• Janusz Korczak

Oder die andere Reformpädagogik

In der Zeit vor dem 2. Weltkrieg ist die Reformpädagogik von Dr. Janusz Korczak so neuartig, dass sein Warschauer Waisenhaus „Nasz Dom“ für viele Pädagogen aus den europäischen Ländern zu einem Pilgerort wird. Korczak versucht hier seine Vorstellungen, seine Ideen, ja, seine Utopie von einer friedfertigen, klassenlosen Gesellschaft, von einer demokratischen Kinderrepublik, umzusetzen. Um sich dieser Arbeit, die er als seine Lebensaufgabe versteht, zu widmen, beschließt er, auf Ehe und eigene Familie zu verzichten. Er widmet sich restlos den Kindern, sie sind seine Berufung.

Er führt in dem Waisenhaus eine Selbstverwaltung, einschließlich des Kinderparlaments und des Kindergerichts ein. Die Kinder imitieren darin nicht nur die Erwachsenenwelt, sie üben für das Leben. Vor dem Kindergericht tragen sie nicht nur ihre eigenen kindlichen Probleme; sie haben das Recht, vor dieses Gericht ihre Erzieher zu stellen. Eine gute Schule für Selbstbewusstsein, für Selbstbestimmung und Emanzipation, aber auch der Wertschätzung der Grundprinzipien des Zusammenlebens in der Gemeinschaft!

Eine wesentliche, selbstgestellte Aufgabe Korczaks ist die therapeutische Arbeit mit dem schwierigen Kind,  Resozialisation und Fürsorge für die Kinder aus den Randgruppen der Gesellschaft. „Seine Seele“, schreibt Brzozowski, „entwickelte eine sublimierte Hellsichtigkeit für den Schmerz“ eines Kindes. Die weiteren pädagogischen Bemühungen gelten der Selbsterziehung der Kinder: Den Wunsch nach dieser im Kinde kontinuierlich zu wecken stellt die Technik der Willensbildung dar. „Dies im Geiste jener Mahnung Shakespeares: ‚Einmal nur beherrsche dich! Das gibt Dir Kraft für einen nächsten Sieg!‘“*

Eine absolute Neuerung ist die von Korczak auf dem polnischen Zeitungsmarkt eingeführte, von Kindern selbst redigierte Zeitschrift. Diese hat eine dreifache Aufgabe: Sie dient den Kindern als Forum, gilt als Talentschmiede und – nicht zu vergessen – als Unterstützung der Integration und der Assimilation, besonders für Kinder aus den jüdisch-ortodoxen Familien.

Korczak ermutigt die Kinder, ihre eigenen Meinungen zu haben und diese auch zu äußern. Dies begünstig, sagt er, den Prozess der Sozialisation, die wiederum ein weiteres nötiges Element der Vorbereitung auf das Erwachsenenleben ist. Das Leben in dem Waisenhaus ist sorglos aber einfach. Und die Kinder werden indie  mannigfaltigen Aufgaben eingebunden. Sie sind für die Sauberkeit und Ordnung im Haus verantwortlich, sie helfen in der Küche und in den Gemeinschaftsräumen, betreuen die Hausaufgaben der Schwächeren und sorgen für die Kranken, arbeiteten in der Wäscherei, der Buchbinderei und in der Tischlerwerkstatt. „Ein Programm verständnisheischender Nachsicht allein genügt nicht“*, so Korczak. Die vielen Aufgaben, die die Kinder zu erfüllen haben, stützen sich auf menschliche Vernunft und niemals auf Willkür der Stärkeren. Mit einem Wort, Korczak nimmt die Kinder ernst. Darüber hinaus erachtet er das Sammeln von Erfahrungen als unerlässlich für die Entwicklung zum Erwachsenen: Jedes heranreifende Kind zieht aus dem Erlebten seine eigenen Schlüsse für das eigene zukünftige Verhalten. Wesentlich für Korczak: Belehrungen meidet er stets, da diese an sich immer prinzipiell sind. Für ihn gilt, nicht das Kind im Allgemeinen, sondern immer nur das Kind als Individuum. „Nicht das Kind, wie es sein soll, sondern das Kind wie es sein kann.“* Hier trifft seine Forderung nach Anerkennung des Rechtes eines Kindes auf den heutigen Tage mit der Zielorientierung auf das erwachsene Leben.

Seine Postulate fasst Korczak in die so genannte „Magna Charta Libertatis“. In diesem Grundgesetz für das Kind fordert er drei Grundrechte:

  • Das Recht des Kindes auf seinen Tod,
  • Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag,
  • Das recht des Kindes, so zu sein, wie es ist.

Heute sind diese Grundrechte, allen voran das Erste nicht ohne Weiteres zu verstehen.

