalistin, hinter der kein großes Verlagshaus stand, das die hohen Kosten eines Gerichtsverfahrens hätte tragen können, nicht nur einzuschüchtern, sondern auch wirtschaftlich zu vernichten.

– „Ohne Hitler, ohne den Nationalsozialismus hätten all die Wünsche, Deutsche zu vertreiben, die es in der Tschechoslowakei (…), die es in Polen schon davor gegeben hat, niemals umgesetzt werden können.“ (Zitiert nach FAZ, 4. März 2009 und DLF, 5. September 2006.)

– Die ursprüngliche Idee war, dass das geplante Zentrum gegen Vertreibungen als Pendant zum Holocaust-Mahnmal wahrgenommen werden sollte. Steinbach begründete es damit, dass in der ersten Phase des Krieges die Juden auch Vertreibungsopfer gewesen seien. So die „Leipziger Zeitung“ vom 29. Mai 2000: „Im Grunde genommen ergänzen sich diese Themen Juden und Vertriebene miteinander. Dieser entmenschte Rassenwahn hier wie dort, der soll auch Thema in unserem Zentrum sein.“ Das ist Revisionismus pur.

– Steinbach, geboren im Juli 1943 im okkupierten Polen als Tochter eines aus Westdeutschland stammenden Besatzungsunteroffiziers, noch dazu in einem Gebiet, aus dem zuvor die Polen von den Deutschen im Zuge der Neuordnung der unterworfenen Gebiete vertrieben wurden, versteht sich selbst als Vertriebene. Als diese Tatsache publik wird und Steinbach mit Fragen konfrontiert wird, ist ihre Antwort – ich gebe es frei wieder –, man müsse keine Robbe sein, um sich für Robben einzusetzen. Immerhin ein Fortschritt, denn bis dahin hat sie sich als Vertriebene ausgegeben…

Ihre Vertriebenenbiografie entsprang also eher der Dichtung als der Wahrheit… Es sind gerade die Lügen und Halbwahrheiten, die so viel Widerstand in Polen hervorrufen. Dass ihre Aussagen zwingend polnische Reaktionen provozieren, nimmt Steinbach bewusst und wollend in Kauf. Sie geht auf Konfrontation, aber die provozierten scharfen Reaktionen der polnischen Seite bezeichnet sie dann als Aggression und Hysterie.

Damit ist die jahrzehntelang erfolgreich betriebene „Versöhnungsarbeit“ zunichte gemacht und alte Wunden sind aufgerissen worden, eine Menge Misstrauen ist entstanden. Die bewundernswerte, vom Mitgefühl getragene Hilfe, die die Deutschen den Polen in der Zeit des Kriegszustandes in den 80er Jahren angedeihen ließen, die einen wirklichen Durchbruch in der polnischen Wahrnehmung der Deutschen bewirkt hatte, verliert jetzt ihren Stellenwert, denn die Erscheinung Erika Steinbach und die Wirkung ihrer Worte hat zur Zeit die Kraft, das Gute aus dem Gedächtnis zu tilgen. Das Vertrauen ist sowohl im polnischen Volk als auch unter den Intellektuellen im hohen Masse zerstört.

Von Sympathisanten Frau Steinbach wird dieser Konflikt als Zeichen der polnischer Überempfindlichkeit abgetan.

Noch eimal die Worte: „Ohne Hitler, ohne den Nationalsozialismus hätten all die Wünsche, Deutsche zu vertreiben, die es in der Tschechoslowakei (…), die es in Polen schon davor gegeben hat, niemals umgesetzt werden können.“ Diese Worte werden in der FAZ vom 4. März 2009, in dem Artikel „Anerkennung und Verzicht“ ungewöhnlich milde kritisiert: „Das war politisch nicht ganz korrekt, um es vorsichtig (Hervorhebung von mir) zu sagen. Frau Steinbach leistet sich eine eigene Geschichtsbetrachtung jenseits des hierzulande Üblichen.“ Warum bleibt die Redaktion eigentlich so vorsichtig? Warum findet der Autor keine nachdrücklichen Worte? Gut, dass die FAZ es doch von lauter Bewunderung für Erika Steinbach nicht vergessen hat, sich von ihren kruden Ansichten zu distanzieren.

Eine Distanzierung, auch wenn sie hier sehr, sehr blass daher kommt, ist ausschließlich in der Politik ausreichend. In der Geschichtswissenschaft genügt sie nicht, denn solche leisen Worte können nicht adäquat einem medialen Faktum entgegentreten. Die Intention, die Geschichte umzuschreiben und die Deutschen zu den Opfern einer von langer Hand geplanten Aggression zu stilisieren, könnte sich verwirklichen.