Die Forderung nach dem Recht des Kindes auf seinen Tod flößt uns heute einen Schrecken ein. Wir können uns das Sterben eines Kindes heute ja gar nicht so richtig vorstellen, wir wollen nicht daran denken und es nicht akzeptieren. Dieses geforderte Recht auf den eigenen Tod, heute so unverständlich, berührt jedoch eine tiefe Wahrheit über die Entwicklung des Kindes. Nämlich, dass das Erwachsenwerden nicht ohne das immer wieder stattfindende Herantreten an die Schwelle des Todes möglich ist! Korczak ist klar, dass diese Vorgänge für den Menschen, damit er überhaupt die Reife erreichen kann, notwendig sind. Das gilt für alle Zeiten. Auch in der heutigen Zeit findet das jugendliche Zusteuern an die Todesschwelle selbstverständlich statt, hat jedoch ganz andere Formen: Risikosport, gefährliche Auto- und Motorradfahrten aber auch Alkohol- und Drogenexzesse – und nicht zu vergessen – die frühe Sexualisierung.

Erstaunlich jedoch, wie nah diese erste der drei Forderungen der Lebensrealität der Korczak anempfohlenen Kinder liegt! Ist sein Postulat zum Teil die Antizipation des Schicksals der Kinder?

Diese kleinen Bewohner des Waisenhaus, das ab 1940 in das Warschauer Ghetto umgezogen ist, begegnen dem Tod täglich: Auf den Straßen des Ghettos sehen sie täglich Leichen, sie sehen Sterbende, sie sehen das Wegschaffen der Leichen aus den Wohnungen und von den Straßen – und sie spielen weiter, sie bleiben Kinder. Von ihrer eigenen kurzen Lebensperspektive wissen sie natürlich nichts, können nichts wissen. Ob sie es ahnen? Ich glaube es nicht. Das liegt nicht in der Natur des Kindes. Korczak hingegen macht sich keine Illusionen. Ihm wird bewusst, dass seine wichtigste pädagogische Aufgabe in dieser Zeit sein wird, den Kindern das Bild des Sterbens als eine logische Folge, aber auch als eine gute Lösung nach einem unaussprechlich schweren Leben zu zeigen, sie mit dem Tod vertraut zu machen. Dieser Aufgabe dient nicht nur die Lebensrealität, das tut viel besser die Kunst. Fräulein Esther, eine Mitarbeiterin des Hauses, übt kurz vor ihrem eigenen Tod ein Theaterstück, in dem der Held stirbt, mit den Kindern ein. „Wie schwer ist das Leben und wie leicht der Tod!“***

Natürlich tut Korczak alles, um für seine kleinen Schützlinge die besten Lebensbedingungen zu schaffen. Natürlich kümmert  er sich persönlich um die Beschaffung der Grundlebensmittel, natürlich, dass seine Arbeit, die Selbstverwaltung des Hauses und die Erziehung und Selbsterziehung der Kinder, als ob nichts wäre, fortlaufen. Es gab aber dies eine Element dabei, was uns heute so sehr erschrickt: Das Gewöhnen an den allgegenwärtigen Tod.

Bis der Tod sie selbst ereilte.

„Der Geist leidet am engen Käfig des Körpers. Die Menschen empfinden und betrachten den Tod als das Ende, aber er ist nur eine Fortsetzung des Lebens, ein anderes Leben“, so Korczak.

Am 22. Juli 1942 begannen die Nazis mit der Massentötung der Bevölkerung des Warschauer Ghettos. Den Menschen wurde angekündigt, sie werden in den Osten umgesiedelt. In Wirklichkeit sind sie in die Gaskammern nach Treblinka abtransportiert. Am Mittwoch, dem 5. August 1942, waren die Waisenhäuser aus dem ganzen Ghetto an der Reihe. Insgesamt 4000 Kinder, 200 Kinder aus dem „Nasz Dom“.

Die Kinder haben eine Viertelstunde, um fertig für den Abmarsch zu sein. Es formiert sich ein langer Zug. Sie marschieren in ihren blauen Uniformen unter der Flagge von „König Hänschen“****. Korczak geht an der Spitze des Zuges, das jüngste Kind auf dem Arm, das bisschen größere an der Hand. Der Weg zum Umschlagplatz ist lang: Vier Stunden gehen sie, anfangs in Viererreihen, später erschöpft, ohne sichtbare Ordnung, sie gehen unaufhörlich, wie in Trance, sie gehen in den Tod. Sie vertrauen ihrem Pan Doktor, sie fürchten sich nicht. Auf dem Umschlagplatz steigen sie in die Viehwagons.