„Polen sehe sich als Opferstaat“, so Steinbach. „Für das Land sei es nun schmerzlich, erkennen zu müssen, dass man auch Verantwortung für das Leid von Millionen Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg trage“, schreibt weiter FAZ. Über die Debatten in den polnischen Medien müssten sowohl die großen Zeitungen als auch Frau Steinbach eigentlich informiert sein… Aber es findet sich in der deutschen Presse kein Wort darüber. Auch das Verschweigen einer Tatsache in den Medien ist ein mediales Faktum

In dem ganzen Treiben Frau Steinbach bleibt für mich eine wichtige Frage offen: Warum sie, so mutig wie sie ist, es nicht gewagt hat, sich mit der russischen Regierung anzulegen und Entschädigung oder anders geartete Verantwortung für die Leiden der Enteigneten, Vertriebenen, Vergewaltigten und Entrechteten zu fordern? Ist es einfacher und ungefährlicher mit Polen solches Spiel zu treiben? Das alles zeigt, dass es dieser Frau im Grunde nicht um die Vertriebenen geht, sondern darum, in Berlin politische Spur zu hinterlassen. Die Kosten dieser Kampagne, die sie schon seit über elf Jahren veranstaltet, sind ihr dann egal.

Es ist ein besonderes Schicksal, als begabte Geigerin durch eine Krankheit verhindert worden zu sein und letztendlich in einem, harten, unwürdigen aber präzise durchgeführten Kampf, die Erfüllung gefunden zu haben. In ihrem zweiten Beruf zeigt sich Steinbach nicht minder begabt, eine echte Virtuosin. Nur… Da war das Schicksal weise: Wie wäre es sonst möglich gewesen, dass eine Frau, mit dieser Begabung für Propaganda, Verdrehung und mit der Neigung zur Lügenhaftigkeit, auch nur annähernd die große, von einem ganz anderen Geist geschaffene Musik, eine Kunst, die keine seelische Niedertracht verträgt, den Menschen hätte schenken können?

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• „Verein und leite!“ – über Barack Obama

Geschrieben in der Wahlnacht im November 2008

Ganze Völker oder Nationen erleben immer wieder in ihrer Geschichte Zeiten des Neubeginns. Nach Kriegen oder Revolutionen, noch besser: nach überwundenen Revolutionen finden die Menschen titanische Kräfte, um Zerstörtes neu aufzubauen, neue Prozesse anzustossen und Altes und  Kompromittiertes definitiv hinter sich zu lassen. So hatte es sich vor einer Generation in Europa abgespielt, so erleben wir es aktuell in Amerika.

Die Vereinigten Staaten unterscheiden sich jedoch von allen anderen Ländern dadurch, dass jegliche systemische Veränderungen nicht nur ihre Welt betreffen; das Land hat eine weite Strahlkraft und dadurch, sozusagen, die Aufgabe, der Welt voranzugehen. Deshalb die Freude der anderen über jede Erneuerung dort.

Wie oft war die amerikanische Demokratie totgesagt! Wie oft waren wir oder frühere Generationen Zeugen einer scheinbaren Götterdämmerung: Ob es der Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert war, ob es große Wirtschaftskrisen waren oder dramatische Entwicklungen in der Innenpolitik wie in der Ära McCarthy oder wie neulich ein vermeintlicher Verlust der führenden Rolle in der Welt, verursacht durch die Entwicklungen in der Zeit der George-W.-Bush-Präsidentschaft. Jedoch am Ende jeder solchen Phase sehen wir erstaunt, wie eine Erneuerung aus dem Volk heraus kommt. Neue Ideen werden geboren, ein Umschwung in der öffentlichen Meinung findet statt. In den letzten 200 hundert Jahren war und weiterhin ist stets ein bedeutender Wechsel- und Zusammenspiel zwischen der politisierten Bevölkerung und den Medien, der vierten Macht, der Öffentlichkeit, zu beobachten.

Aktuell sind wir Zeugen einer fast nichtgeglaubten, trotzdem unruhig erwarteten Erneuerung der amerikanischen politischen Verhältnisse. Diese Erwartung wurde durch den Präsidentschaftswahlkampf im Jahr 2007 initiiert. Der heutige Präsident-Elekt, Barack Obama, dessen Stern im Aufstieg die erstaunte Welt seit einem Jahr beobachtet, verkörpert das, was man american dream nennt. Die Grundidee, die Phantasie des american dreams ist in der amerikanischen Verfassung verankert und aus ihr geboren. Die Grundvoraussetzung alles Amerikanischen ist, laut Verfassung, dass die Bevölkerung sich selbst eine politische Ordnung geben darf. Zur Zeit des in Europa erstarrten Absolutismus sicherte das amerikanische Grundgesetz den Menschen unveräußerliche Grundrechte, insbesondere das Recht auf Widerstand gegen die eigene Regierung zu! Aus diesem Grundrecht ist für die Menschen eine Pflicht zum politischen Engagement entwachsen. Wie sich das politische Denken in der amerikanischen Bevölkerung des XIX. Jahrhunderts gestaltet hatte, stellte ich in dem Artikel „Der Transzendentalismus“ auf diesem Blog dar.

In den letzten Monaten sind wir Zeugen einer gewaltigen Entwicklung, die den Anfang einer neuen Epoche bedeuten wird. Die bekannten Worte aus der amerikanischen Verfassung – „… dass alle Menschen gleich erschaffen wurden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt wurden …“, scheinen ihrer Verwirklichung nah zu sein. Trotz dieser kraftstrahlenden Worte war die Unabhängigkeitserklärung vom Anfang an nur ein Zukunftsprojekt, denn die Sklaverei wurde in keinem der Artikel verurteilt, obwohl man über dieses Thema heftig diskutiert hatte. Auch an diesem Beispiel zeigt sich, dass wirtschaftliche Interessen, in dem Fall die des ganzen Südens, die Menschenrechte überwogen.

Es war sogar ausgeschlossen, dass zur Zeit der Sklaverei freie Amerikaner afrikanischer Abstammung, auch die gab es, automatisch über die ihnen eigentlich aus dem Grundgesetz zustehenden Rechte hätten verfügen können! Sie waren frei, trotzdem rechtlos. Also: Gewiss nicht frei. Abgesehen davon, welche unmittelbaren Ursachen zum Ausbruch des Bürgerkrieges in Amerika führten, ohne Zweifel lag ihnen die Sklaverei zu Grunde. Es war die moralische Verurteilung dieses Zustandes, die Millionen von Menschen hatte mobilisieren können. Das Ende der Sklaverei hatte aber keine wesentliche Verbesserung der Lage der schwarzen Bevölkerung mit sich gebracht! Die fatale Lage der Afroamerikaner hatte erst nach Jahrzehnten der Rassentrennung begonnen, sich zu ändern.

Seit den sechziger Jahren des XX. Jahrhunderts ist viel erreicht worden, erst heute können wir aber sagen, der Bürgerkrieg ist definitiv beendet und alle Menschen verfügen über die ihnen in der Verfassung vom 4. Juli 1776 zugedachten Bürgerrechte.

Die Wahl des Senators Barack Obama zum 44. Präsidenten der USA ist die Quintessenz des american dreams. Nicht nur das. Seine Wahl zum Präsidenten verändert das Bild von Amerika in der Welt. Seine Hautfarbe wird die Argumente, Amerika sei rassistisch, zunichte machen. Gerade dieses Argument war lange Zeit Nahrung für alle Gegner der USA, die Terroristen des XXI. Jahrhunderts eingeschlossen.

Barack Obama verfügt über ein besonderes rhetorisches Talent, was ihn in Verbindung mit seiner außerordentlichen Empfindsamkeit in Sachen der Gerechtigkeit beliebt macht und in den Menschen jene Hoffnung stiftet, die die Kraft besitzt, die Welt zu verändern. Auch wenn man sagt, der neue Präsident verfüge nicht über viel politische Erfahrung, eine besondere und seltene in der Welt der westlichen Politiker Erfahrung hat er in seinem Leben gemacht: Seine bisherige Biographie zeigt, dass er an Orten lebte, die sich die westliche politische Klasse nicht einmal vorstellen kann. Er hat Armut und existentielle Probleme erlebt und miterlebt. Auch die von ihm selbst in seiner Kindheit und Jugend erfahrene Empathie scheint er wirklich weiter geben zu können.