Ein Stein, dort in Treblinka, wird an Janusz Korczak und seine 200 Kinder erinnern.

Dr. Korczak selbst hat wiederholt die Möglichkeit, sein Leben zu retten, auch noch einmal am vorletzten Tag vor dem Abtransport. Alle derartigen Vorschläge lehnt er jedoch entschieden ab, gar überrascht, dass sie ihm angetragen werden. Er betrachtete eine solche Tat als Verrat an den Kindern und an seiner Aufgabe. Freiwillig und wie selbstverständlich begleitet er die Kinder in den Tod in der Gaskammer des Vernichtungslagers in Treblinka.

***

Das Leben und das Wirken hat Janusz Korczak gänzlich den Kindern und deren Wohl gewidmet, seinen Tod den Kindern und der Liebe zu ihnen geopfert. Dies ist sicher ein extremes Beispiel für den pädagogischen Eros, der in einer „Vereinigung im Tod“ mündet. Es ist einmalig in der Geschichte der Menschheit, trotzdem seit dem freiwilligen Tod des großen Pädagogen ist jede Missdeutung des pädagogischen Eros als greifen nach dem Kinde, um es zum Objekt der eigenen sexuellen Lust zu machen, wie es in der Odenwaldschule über Jahre praktiziert wurde, ein Frevel und stellt einen Verrat an der Liebe zwischen dem Lehrer und den ihm anempfohlenen Kindern dar.

* Janusz Korczak, „Wie man das Kind lieben soll“, Einführung von Igor Abramov-Neverly

** Janusz Korczak, „Tagebuch aus dem Warschauer Ghetto – 1942“

*** „König Hänschen“ – Original: „Król Maciuś I.“, Janusz Korczak

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• Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt…

Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt, denn jeder Mensch ist wie das ganze Universum – diese Überzeugung lebt in jüdischer Tradition, festgehalten ist sie im Talmud.

Irena Sendler, von der ich heute erzähle, wird die ganze Welt retten. Sie hatte etwa 2500 Kinder, vor allem aus dem Warschauer Ghetto vor dem sicheren Tod gerettet. Sie brachte Kinder außer Gefahr und dachte an das Überleben des ganzen Volkes. …

„Die Gerechten aus den Völkern haben einen Platz in der kommenden Welt.“ – Talmud

Irena Sendler

… Sie wusste wie alle anderen, dass unter der Naziherrschaft die Juden zum Tode verurteilt waren; die Kinder hatte man der Vernichtung entreißen wollen, damit das Volk weiter leben kann. Es sollte den Deutschen nicht gelingen, alles Jüdische zu vernichten; die Kinder sollten die Keimzelle des neuen jüdischen Lebens werden.

Sie kam 1910 in Otwock zur Welt. Vor dem Krieg studierte sie Polonistik, ihr politisches Interesse galt der PPS, der Polnischen Sozialistischen Partei. Während der Okkupation arbeitete sie im Sozialdienst der Stadt, wo sie für Arme und Notleidende tätig war. Zusammen mit anderen Eingeweihten hatte sie die Namen der hilfsbedürftigen Juden geändert, so dass sie weiter Unterstützung bekommen konnten, Unterstützung, die den Juden seit dem Anfang der Okkupation nicht mehr gewährt wurde.

Frau Sendler spielte eine wichtige Rolle in einer Hilfsorganisation, die im Jahr 1942 ins Leben gerufen wurde: Żegota. Diese Organisation entstand einige Zeit nach der Wannseekonferenz, als es für alle unmissverständlich klar geworden war, was für ein Schicksal endgültig für die Juden von den Deutschen zugedacht wurde. Damals hatten polnische Intellektuelle, unter anderen die Schriftstellerin Zofia Kossak-Szczucka, als eine selbstverständliche christliche Verpflichtung angesehen, konkrete Hilfe für das zum Tode verurteilte Volk zu gewährleisten. Diese so notwendige Hilfe war im Rahmen des polnischen Untergrundstaates möglich. Eine hochkonspirative Arbeit war damals von einem ganzen Netz aus polnischen und jüdischen Gruppierungen aufgenommen und über lange Zeit geführt worden. Irena Sendler wurde mit der Leitung des Kinderreferats von Zegota betraut: Sie war ein herausragendes Organisationstalent.

Als die Liquidierung des Warschauer Ghettos ihren Anfang nahm, war bei Zegota endgültig die Entscheidung gefallen, Kinder aus dem Ghetto herauszuschleusen. Diesen Auftrag bekam Irena Sendler. Ohne ihr organisatorisches Talent wäre es vielleicht doch nicht möglich, diese überaus schwere und gefährliche Aufgabe zu bewältigen.