Einen Vorgeschmack auf seine Präsidentschaft konnte man während des Wahlkampfes gewinnen. Das, was die ganze Welt sehen konnte, stimmt optimistisch. Was kann man also von dem neuen Mann im Weißen Haus  erwarten? Wenn ich diese Worte schreibe, muss ich an die machtpolitische Devise divide et impera denken. Worte, die eine Machtstrategie vieler Herrscher und Politiker wiedergeben. Ich habe die Phantasie, dass zu dem neuen amerikanischen Präsidenten die Worte von Johann Wolfgang Goethe, die dieser zu dem Spruch „divide et impera!“ als Alternative formulierte – „Verein’ und leite!“* besser passen. Sie könnten der Wahlspruch des neuen Präsidenten sein. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie Obama seinen Wahlkampf und seine Wahlkämpfer geführt hat, wird es deutlich, dass seine Stärken die Konzilianz, das Zusammenführen und eine hervorragende Führung der Menschen sind. Das alles ist eine gute Prognose für Amerikas Zukunft und für die Zukunft der ganzen Welt.

Allein vom guten Willen des Präsidenten hängt jedoch das Gedeihen der Welt nicht ab. Seine Klugheit muss auch dahin gehen, dass er dem amerikanischen Volk vermittelt, dass die Epoche des „self made man“ oder „self help“ und damit verbundener Vereinzelung, die sich in der Gesellschaft als eine Tendenz zum Isolationismus zeigt, der Vergangenheit angehört. Von Amerika gehen zwar Impulse in die ganze Welt, Amerika selbst muss aber lernen, dass sie ein Partner der anderen ist, selbst Partner braucht und dass Kompromisse angesagt sind. Obamas Eloquenz und seine Intelligenz werden ihm dabei helfen – so wie die Rednertalente und Weitblick von Lincoln oder Roosevelt diesen Präsidenten aus gewaltigen Krisen herausgeholfen haben.

Die Tatsache, dass über Barack Obama so wenig bekannt ist – vor einem Jahr hat ihn kaum jemand in seinem Land gekannt – müsste sogar in der Situation, in der sich die Welt aktuell befindet, nämlich in einer Sackgasse, ihm eigentlich mehr helfen als ein Hindernis sein: Obama erscheint auf der verbrannten Erde als die Verkörperung des Neuanfangs. Und das sowohl in der Finanz- und Wirtschaftspolitik, als auch in der Außenpolitik.

Sicher ist, dass Obama nicht alle Versprechungen, die er gegeben hat, wird halten können. Er hat auch während des Wahlkampfes sorgfältig vermieden, darüber zu reden, woher er gedenkt, das Geld für die Realisierung seiner Versprechen zu nehmen. Ich wage zu sagen, dies ist im Moment nicht wesentlich. Wichtig ist die Hoffnung, die er den Menschen – in der ganzen Welt – gibt. Das wird der psychologische Effekt in Washington sein. Die „Politik der Hoffnung“ ist seine ganze Kraft, denn sie ist in der Lage, die Menschen zum Handeln zu ermutigen und zu mobilisieren. Diese elektrisierende Kraft, die von ihm ausgeht, ist sein größtes Kapital. Es sind jedoch die Menschen, Amerikas Bürger, die die Wende schaffen und sie erleiden müssen, nicht der Präsident.

Ähnliche Wirkung wird diese „Washingtoner Revolution“ auch auf Europa haben: Obama wird zwar auf den kompromittierten Unilateralismus verzichten, wird aber zugleich viel größere Mitverantwortung für die Geschicke der Welt von ganz Europa und anderen Zentren erwarten. Damit wird Amerika wieder zur Inspirationsquelle für die Menschen in der Welt werden. Der symbolische Wert seines Sieges in dieser Präsidentschaftswahl liegt in der revolutionären Kraft, die vergleichbar ist mit dem Fall des Kommunismus in Osteuropa. Amerika, im Gegensatz zum Beispiel zu China oder Russland, ist in der Lage der Welt eine universalistische Idee zu geben. Das ist ihre historische, schicksalhafte Aufgabe und ihre Stärke. Konkret bedeutet es heute: Seit ein dunkelhäutiger Politiker auf das höchste Amt in Amerika und somit in der ganzen Welt gewählt worden ist, heißt es für die anderen Völker, die noch nicht gelernt haben auf die Kraft der Demokratie zu vertrauen, dass auch sie verantwortlich dafür sind, was in ihren Hauptstädten geschieht. Sie sind dafür verantwortlich und sie können es.

*Aus „Sprichwörtliches“„Entzwei und gebiete! Tüchtig Wort. – Verein und leite! Besserer Hort.“

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• Wátina – Andy Palacio

Das Engagement des Musikers Andy Palacio, der 47jährig im Januar 2008 verstarb, galt der Erhaltung der Sprache und Kultur der Garifuna. Der Ursprung der Ethnie der Garifuna geht auf die Verschmelzung der Westafrikaner, die als Sklaven nach Amerika gebracht werden sollten …

In einer Musiksendung im Januar bin ich Andy Palacio zum ersten Mal begegnet: Zwei Stunden über ihn, seine Musik, sein Volk. Seine Person, seine Individualität, sein Wirken, die sich auf beste Weise in die Herausforderungen der Globalisierung einfügen, haben mich seit der besagten Radiosendung nicht mehr los gelassen. Ich habe einiges über Andy Palacio gelesen und versuche es hier zusammenzufassen:

Andy Palacio

… mit den Kariben, welche selbst mit den von ihnen einst unterworfenen Igñeri-Arawak verschmolzen waren.  Es spielte sich in der Zeit um 1635 auf der Karibikinsel St. Vincent ab: Zwei Sklavenschiffe erleiden Schiffbruch, die Afrikaner fliehen, werden von Inselkariben aufgenommen und vermischen sich mit ihnen.

Die besondere Geschichte der Vorfahren der Garifuna (auf St. Vincent) ist von der damaligen französisch-englischen Konkurrenz im karibischen Raum geprägt. Dem Volk ist es immer wieder gelungen, seine Unabhängigkeit zu bewahren. Mit den französischen Siedlern lebten sie friedlich zusammen. Jedoch nach der Unterwerfung der Insel 1795 durch die Briten und durch die Ausbreitung der Sklavenwirtschaft werden sie von den Kolonialherren und neuen Kolonisten mit Argwohn beäugt – sie leben doch als freie Schwarze!  Auseinandersetzungen zwischen Briten auf der einen Seite und Garifuna sowie Franzosen endeten 1796 mit der Niederlage der Garifuna und Franzosen. Die besiegten Garifuna wurden zunächst auf die Insel Baliceaux deportiert, später verbreiteten sie sich auf den Bay Islands aus. Um 1832 wanderten viele von ihnen nach Belize aus. Ihre Sprache, das Igñeri, gehört zu der indigenen amerikanischen Arawak-Sprachfamilie und zeigt karibische, französische, englische und auch spanische Einflüsse. Karibischer Herkunft sind auch bestimmte Tanzformen, manche Sagen sowie einzelne rituelle Praktiken, die man heute noch in ähnlicher Form bei bestimmten Amazonasstämmen findet. Die religiöse Überlieferung der Garifuna ist jedoch überwiegend westafrikanisch. Andy Palacio wuchs also in einer Tradition auf, die ihre Wurzeln sowohl in der westafrikanischen als auch der karibischen Kultur hat.

Sprache, Tanz und Musik der Garifuna wurde von der UNESCO 2001 unter die Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit aufgenommen. Bei der Mitarbeit an einem Bildungsprojekt in Nicaragua fiel Andy Palacio auf, dass dort die einzigartige Sprache und Kultur karibischer und arawakischer Indianer verloren ging. „Die kulturelle Erosion dort hat meine Einstellung tief geprägt“, sagte er in einem Interview 2006. „Ich musste auf diese Realität reagieren.“ Es sei eine bewusste Strategie, auf Musik zu setzten: „Ich spürte, dass Musik ein exzellentes Medium ist, die Kultur zu erhalten.

Aus seiner Arbeit ging eine neue Musikrichtung in der Sprache Garifuna, Punta Rock (belizische Version afro-karibischer Tanzmusik), der traditionelle Garifuna-Klänge mit Jazz und Rock and Roll verbindet, hervor. 2007 ist sein Album «Wátina» veröffentlicht worden. „Palacio war auch im Dienste der Regierung des kleinen mittelamerikanischen Landes unterwegs als Kulturbewahrer. Der Traum von der Neudefinition der musikalischen Roots seines Volkes liess den begnadeten Sänger jedoch nie los. Und so initiierte er gemeinsam mit dem Plattenproduzenten Iván Duran, der das einzige Plattenlabel des Landes betreibt, die Sessions zu «Wátina». In einer Hütte am Meer wurden Stücke geschrieben, ausgewählt und arrangiert“, schrieb im Mai 2007 die „Neue Zürcher Zeitung“. Mit dem Album Wátina war Andy Palacio international berühmt geworden und hielt sich mehrere Monate in den Top 5 der European World Music Charts Europe.

Für seine Wirkung wurde er zum UNESCO-Friedensbotschafter ernannt.

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