Sie hatte als Sozialarbeiterin – sie trat in der Tracht einer Krankenschwester auf – einen freien Zugang hinter die Mauern gehabt. Bei ihrer offiziellen Tätigkeit als Sanitäterin war sie von Familie zu Familie gegangen, mit dem Angebot, die Kinder in Sicherheit zu bringen, also für sie in polnischen Familien, in Klöstern oder in den Waisenhäusern Unterkunft zu finden. Klöster und Waisenhäuser hatten schon seit Anfang des Krieges verwaiste oder von Eltern getrennte Kinder, polnische und jüdische, in Schutz genommen. Dort waren sie verhältnismäßig sicher. Auch wenn es keine Garantie für das Übeleben der Kinder gab, hatten ihr die meisten Eltern ihre Kinder anvertraut. Obwohl es nicht leicht für die Eltern war, ihre Kinder wegzugeben, zumal sie immer noch geglaubt, gehofft hatten, sie werden dem Tode entgehen oder sie waren emotional nicht in der Lage, sich von ihren Kindern zu trennen.

Es war keine einfache Aufgabe, kleine Kinder aus dem Ghetto zu schmuggeln. Man musste die Kleinen betäuben, damit sie sich nicht verraten, man hat sie in Säcken oder Kisten verpackt und in den Ambulanzen oder Transportwagen versteckt und so nach außen gebracht. Bei Kontrollen hatte man den Gestapo-Männern erklärt, diese Kinder seien tot, an Typhus gestorben. Typhus hatte zu damaliger Zeit eine starke, fast magische Abschreckungskraft gehabt, so wurde also nicht weiter insistiert.

Das Zielort für die Kinder war schon organisiert und vorbereitet. Kein Kind konnte seinen jüdischen Namen behalten, neue Daten hatte man erschaffen, die Kinder mussten in kürzester Zeit akzentfrei Polnisch sprechen lernen. Die echten Namen der Kinder waren jedoch peinlich genau festgehalten worden, damit dann, wenn der Vernichtungswahn aufhört, seine Netze auszuwerfen, diese Kinder ihre wahre Identität erfahren können. Die Namen der Kinder hatte Frau Sendler auf Zigarettenpapier chiffriert aufgeschrieben, in Gläser verpackt und im Garten vergraben. Auch wenn das Haus während des Warschauer Aufstandes zerstört wurde, diese besondere Dokumentation ist erhalten geblieben.

Obschon bestens organisiert und getarnt, konnte solche Massenaktion nicht über lange Zeit unbemerkt weitergeführt werden. Es gab auch genug Verräter und Denunzianten. Eines Tages also standen elf Soldaten vor Frau Sendlers Wohnung. In zwei Stunden hatten sie alle Räume auf den Kopf gestellt. Sie wussten genau, was sie suchen: die Namenslisten der Kinder. Diese aber waren bestens versteckt. Irena Sendler war verhaftet worden, verhört, gefoltert, man brach ihr Beine und Füße – alles um die Informationen aus ihr herauszupressen. Ohne Erfolg. Sie kam ins Gefängnis, war bald zum Tode verurteilt worden.

Für den Untergrund war sie eine nicht zu ersetzende Person! Zegota hatte einem SS-Mann Lösegeld bezahlt, er hatte Frau Sendler auf dem Weg zur Vollstreckung des Todesurteils bewusstlos geschlagen und am Wegesrand liegen lassen. Von dort war sie von ihren Verbündeten abgeholt worden. Nach der Genesung war weiteres Leben nur in tiefer Konspiration möglich, da die Gestapo eine Jagd auf sie aufgenommen hatte. Sie musste ihren Namen ändern und nahm von diesem Zeitpunkt an andere Aufgaben bei Zegota auf, die sie bis zur Liquidierung des Warschauer Ghettos und zum Teil bis zum Warschauer Aufstand weiterführte.

Wie das Leben so spielt, zeigte es sich nach dem Krieg, dass es nicht ratsam war, über Rettung von Juden zu sprechen… Marcel Reich-Ranicki bringt das Problem in seiner Autobiographie auf den Punkt: Der Mann, der Reich-Ranicki und seine Frau versteckt hatte, bat sie, es niemandem zu sagen: „Ich kenne das Volk. Niemals würden sie mir verzeihen, dass ich zwei Juden gerettet habe.“

So versteht man besser, warum Irena Sendler jahrzehntelang vergessen worden ist.

Erst im Jahr 1965 war sie von der Gedenkstätte Yad Vashem mit dem Titel „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet worden. Vom polnischen Staat bekam sie aber eine Auszeichnung für ihre Tapferkeit und Mut fast 40 Jahre später, im Jahre 2003…

Sie starb 98jährig im Mai 2008.

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